Behandelter Abschnitt Hld 2,8-13
„Horch! mein Geliebter! siehe, da kommt er, springt über die Berge, hüpft über die Hügel“ (Hld 2,8).
Wenn die Seele eine längere Zeit in ununterbrochener Gemeinschaft mit dem Herrn gewesen ist, werden die Zuneigungen lebendiger und das Verlangen nach Seiner Rückkehr ernster und wirklicher. Hast du, mein Leser, den Geist der liebenden und geliebten Sulamith erfasst, wie er sich in den herrlichen Worten kundgibt: „Horch! mein Geliebter! (oder: Stimme meines Geliebten!) siehe, er kommt!“? Ist Er wirklich Der, den du am meisten liebst? Ist keine Stimme dir so wohlklingend wie die Seinige? Harrst du auf Ihn, und ist dein tägliches Verlangen nach Ihm?
Es besteht ein großer Unterschied zwischen einer Person, die an die sogenannte „Lehre von der zweiten Ankunft des Herrn“ glaubt, und einer liebenden Seele, die sich Seiner Gemeinschaft erfreut und sehnsüchtig auf das Kommen ihres geliebten Herrn wartet. Der bloße Glaube an die Lehre übt nur wenig Einfluss auf das Herz aus im Vergleich mit dem Besitz der Person Christi Selbst als des alles beeinflussenden und beherrschenden Gegenstandes für das Herz. Es ist etwas ganz anderes, nur zu wissen, dass der Herr wiederkommt, oder, wie die Thessalonicher, den Sohn Gottes aus den Himmeln zu erwarten, gleich einer Braut, die mit Sehnsucht der Ankunft ihres Bräutigams entgegenschaut.
„Der Geist und die Braut sagen: Komm!“ Es ist das Herz der Braut, das ruft: Komm! getrieben durch den Geist, der in dem Herzen wohnt. Der Geist gibt uns das selige Bewusstsein von dem Verhältnis zu Christus, in das wir eingeführt sind, und von den Zuneigungen, die diesem Verhältnis angehören.
Wir unterscheiden schnell den Klang einer Stimme, die wir lieben. „Maria!“ rief der Herr am Grabe Seiner trauernden Jüngerin zu; und die wohlbekannte Stimme durchdrang ihre ganze Seele. Und selbst wenn die redende Person so weit entfernt ist, dass man die Worte nicht genau verstehen kann, ist doch der Klang der Stimme hinreichend, die Saite zu berühren, deren Ertönen das ganze Herz durchzittert und seine schlummernden Kräfte weckt. „Horch! mein Geliebter!“ sagt die Braut. Sie vernimmt Seine Stimme in der Ferne, und ihre ganze Seele ist mit sehnlicher Erwartung erfüllt. Und sie braucht nicht lange zu warten. Sie darf sogleich hinzufügen: „Siehe, da kommt er!“ – Ja, Er kommt, „der Herr ist nahe!“ Erwartest du Ihn heute, geliebter Leser? – „Siehe, da kommt er, springt über die Berge, hüpft über die Hügel. Mein Geliebter gleicht einer Gazelle oder einem Jungen der Hirsche“ (Hld 2,9). Seine Füße sind schnell wie die Füße der Hirsche.
Statt dass die Nähe des Herrn dem Herzen volle Befriedigung gibt, steigert sie im Geiste nur das Verlangen nach den höheren Freuden, die Seine persönliche Gegenwart verleiht. Was könnte näher, inniger und vertrauter sein als die Gemeinschaft, deren sich die Braut durch Glauben von Beginn unserer Betrachtung an erfreut hat? Ihre Freude ist nicht unterbrochen, wohl aber hat die Erkenntnis Seiner Liebe und der Genuss Seiner Gunst beständig zugenommen.
Manche sind der Meinung, dass sich in der vorliegenden Stelle Zeichen eines Rückgangs bemerkbar machten, dass die Zeit der Ruhe verhängnisvoll für die Braut gewesen sei, und dass die überströmende Fülle ihrer Vorrechte sie zu einer gewissen Sorglosigkeit verleitet habe. Aber obwohl so etwas gewiss vorkommen mag, und einer großen geistlichen Freude zuzeiten eine Art von Erschlaffung und selbst ein Zurückgehen und Abirren aus der Gemeinschaft des Herrn folgen kann, scheint dies doch gerade hier nicht der Fall zu sein. Denn wann verlangen wir am meisten nach der Ankunft des Herrn? Wenn wir in Gemeinschaft oder außer Gemeinschaft mit Ihm sind? Diese Frage ist nicht schwer zu beantworten. Unmöglich kann ein wahres Verlangen nach Seiner Wiederkunft im Herzen sein, wenn wir nicht in glücklicher Gemeinschaft mit Ihm stehen. Allerdings sind wir immer sicher in Ihm, aber wir sind nicht immer glücklich mit Ihm. Wenn wir einen Schritt zu weit gegangen sind mit der Welt, oder wenn wir versäumt haben, uns selbst zu richten, so verlieren wir unsere Freude an Ihm, und zu solchen Zeiten tragen wir kein Verlangen nach Seiner Ankunft.
„Petrus spricht zu ihm: Niemals sollst du mir die Füße waschen! Jesus antwortet ihm: Wenn ich dich nicht wasche, hast du kein Teil mit mir“ (Joh 13,8). Beachten wir wohl, dass der Herr nicht sagt: du hast kein Teil an mir. Das hätte Er nicht sagen können; nein, Er belehrt Petrus und uns, dass, wenn das Selbstgericht vernachlässigt wird, wenn die täglichen Verunreinigungen nicht weggewaschen werden „durch die Waschung mit Wasser durch das Wort“, die Gemeinschaft mit Ihm eine Unterbrechung erleiden muss.
Der Herr kann nicht mit ungerichtetem Bösem vorangehen. „Du hast kein Teil mit mir“, sind Worte voll von tiefem Ernst. Möchtest du nicht lieber alles aufgeben, meine Seele, als die Gemeinschaft mit deinem Herrn auch nur für einen Tag, für eine Stunde entbehren? Wo wolltest du Kraft finden für Wandel, Anbetung und Dienst, wenn du sie nicht von Ihm empfingest? Welche Schwäche, welche Finsternis würde deinen Pfad kennzeichnen fern von Ihm. Scham mag dein Antlitz bedecken und Schmerz deine Seele erfüllen, wenn du deine beschmutzten Füße in Seine Hände legst, denn wahrlich, Er weiß und sieht, wo du gewesen bist. Aber bedenke das eine: sie können nicht gewaschen werden, es sei denn dass Er es tut. „Wenn ich dich nicht wasche, so hast du kein Teil mit mir.“ Wenn du mit Jesu wandeln und glücklich bei Ihm sein willst, so musst du abgesondert wandeln, in wahrer Absonderung von allem Bösen – von allem, was Seiner Heiligkeit entgegen ist und sich mit Seiner Natur nicht verträgt. – O Herr, leite uns in Deinen Wegen in diesen bösen Tagen, damit wir immer mit ernstlichem Gebet und liebendem Verlangen auf Deine Wiederkunft harren.
„Mein Herr verzieht zu kommen“, ist die Sprache eines Herzens, das in dieser Welt Befriedigung sucht. „Komm, Herr Jesu, komme bald!“ ist die Sprache eines Herzens, das mit der Liebe Christi erfüllt ist und ernstlich danach verlangt, Ihm persönlich nahe zu sein. In dem Maße wie wir uns Christus geistlicherweise erfreuen, werden wir auch verlangen, Ihn von Angesicht zu Angesicht zu sehen. Dies ist immer ein sicherer Prüfstein für den Zustand der Seele. Wenn das Haus in Unordnung ist, verlangt die Frau nicht nach der Rückkehr ihres Mannes; sie ist vielmehr beschäftigt, die Ordnung wiederherzustellen. Wenn sich aber alles an seinem Platz befindet und so ist, wie er es gern hat, dann beginnt sie an seine Rückkehr zu denken und verlangt danach, seine Stimme zu hören und sein Angesicht zu sehen.
Manche Christen sagen in ihrem Herzen: „Ist es nicht genug für mich zu wissen, dass ich dem Herrn angehöre? Warum sollte ich Tag für Tag nach Seiner Wiederkunft vom Himmel ausschauen? Ich weiß, dass meine Sünden vergeben sind, und dass ich errettet bin; überdies kann ich auch den unsichtbaren Heiland lieben und Ihm vertrauen.“ – Schon recht, mein lieber Mitpilger; aber ich möchte dich doch fragen: Redet so ein Herz, das den Herrn Jesus aufrichtig liebt, oder ist es die Sprache eines Herzens, das hinsichtlich Seiner gesegneten Person kalt und gleichgültig geworden ist? Kannst du an alle Seine Liebe und Huld, an alle Seine Leiden, an Seinen Tod für dich, an Seine Erhöhung und Verherrlichung denken, ohne danach zu verlangen, Ihn zu sehen? Sehnst du dich nicht nach einem Blick in jenes Antlitz, das dein Herz für immer hinnehmen und deinen Mund mit den erhabensten Lobliedern füllen wird? Was würde der abwesende Ehemann denken, was würde er fühlen, wenn er vernähme, dass seine Frau sagte: „Ich weiß, dass ich sein bin. Das befriedigt mich völlig. Zudem höre ich täglich von ihm und weiß, dass er mich innig liebt. Warum also sollte ich so sehnlichst nach seiner Rückkehr verlangen? warum ihm immer wieder schreiben: Kehre doch bald heim; ich verlange danach, Dich zu sehen“?
Wie würdest du, mein lieber Leser, einen solchen Zustand der Dinge deuten? Würdest du das Liebe zu dem abwesenden Gatten nennen? Und wenn du selbst dieser Ehemann wärest, würde es dein Herz befriedigen; namentlich wenn du deine Frau mit „großer Liebe“ liebtest? Nein, Liebe kann nur durch Gegenliebe befriedigt werden. „Wir lieben ihn, weil er uns zuerst geliebt hat.“ Die Liebe des Gläubigen ist der Widerschein der Liebe Christi. Je häufiger eine liebende Frau von ihrem abwesenden Mann hört, soviel mehr wird ihr Verlangen nach seiner Rückkehr lebendig werden. Der häusliche Kreis mag noch so angenehm und behaglich für sie sein, aber um ihr Herz völlig glücklich zu machen, bedarf es der Gegenwart des Einen, der in der Ferne weilt. Solange er nicht da ist, kann nichts auf Erden die Lücke ausfüllen. Ach, wie wenig fühlen wir die Lücke, die nur die Person Christi ausfüllen kann.
Es ist der Herr SeIbst, als Messias und König, nach dem die liebende Braut hier so sehnlich verlangt.
„Horch! mein Geliebter! siehe, er kommt!“ Er hat Sich Selbst ihrem Herzen offenbart, und sie dringt nun durch den Glauben ein in Seine Liebe und Freude als Bräutigam und König in Zion. Sie kennt und schätzt diese Liebe und verlangt Ihn als ihren Messias zu besitzen. Herrlicher Wechsel! Die Stätte, an der Er einst verachtet und verworfen wurde durch die Tochter Zion, wird binnen kurzem der Schauplatz Seiner Bräutigamsliebe und Seiner tausendjährigen Herrlichkeit werden. Das heiße, inbrünstige Verlangen des gottesfürchtigen Überrestes der letzten Tage nach der Erscheinung des Messias, als ihres Königs und Erlösers, findet in den Psalmen und Propheten wiederholt beredten Ausdruck. So lesen wir z. B. in Jes 63,19b; 64,1: „O dass du die Himmel zerrissest, hernieder führst, dass vor deinem Angesicht die Berge erbebten, wie Feuer Reisig entzündet, Feuer die Wasser wallen macht, um deinen Widersachern deinen Namen kundzutun: damit die Nationen vor deinem Angesicht erzittern!“
Im Hohenlied begegnen wir dem gleichen starken Verlangen, nur unter einem anderen Charakter. Der Überrest tritt im Bilde einer Braut vor uns, die nicht so sehr die eigene Befreiung und die Vernichtung der Feinde, oder selbst die Aufrichtung des Reiches Christi in Herrlichkeit und Macht herbeisehnt, als vielmehr nach der Person ihres kommenden Messias Verlangen trägt. Es ist „ihr Geliebter“, und Er kommt bald. „Mein Geliebter gleicht einer Gazelle oder einem Jungen der Hirsche. Siehe, da steht er hinter unserer Mauer, schaut durch die Fenster, blickt durch die Gitter“ (Hld 2,9). Es ist die Person des Herrn, um die es sich handelt.
Der Überrest in Jerusalem ahnt hier die nahende Ankunft seines Königs, seine eigene völlige Erlösung und die Erscheinung der tausendjährigen Herrlichkeit; und der Herr erfreut ihn durch noch größere Offenbarungen Seiner Selbst, durch die wiederholte Versicherung Seiner Liebe und der Freude Seines Herzens an ihm. Nichts könnte schöner und rührender sein, als die Worte des Herrn in den nächsten Versen. Er spricht zu der Braut, und sie findet ihre Freude daran, Seine Worte zu wiederholen: „Mein Geliebter hob an und sprach zu mir: Mach dich auf, meine Freundin, meine Schöne, und komm! Denn siehe, der Winter ist vorbei, der Regen ist vorüber, er ist vergangen. Die Blumen erscheinen im Land, die Zeit des Gesangs ist gekommen, und die Stimme der Turteltaube lässt sich hören in unserem Lande. Der Feigenbaum rötet seine Feigen, und die Weinstöcke sind in der Blüte, geben Duft. Mach dich auf, meine Freundin, meine Schöne, und komm!“ (Hld 2,10-13).
Kurz zuvor konnte sie nur den Klang Seiner Stimme unterscheiden und durch die Gitter einen flüchtigen Blick Seiner Augen erhaschen. Aber jetzt, o glückliche Braut! ist Er nahe genug, dass du die Worte Seines Mundes vernehmen kannst. Und gepriesen sei Sein herrlicher Name! dem Glauben ist Er immer nahe, immer gegenwärtig.
„Seine Linke ist unter meinem Haupt, und seine Rechte umfasst mich.“ So redet der Glaube. Der Glaube kann sich an Seine Brust lehnen; er kann in der Nacht in Seinen Armen ruhen und am Morgen mit Ihm ausgehen in die Weingärten, um die Weinstöcke blühen zu sehen. Wie gesegnet ist das! Persönlich ist Er allerdings noch nicht hier; Er ist im Himmel, und wir sind auf der Erde. Aber während wir im Glauben in Ihm ruhen, verlangen wir sehnlich nach Seiner Wiederkunft, um von Ihm aufgenommen zu werden und bei Ihm zu sein in der Herrlichkeit droben. O möchten wir doch in unseren Herzen freier sein von der Welt und ihren Dingen und, wie der Vogel in den Zweigen, stets bereit, unsere Schwingen auszubreiten und diese Erde zu verlassen! Was sind die schönsten Segnungen dieser Erde im Vergleich mit dem Himmel, was der glücklichste Platz auf Erden im Vergleich mit dem Paradies Gottes?
Nun, der Freudentag beginnt zu dämmern für das lange unterdrückte Volk Israel. Der Herr Selbst wird bald erscheinen. „Das Reich der Himmel ist nahe gekommen.“ Der lange, dunkle und öde Winter der Abwesenheit des Herrn ist dann vorüber. Der Frühling ist gekommen, der Sommer ist nahe. Der helle, wolkenlose Morgen bricht an. Seit dem Fall des ersten Menschenpaares hat diese seufzende Erde nie eine so freudenvolle, liebliche Szene gesehen, wie diese Verse sie beschreiben. Sie schildern in herrlicher Sprache die zukünftige Herrlichkeit und Segnung des Landes Israel und der ganzen Erde.
„In Zukunft wird Jakob Wurzel schlagen, Israel wird blühen und knospen; und sie werden mit Früchten füllen die Fläche des Erdkreises“ (Jes 27,6). Die hellen Strahlen der „Sonne der Gerechtigkeit“ werden für immer das Dunkel und die Öde des langen Winters verscheuchen. Die knospenden Blumen, die reifenden Feigen, die blühenden Reben, die singenden Vögel, die Stimme der Turteltaube, alles das sind sichere Zeichen, nicht nur dass der Winter vergangen, sondern auch dass der Frühling gekommen ist. Und obwohl in dem Weinberg der Braut bis jetzt noch nichts zur Reife gekommen ist, liegt doch in der göttlichen Verheißung die sichere Bürgschaft eines herrlichen Sommers und eines reichen Herbstes.