Behandelter Abschnitt Hld 2,14
„Meine Taube im Geklüft der Felsen, im Versteck der Felswände, lass mich deine Gestalt sehen, lass mich deine Stimme hören; denn deine Stimme ist süß und deine Gestalt anmutig“ (Hld 2,14).
Wir tun gut, uns immer wieder an den Unterschied zwischen der irdischen Berufung Israels und der himmlischen Berufung der Kirche zu erinnern. Unser hochgelobter Herr wird Sich als Jehova am Ende der Tage der Sache Seines irdischen Volks wieder annehmen, und Jerusalem wird in seinem Charakter als die Braut des Königs der Mittelpunkt aller irdischen Herrlichkeit und Segnung werden. Die Kirche dagegen ist die Braut des Lammes, des einst erniedrigten, nun aber droben verherrlichten Christus. Der Ausdruck Braut ist das Symbol der Liebe und der Einheit hinsichtlich der Stellung. Die Braut steht im gleichen Rang mit dem Bräutigam, und zwar die jüdische Braut im Blick auf die irdische Herrlichkeit, die Kirche im Blick auf die himmlische. Da sie Ihn anerkannt und Ihm vertraut hat während der Zeit Seiner Erniedrigung und Verwerfung, wird sie auch die Ihm Nächste und Teuerste sein in Seiner Erhöhung und Herrlichkeit. Der einzelne Gläubige könnte nicht sagen, dass Christus sein Bräutigam sei. Er kann sagen: Er ist mein Erlöser, und: „Er hat mich geliebt und sich selbst für mich hingegeben“ (Gal 2,20). Aber Christus ist der Bräutigam der Kirche.
Verfolgen wir den Unterschied zwischen Israels Platz und Segnung in Verbindung mit dem kommenden Reich und der Stellung der Kirche noch etwas weiter. Der Herr kommt hernieder zu Israel, und segnet es da, wo es sich befindet. „Der Erlöser wird in Zion erscheinen“ (vergl. Lk 1,68-79). Die Kirche dagegen wird aufgenommen in Wolken, um dem Herrn in der Luft zu begegnen (1Thes 4). Der jüdische Überrest wird gesegnet werden mit allen zeitlichen Segnungen in einem herrlichen Lande (Am 9,11–15); wir sind gesegnet mit aller geistlichen Segnung in den himmlischen Örtern (Eph 1). Jerusalem auf der Erde wird den Mittelpunkt der irdischen Herrlichkeit und Segnung bilden, und durch sie werden alle Nationen der Erde gesegnet werden. „Denn von Zion wird ausgehen das Gesetz, und das Wort des Herrn von Jerusalem“ (Jes 2,3). Das Jerusalem droben aber ist der Mittelpunkt der himmlischen Herrlichkeit; denn „die Herrlichkeit Gottes hat sie erleuchtet, und ihre Lampe ist das Lamm“ (Off 21,23b). Die himmlischen Heiligen werden ihre verherrlichten Leiber tragen, die gleichgestaltet sein werden mit dem verherrlichten Leib Christi (Phil 3,21). Das ganze Haus Israel wird gesegnet sein mit den lange verheißenen Segnungen eines neuen Herzens und eines aufrichtigen Geistes (Hes 36,24-28).
Seitdem Israel seiner Untreue wegen von Gott als Volk beiseite gesetzt ist, steht es mit allen Sündern auf dem gleichen Boden. In der Predigt des Evangeliums werden Juden wie Heiden angeredet als verlorene Sünder; und alle, die durch die Gnade Gottes gesammelt werden, werden zu „einem Leib“ gebildet. Alle genießen in Christus die gleichen Vorrechte. „der aus beiden eines gemacht und abgebrochen hat die Zwischenwand der Umzäunung, . . . damit er die zwei, frieden stiftend, in sich selbst zu einem neuen Menschen schüfe. . . Denn durch ihn haben wir beide den Zugang durch einen Geist zu dem Vater“ (Eph 2).
Die Hoffnung der Kirche – des“ einen Leibes“, in dem der eine Geist wohnt, - ist die Wiederkunft des Herrn Jesus vom Himmel, um uns zu sich zu nehmen. „Ich gehe hin, euch eine Stätte zu bereiten. Und wenn ich hingehe und euch eine Stätte bereite, so komme ich wieder und werde euch zu mir nehmen, damit, wo ich bin, auch ihr seiet“ (Joh 14,2.3). Wenn diese Verheißung in Erfüllung gegangen sein wird, wird Israel wieder auf den Schauplatz treten, und der Geist Gottes wird in dem Überrest Judas zu wirken beginnen.
Nach der Aufnahme der Kirche und während der Regierung des Antichristen wird dieser Überrest Gegenstand der besonderen Liebe und Sorge des Herrn sein. Indem Er von Israel redet im Bilde einer Frau, sagt Er: „Ich werde sie locken und sie in die Wüste führen, und zu ihrem Herzen reden; und ich werde ihr von dort aus ihre Weinberge geben, und das Tal Achor zu einer Tür der Hoffnung. Und sie wird dort singen wie in den Tagen ihrer Jugend und wie an dem Tag, als sie aus dem Land Ägypten heraufzog. Und es wird geschehen an jenem Tag, spricht der Herr, da wirst du mich nennen: Mein Mann; und du wirst mich nicht mehr nennen: Mein Baal. . . Und ich will dich mir verloben in Ewigkeit . . . und du wirst den Herrn erkennen“ (Hos 2,16-22).
Wie haben wir nun die vorliegende Schriftstelle zu verstehen: „Meine Taube im Geklüft der Felsen, im Versteck der Felswände, lass mich deine Gestalt sehen, lass mich deine Stimme hören; denn deine Stimme ist süß und deine Gestalt anmutig“? – Vom 10. bis 15. Vers (Hld 2,10-15) finden wir eine ununterbrochene Ansprache voll zärtlicher Liebe, lieblicher Ermunterung und freudiger Hoffnung. Aus vielen Stellen der Schrift geht klar hervor, dass der volle Strom der tausendjährigen Segnungen nicht auf einmal über das Land Israel und die Nationen hereinbrechen wird; er kommt vielmehr allmählich, gleich dem Schwinden des Winters und dem langsamen Herannahen des Frühlings. Daher die Notwendigkeit des Glaubens auf Seiten der Braut. Doch der Herr erfreut ihr Herz mit der Versicherung, dass der Tag ihrer Erlösung nahe sei. Er will, dass sie wisse, dass Sein Auge auf sie gerichtet ist, und dass sie geduldig ausharre. Andererseits lernen wir aus vielen Schriftstellen, dass sie gerade während dieser Zeit der besondere Zielpunkt des Hasses und der Verfolgung des Antichristen sein wird. Er wird alles aufbieten, um den gläubigen Überrest zu vertilgen (Off 12,6.17).
Aber durch den Geist Gottes geleitet, findet der Überrest eine Zufluchtsstätte in der Wüste; und der Geliebte kennt den Bergungsort Seiner Braut. Für Sein Auge und Sein Herz ist sie gleich der Taube im Geklüft der Felsen, im Versteck der Felswände. Ihre Stimme klingt Ihm angenehm, wenn sie auch dem trauernden Klagen der einsamen Taube gleicht. Ihre Gestalt ist anmutig; sie ist schön in Seinen Augen, wie sehr sie auch durch Leiden und Verfolgungen entstellt sein mag. Er sucht sie zu sehen, sie zu hören. O welch eine tiefe, zärtliche Liebe! Gab es je eine Liebe gleich der Seinigen? Wahrlich, von Ihm darf gesagt werden, aber auch nur von Ihm: „Die Liebe ist gewaltsam wie der Tod, hart wie der Scheol ihr Eifer“ (Kap. 8,6). Erfasst der Tod nicht sein Opfer mit eisernem Griff? Ja, er ist gewaltsam; was er einmal erfasst hat, lässt er nicht wieder los. Und so ist die Liebe, die Liebe unseres Herrn und Heilandes. Sinne über diese Liebe, mein Leser!
Es ist die Liebe Christi zu Seiner Braut, zu dir! Denke an den harten, gewaltsamen Griff des Todes, und wie er seine Beute festhält! und dann denke an das allmächtige Ergreifen, an die ewige Festigkeit der Liebe des Erlösers! Der Vergleich ist erschreckend, überwältigend; aber die Wirklichkeit ist über die Maßen tröstend, ermunternd und stärkend.
Und jetzt richte deine Gedanken auf die andere Seite der Liebe des Heilands: „Hart wie der Scheol ist ihr Eifer.“ Was bedeutet das? Es scheinen harte Worte zu sein, um die zärtliche Liebe des Erlösers auszudrücken. Aber nur starke Gleichnisse können eine Vorstellung von der Kraft Seiner Liebe geben. Ist es der Tod, der eine Person mit gewaltsamem Griff erfasst, so ist es der Scheol, der sie zurückhält. Er gibt nichts wieder zurück. Er ist grausam; der bittere Schrei des Beraubten, das tiefe Weh der Witwe, das ergreifende Seufzen der Waise – nichts rührt ihn. Er hält sein Opfer unerbittlich fest; er gibt nichts wieder heraus. – Könnte es stärkere Bilder geben als diese?
Lerne denn, mein Leser, aus diesen starken Gleichnissen den Charakter der Liebe des Erlösers kennen. In der Felsenkluft versteckt, in Seiner verwundeten Seite geborgen, ruht Seine furchtsame, verscheuchte Taube an diesem geheimnisvollen Herzen der Liebe. Kein Raubvogel kann sie dort erreichen oder ihr schaden. Kein feindlicher Geier könnte ihr je eine Feder ausrupfen. Die Felsenkluft, in der sie geborgen ist, ist unerreichbar für alle ihre Feinde. Könnte sie aber trotz allem nicht in einem unbewachten Augenblick in die Hände derer fallen, die sie zu vernichten trachten? Ja, wenn ihre Sicherheit im geringsten Grade davon abhinge, dass sie sich festhielte, so würde allerdings alles für sie verloren sein. Aber, Gott sei gepriesen! alles hängt von der Kraft und Beständigkeit Jesu und Seiner Liebe ab.
Die göttliche Liebe hält ihren Gegenstand fest mit einer Kraft, die stärker ist als der Tod, und doch zugleich so süß und zärtlich, dass sie keinen Vergleich zulässt; sie bewahrt ihn sicherer als selbst der Scheol. Wird der hochgelobte Herr jemals „die Seele seiner Turteltaube dem Raubtier hingeben“? (Ps 74,19). Nein, nie und nimmer. Hören wir nur, was Er Selbst sagt: „Meine Schafe hören meine Stimme, und ich kenne sie, und sie folgen mir; und ich gebe ihnen ewiges Leben, und sie gehen nicht verloren in Ewigkeit, und niemand wird sie aus meiner Hand rauben. Mein Vater, der sie mir gegeben hat, ist größer als alles, und niemand kann sie aus der Hand meines Vaters rauben“ (Joh 10,27-29).
O Liebe ohne Gleichen!
Kein Sinn kann je erreichen die Fülle, die du gibst.
Selbst Engel werden stehen und voll Anbetung sehen,
Wie Du, o Herr, die Deinen liebst!