Behandelter Abschnitt Hld 1,15
„Siehe, du bist schön, meine Freundin, siehe, du bist schön, deine Augen sind Tauben“ (Hld 1,15).
Was ist es, so möchte der eine oder andere Leser fragen, das ein durch die Sünde beflecktes und entstelltes Geschöpf in den Augen Jesu schön machen kann? Wo, wann und wie kann dies gefunden werden? Nichts anderes ist ja nötig, um den Freudenbecher der Seele zum Überfließen zu füllen. Was sind alle Reichtümer, Würden und Herrlichkeiten dieser Welt im Vergleich mit solchen Worten von Seinen Lippen: „Siehe, du bist schön, meine Freundin!“? – Das Evangelium der Gnade Gottes, mein Freund, gibt dir Antwort auf jene Fragen. Siehe, wenn eine Seele zu Jesu gezogen wird, wird sie von Ihm aufgenommen und in das Licht der Gegenwart Gottes, in den vollen Wert Seines vollendeten Werkes und in die unvergleichliche Schönheit Seiner anbetungswürdigen Person versetzt.
Das ist Gnade, die Gnade Gottes im Evangelium Seines Sohnes für jeden, der glaubt. „Von allem, wovon ihr durch das Gesetz Moses nicht gerechtfertigt werden konntet, wird durch diesen (durch Jesus) jeder Glaubende gerechtfertigt“ (Apg 13,38.39). Und alle, die glauben, sind „begnadigt (oder angenehm gemacht) in dem Geliebten“, auf Grund des am Kreuz vollbrachten Werkes (Eph 1,6.7). Sein kostbares Blut reinigt uns von aller Sünde (1Joh 1). Darum wie „schön“! Die Schönheit der Engel wird vollkommen sein nach ihrer Art und Ordnung, aber der aus Gnaden errettete Sünder wird strahlen in der Schönheit des Herrn Selbst für immer und ewig.
Viele halten alles dieses für wahr, und doch fragen sie zitternd: Kann solch ein Platz, kann solch ein Segen je mein Teil sein? „Glaube an den Herrn Jesum, und du wirst errettet werden“, ist die Antwort des Himmels einem jeden zitternden Sünder gegenüber. Ja, so lautet die himmlische Botschaft der vollkommenen Gnade für alle, die fragen: „Was muss ich tun, dass ich errettet werde?“ Glaube an Jesus, vertraue auf Ihn, so unrein und verderbt du auch sein magst, und schneller als deine Gedanken ihren Gegenstand wechseln können, bist du „schön“ in Seinen Augen. Glaube nur, das Werk ist vollbracht, vor langer Zeit. O vertraue nicht auf deine eigenen „toten Werke“. Das Evangelium ist zu einfach, um einer Erklärung zu bedürfen. Es ist eine Botschaft, die geglaubt, eine Einladung, die angenommen werden muss; eine Stimme der Liebe, die dich eindringlich bittet, dich mit Gott versöhnen zu lassen, eine Ankündigung der Vergebung und des Friedens durch Jesus Christus (Apg 10,36; 13,38.39). Beachte es wohl, mein Leser! es ist nicht eine Verheißung der Vergebung und des Friedens, sondern eine Verkündigung dieser gesegneten Dinge.
Das ist ein höchst beachtenswerter Unterschied. Ferner ist es weder durch Gesetz noch durch Verheißung, dass die Seele so reich gesegnet wird, sondern durch Jesus Christus. In dem Augenblick also, wo ein Sünder an Jesus glaubt, werden ihm Vergebung, Rechtfertigung und Versöhnung verkündigt durch das Wort Gottes.
Nehmen wir ein Beispiel als Erläuterung der Gnadenwege Gottes mit dem Sünder. In Sach 3 sehen wir den Hohenpriester Josua vor dem Herrn stehen. Er ist ein Vorbild der Gnadenhandlungen Gottes mit Jerusalem in den letzten Tagen. Dieses Kapitel erklärt, wie ich glaube, warum die Braut des Königs so „schön“ ist in Seinen Augen. Zugleich enthält es die Geschichte eines jeden durch Gnade erretteten Sünders. Josua ist mit schmutzigen Kleidern angetan. Satan ist da, um ihm zu widerstehen; er sucht immer die Segnungen der Seelen zu verhindern. Aber der Herr nimmt sich des Schutzlosen an. Er stößt niemanden von sich, der zu Ihm kommt. Er tadelt den Widersacher, bringt ihn zum Schweigen, und spricht und handelt für Josua. Die schmutzigen Kleider werden weggenommen; seine Sünden sind vergeben. Nicht ein Fetzen bleibt zurück, auf den Satan sich berufen könnte. Also gereinigt von allen seinen Befleckungen, werden ihm Feierkleider angezogen. Er wird bekleidet mit dem Kleid Gottes, und ein reiner Kopfbund wird ihm aufgesetzt. Und nun, wie „schön“! – Was sollen wir sagen?
„Dem, der uns liebt und uns von unseren Sünden gewaschen hat in seinem Blute, und uns gemacht hat zu einem Königtum, zu Priestern seinem Gott und Vater: Ihm sei die Herrlichkeit und die Macht von Ewigkeit zu Ewigkeit! Amen“ (Off 1,5-6). Sowohl die königliche als auch die priesterliche Krone sind unser; wir sind bekleidet mit der höchsten Würde, aus königlichem Geschlecht, und als Priester in Anbetung in die innigste Nähe zu Gott gebracht! Und wie köstlich ist der Gedanke, dass alles, von Anfang bis zum Ende, das Werk Gottes ist, und darum ist es für immerdar vollkommen. Der Herr hat Jerusalem erwählt. „Siehe, ich habe deine Ungerechtigkeit von dir weggenommen, und ich kleide dich in Feierkleider. Und ich sprach: Man setze einen reinen Kopfbund auf sein Haupt“ (Sach 3,4). Alles ist von Gott, durch Christus Jesus, auf Grund des Werkes des Kreuzes. Die Gnade herrscht, Gott ist verherrlicht, der Glaube triumphiert, Satan ist vernichtet und der Sünder für ewig gerettet.
Indem wir vereinigt sind mit dem auferstandenen Jesus, sind wir auch eins mit Ihm in der Auferstehung (Eph 2). Das gibt uns unsere wunderbare Stellung in Seinen Augen. Alle, die in diese neue Stellung gebracht sind, sind schön, wie Christus schön ist. Nur dass Er in allen Dingen den Vorrang hat, wie geschrieben steht: „Du bist schöner als die Menschensöhne“ (Ps 45). So finden wir denn auch die gleichen Ausdrücke der Bewunderung auf Bräutigam und Braut angewendet; von beiden wird dasselbe gesagt, denn die Braut ist der Abglanz des Bräutigams. Duften die Kleider der Braut von dem Wohlgeruch der Myrrhe, so heißt es von dem Bräutigam: „Myrrhen und Aloe, Kassia sind alle deine Kleider.“ Welch ein gesegneter Gegenstand für unsere Betrachtung: Einheit mit Christus als dem Auferstandenen und Verherrlichten! Wie verächtlich würde uns die Welt mit allen ihren Verbindungen und Beziehungen erscheinen, wenn wir sie mehr von diesem Gesichtspunkt aus betrachteten.
Was hier von Israel oder von dem Überrest in prophetischer Weise gesagt wird (“Siehe, du bist schön, meine Freundin“), ist jetzt schon in tieferem Sinn wahr von der Kirche Gottes, der Braut des Lammes. Zugleich ist der große Grundsatz des Liedes beiden gemeinsam: die Liebe des Herrn ist vollkommen. Er liebt Israel, Er liebt die Kirche, und zu seiner Zeit wird Er Zuneigungen in beider Herzen wachrufen, die Seinen Zuneigungen vollkommen entsprechen. Die moralische Anwendung unseres Buches auf den Christen ist daher von großer Bedeutung. Es handelt sich um Herzens-Gemeinschaft. Aber wir tun stets gut, den Unterschied zwischen dem Platz des Juden in den letzten Tagen und dem Platz des Christen in der Gegenwart im Auge zu behalten.
Wenn auch die Hochzeit des Lammes noch nicht gekommen ist, so sind doch die Beziehungen zwischen Christus und der Kirche bereits gebildet. Wie der Apostel sagt: „Ich habe euch einem Mann verlobt, um euch als eine keusche Jungfrau dem Christus darzustellen“ (2Kor 11,2). Kostbare Wahrheit! Die Kirche Gottes ist die Braut des Erlösers, des Sohnes des Vaters. Kennst du, mein Leser, die Gefühle der Liebe, die einem so nahen und innigen Verhältnis eigen sind? Genießt du, statt in jener peinlichen Ungewissheit zu sein, die so oft die Gemüter derer verwirrt, die ein solch nahes Verhältnis erst in der Zukunft erwarten, die ruhige, friedliche Zuneigung und Freude, die aus dieser bewussten Verbindung hervorgehen? Wenn es so ist, dann wird auch das Verlangen deines Herzens nach der Wiederkunft deines Herrn groß sein. Denn Liebe ist der wahre Grund für den Ruf: „Komm, Herr Jesu; komme bald!“
„Du bist schön, meine Freundin . . . , deine Augen sind Tauben.“ Es ist sehr belehrend zu sehen, wie wir in der Schrift mit der Taube in Verbindung gebracht werden. Von 1Mo 8 bis zu den Zeiten des Neuen Testaments nimmt sie einen bemerkenswerten Platz im Wort Gottes ein.
Zuerst hören wir von ihr in Verbindung mit der Arche und dem Ölbaum. Herrliche Sinnbilder der Errettung und des Friedens Gottes! Die Taube pflückte und hielt das Ölblatt fest, als die Gerichte Gottes die Erde bedeckten. Und so lange die Wasser nicht weggetrocknet waren, konnte sie keinen Ruheplatz für ihre Füße finden. Die unter dem Gericht liegende Welt war kein Aufenthaltsort für sie. Weiterhin finden wir, dass die Taube, und zwar sie allein von allem Gevögel als Opfer dargebracht werden konnte, und so als Vorbild des Herrn Selbst diente. Dasselbe Vorbild wird also für beide gebraucht, für den Herrn und für Seine Braut, wenn auch selbstverständlich in verschiedener Weise. Wunderbare Einheit! „Denn so wie der Leib einer ist und viele Glieder hat, alle Glieder des Leibes aber, obgleich viele, ein Leib sind: so auch der Christus“ (1Kor 12,12). Beachte, mein Leser, der Apostel spricht von dem, was ein Bild der Kirche ist; anstatt aber zu sagen: „so auch die Kirche“, sagt er: „so auch der Christus“. Er sieht die Kirche in Ihm. Christus und die Kirche sind ein Leib.
Auch der Heilige Geist wird durch die Taube sinnbildlich dargestellt. „Und Johannes zeugte und sprach: Ich schaute den Geist wie eine Taube aus dem Himmel hernieder fahren, und er blieb auf ihm.“ (Joh 1,32) Einfalt, Reinheit, Harmlosigkeit und Treue scheinen in der Taube eine bildliche Darstellung zu finden. Wenn daher das Auge des Christen einfältig, keusch und beständig auf Christus gerichtet ist, so kann man von ihm sagen: „Deine Augen sind Tauben“.