Behandelter Abschnitt Hld 2,1-2
„Ich bin eine Narzisse von Saron, eine Lilie der Täler“ (Hld 2,1).
Welch eine wunderbare Sache ist die Gnade, die Gnade Gottes für den Sünder. Welche mächtigen Veränderungen bringt sie in denen hervor, die sie kennen, in Bezug auf ihre Gedanken, Gegenstände des Herzens, Wünsche und Zuneigungen. Sie teilt uns die Gedanken des Herrn mit über das, was wir in Seinen Augen und für Sein Herz sind. Beachte dieses wohl, mein Leser, und sinne darüber. Der Brunnen ist tief, und seine Wasser sind zu jeder Zeit frisch und erquickend. Trinke daraus, frei und ungehindert.
Gnade kennen heißt Gott kennen, Sein volles Heil durch Jesus Christus, mittels der Belehrung des Heiligen Geistes. Noch vor kurzem hat die Braut bekannt: „Ich bin schwarz . . . schwarz wie die Zelte Kedars“ ; und jetzt ist sie durch die Gnade fähig gemacht, in Wahrheit und ohne irgendwelche Zweifel zu sagen: „Ich bin eine Narzisse von Saron, eine Lilie der Täler“; ich bin das, was den höchsten Schmuck von Saron bildet, was die Täler schön und lieblich macht. Sie spricht nicht in allgemeinen Ausdrücken, sondern in der bestimmtesten Weise von dem, was sie dem Bräutigam so anziehend erscheinen lässt. Sie rühmt sich nicht eitler Weise anderen gegenüber, sondern redet unmittelbar zu Ihm, in dem freudigen Bewusstsein des Platzes, den sie in Seinem Herzen hat.
Eine völlige Gemeinschaft ist vorhanden; denn Er fügt sofort hinzu: „Wie eine Lilie inmitten der Dornen, so ist meine Freundin inmitten der Töchter“ (Hld 2,2).
Und an einer späteren Stelle dieses Buches sagt Er: „Eine ist meine Taube, meine Vollkommene; sie ist die einzige ihrer Mutter, sie ist die Auserkorene ihrer Gebärerin“ (Hld 6,9). Von solcher Art ist die Liebe und Gnade unseres Herrn und Heilandes Jesus Christus, und das ist der besondere Platz, den Seine Braut in Seinen Augen hat; die Ausdrücke Seiner Zuneigung übertreffen stets die Ausdrücke ihrer Zuneigung. Das ist überaus köstlich für das Herz. Wie groß ist doch der Unterschied zwischen der herrlichen, duftenden Lilie und einem scharfen, verletzenden Dorn!
Es gibt viele Gläubige, die, wenn sie solche Wahrheiten hören, unwillkürlich ausrufen: „O ich bin eines solchen Platzes nicht wert!“ – Sicherlich nicht, mein Freund, wenn du an deine eigene Würdigkeit denkst. Was für einen Platz aber meinst du wert zu sein? Wahrscheinlich einen niedrigeren. Aber ist das Demut? Nein, es ist Stolz! Wir verdienen in Seiner Gegenwart überhaupt keinen Platz; folglich muss jeder Platz, den Er uns gibt, eine Folge reiner, unumschränkter Gnade sein. An der Türschwelle zu stehen, würde ebenso wohl unvermischte Gnade sein, als auf Thronen zu sitzen.
Ohne Zweifel dachte der verlorene Sohn, dass es sehr demütig von ihm sein würde zu sagen: „Mache mich wie einen deiner Tagelöhner“. Aber es war nicht Demut, sondern ein Rest von Stolz und Gesetzlichkeit des Herzens. Alle solche Gedanken entstammen dem natürlichen Herzen, das überaus stolz und selbstgerecht ist und weder seinen eigenen Zustand noch die Gnade Gottes kennt. Wahre Demut steht von ferne und bekennt, dass sie nicht wert sei, auch nur die Augen zum Himmel aufschlagen zu dürfen (Vergl. Lk 18).
Der verlorene Sohn hatte ebenso wenig Anspruch auf den Empfang eines Tagelöhners, als auf den eines Sohnes. Er hatte auf dem Boden der Gerechtigkeit alle Ansprüche verloren. Er hatte nur einen Grund, auf dem er wagen durfte zu kommen, und das war seine dringende Not. Nur Gnade konnte ihm begegnen. Wäre ihm Gerechtigkeit widerfahren, so würde ewige Verdammnis sein Los gewesen sein. Aber die Gnade herrscht; kein Wort wird gesagt über seine Sünden. Er hätte auch nicht für eine aus tausend einstehen können. Die Frage der Sünde wurde am Kreuz zwischen Gott und Christus geordnet. Und jetzt strahlt die Gnade in ihrem ganzen himmlischen Glanz. Das Herz des Vaters ist die Quelle von allem, und Er hat Seine Freude daran, Gnade zu üben. Er handelt Sich Selbst gemäß. Die Ansprache, die der Sohn sich vorher überlegt hatte, wird unterbrochen; er kommt nicht so weit zu sagen: „Mache mich wie einen deiner Tagelöhner“. Wie hätte es auch sein können? Die Gnade verhinderte es; der Vater lief ihm entgegen, fiel ihm um den Hals und küsste ihn sehr. Die Versöhnung fand ihren Ausdruck und ihre Vollendung in dem Augenblick, da Vater und Sohn zusammentrafen. Der Sohn empfing sofort den Kuss des Friedens. Die Gnade ist frei. Nachdem Gott das Sühnungswerk am Kreuz entgegengenommen hat, wird uns die Versöhnung in dem Augenblick zuteil, da wir in Christus mit Ihm zusammentreffen.
Und nun, durch das Blut des Kreuzes versöhnt, wird der einst verlorene und verderbte Sünder zum Sohn und Erben gemacht, zum Erben Gottes und Miterben Christi. Das ist Gnade, die Gnade Gottes in Christus Jesus für alle, die an Seinen Namen glauben. Sie werden die leuchtenden Gefäße dieser Gnade bilden in all den endlosen Zeitaltern der Ewigkeit. Welch ein Platz für den einst armen, freund- und heimatlosen Wanderer, und das für immer und ewig. So offenbart Gott Seinen Charakter der Gnade; Er will „in den kommenden Zeitaltern den überschwänglichen Reichtum seiner Gnade in Güte an uns erweisen in Christus Jesus“ (Eph 2,7).
Beachten wir auch, dass die Braut sagt: „Ich bin eine Lilie der Täler“. In dem stillen Tal findet sie ihren heimatlichen Boden. Dort blüht sie für das Auge ihres Geliebten, und dort verbreitet sie ihren Wohlgeruch zu Seiner Erquickung. „Er weidet unter den Lilien.“ In der Stadt verliert sie die Freude Seiner Gegenwart und wird von den Wächtern verhöhnt und beschämt (Hld 5). Wie viel besser wäre es für sie gewesen, hätte sie nie ihre stillen Täler verlassen. Welche beachtenswerte Unterweisung liegt hierin auch für uns, geliebter Leser. Fern von dem Strom und dem Geist dieser Welt, fern von ihren Reizen und anziehenden Dingen sollten wir darüber sinnen, was dem Auge Jesu wohlgefällig und Seinem Herzen angenehm ist. Wie wunderbar, dass Er, der Sich auf den Thron Seines Vaters gesetzt und Sich mit Dessen Herrlichkeit umgeben hat, noch solcher wertloser Geschöpfe gedenkt; wie wir sind; ja, mehr noch, dass Er erfreut und erquickt, oder betrübt und verwundet wird durch unser Verhalten hier auf Erden. Ach, dass Er so oft verwundet wird in dem Hause derer, die Ihn lieben. Sollte es irgendetwas unter der Sonne geben, das einem Christen mehr Freude bereiten könnte, als Ihm zu gefallen? Können wir uns etwas Unwürdigeres denken als einen Christen, der sich selbst zu gefallen sucht und seine Freude an den Dingen dieser Welt findet? obwohl er weiß, dass er das Herz Dessen betrübt, den zu erfreuen sein ganzes Bestreben sein sollte – Ihn, der für ihn starb auf Golgatha?
O möchten wir uns alle in Aufrichtigkeit prüfen, wie es in dieser Beziehung mit uns steht, und schonungslos mit uns ins Gericht gehen. „Richtet auf die erschlafften Hände und die gelähmten Knie und machet gerade Bahn für eure Füße, damit nicht das Lahme vom Wege abkomme, sondern vielmehr geheilt werde“ (Heb 12,12.13). Wie köstlich ist es für das Auge des guten Hirten, wenn er diejenigen, für die Er starb, mit freudigem Herzen wandeln sieht in den „Spuren seiner Herde“, und weidend „bei den Wohnungen der Hirten“. Dort finden sie zarte, grüne Weide und stille Wasser der Ruhe. Wie betrübend dagegen für den Erzhirten und Seine Unterhirten, wenn er sieht, wie ein Jünger Jesu, der für eine Zeit mit seinem ganzen Herzen dem Herrn ergeben schien, den Vorstellungen unbekehrter Freunde und den Reizen der Welt nachgibt; wie betrübend, wenn ein solcher nach allerlei Gründen und Entschuldigungen sucht, um wenigstens bis zu einem gewissen Grad Hand in Hand mit der Welt gehen zu können. „Muss ich denn wirklich dieses, muss ich jenes aufgeben?“ hört man oft fragen. Ach, mein Bruder, meine Schwester, denke lieber daran, was du zuerst aufgeben musst, um die Freuden der Welt wieder genießen zu können.
Für ihre Eitelkeiten und Torheiten musst du Christus aufgeben (Ich meine, Christus im Blick auf den praktischen Genuss. Du weißt, dass du nicht zu gleicher Zeit den Herrn und jene Dinge genießen kannst. Darum: du musst diese Dinge für Christus aufgeben. Zögerst du noch? O richte dann deinen Blick auf das Kreuz. Wie hat Er dich geliebt! Seine Liebe trieb Ihn in den Tod, in den Tod für dich, um dich von deinen Sünden, von der Welt und ihren Dingen, ja, von der ewigen Verdammnis zu befreien. Wirf dich zu Seinen Füßen nieder mit aufrichtiger, göttlicher Betrübnis. Du hast Sein Auge beleidigt, Sein Herz betrübt, Seinen Namen verunehrt. Bekenne Ihm alles; und du wirst vollkommen wiederhergestellt werden, deine vergangenen Sünden werden vergeben und vergessen werden für immer.
Solange dieses nicht geschieht, ist die Gemeinschaft mit dem Herrn unterbrochen, die geistliche Gesinnung und der Ernst des Herzens sind dahin. Du gehst rückwärts, schneller und immer schneller; und wenn nicht der Herr in Seiner Gnade die Räder des Wagens zum Stehen bringt, wer kann dann sagen, wie schnell und wie weit er abwärts rollen wird? Vielleicht tritt etwas ein, das plötzlich den Rückgang aufhält; aber der Schaden, der geschieht, lässt vielleicht für immer seine ernsten, beschämenden Spuren zurück. Möge die Gnade des Herrn uns erleuchten und viele in die Wüste zurückführen, die nahe am Rande der Welt sich aufhalten und begehrliche Blicke über die Linie der Absonderung hinüberwerfen. Ja, Herr, entwöhne Du uns alle von dem gegenwärtigen, bösen Zeitlauf; lass Du uns gekleidet sein in den bescheidenen, einfachen Schmuck der Lilie für Dich allein; Bewahre uns vor der Sucht, in den Augen der Welt glänzen zu wollen. Wahrlich, teurer Herr, Deine Worte: „Wie eine Lilie inmitten der Dornen, so ist meine Freundin inmitten der Töchter“, (Hld 2,2) sind von unendlich höherem Wert als alles, was wir um Deinetwillen aufgeben mögen.