Behandelter Abschnitt Hld 1,12
„Während der König an seiner Tafel war, gab (oder ist, gibt) meine Narde ihren Duft“ (Hld 1,12).
Es besteht ein unermesslicher Unterschied zwischen den anziehenden Eigenschaften der Natur und den geistlichen Tugenden. Honig, die Süßigkeit der Natur, war im Alten Bunde bei allen Opfern verboten. Ein wenig Honigseim, mit dem Ende eines Stabes zum Mund geführt, mag die Augen hell machen und das Herz des Kriegers erfrischen am Tag der Schlacht (1Sam 14,27), aber es kann nicht das Herz des Herrn der Heerscharen erquicken. Die liebenswürdigen Eigenschaften der Natur sind ohne Zweifel wertvoll für die Familie, für den gesellschaftlichen Kreis und für die Welt im Allgemeinen, aber durchaus untauglich für den Altar Gottes oder den Tisch des Königs. Das Süße wie das Saure der Natur sind für den Heiligen Israels gleich verwerflich. „Die aber, welche im Fleisch sind, vermögen Gott nicht zu gefallen“ (Röm 8,8).
Wir bedürfen einer neuen Natur, des Lebens des auferstandenen Jesus in der Seele, bevor wir irgendetwas Gott Wohlgefälliges tun oder ein Ihm annehmliches Opfer darbringen können. „Ihr müsst von neuem geboren werden.“ „Die Frucht des Geistes aber ist: Liebe, Freude, Friede, Langmut, Freundlichkeit, Gütigkeit, Treue, Sanftmut, Enthaltsamkeit“ (Gal 5,22.23). Das göttliche Leben, das durch den Heiligen Geist Früchte hervorbringt, ist die wohlriechendste und erfrischendste Frucht in den Augen des Heilands. Die „Narde“ hat für Ihn „einen duftenden Wohlgeruch“, und ihr Wert ist unvergänglich. Die Alabasterflasche mit Salbe, die einst das Haus in Bethanien mit lieblichem Duft erfüllte, hat ihren Wohlgeruch für Ihn heute noch nicht verloren, „Sie hat getan, was sie konnte“, so lautete das rückhaltlose, ungeschmälerte Lob Seiner Liebe. Und: „Wo irgend dieses Evangelium gepredigt werden wird in der ganzen Welt, wird auch davon geredet werden, was diese getan hat, zu ihrem Gedächtnis“ (Mt 26,13).
Es ist verkehrt zu denken, dass wir dem König nichts darzubringen hätten, während Er zu Tisch sitzt. Allerdings geben wir Ihm von Seinem Eigenen, aber das macht die Sache nur umso lieblicher für Ihn und uns. Was ist lieblicher als Gnade? Der Israelit musste einen Korb, gefüllt mit den Erstlingsfrüchten des Landes, herzubringen und ihn vor dem Herrn, seinem Gott, niedersetzen (5Mo 26). Wahrer Gottesdienst, wahre Anbetung ist Gemeinschaft. Wenn der Bräutigam seine „guten Salben“ hat, so besitzt die Braut ihre „Narde“; doch alles ist Gnade. Der Tisch ist Sein, die Salbe und die Narde sind ebenfalls Sein. „Du bereitest vor mir einen Tisch angesichts meiner Feinde, du hast mein Haupt mit Öl gesalbt, mein Becher fließt über“ (Ps 23,5).
Das Herz erreicht nicht eher die Höhe der Anbetung, als bis es überfließt. Dann hat es um nichts mehr zu bitten, nichts mehr zu wünschen. Bei wahrer Anbetung strömt das Herz über. Und wie lieblich, wie köstlich und wie gesegnet ist sie. Wenn der Heilige Geist von der Fülle Jesu unseren Seelen mitteilt, wie bald strömt dann das Herz über! Und dieses Überströmen des Herzens von der Fülle Christi ist wahre, himmlische Anbetung. Daher der wichtige Unterschied zwischen einer Versammlung zum Gebet oder zur Anbetung. Zu der Versammlung zum Gebet sollten wir mit leeren Gefäßen kommen und so zum Herrn schreien, als wenn wir eher den Himmel erstürmen, als ohne Antwort weggehen möchten. Zu der Versammlung zur Anbetung jedoch sollten wir kommen mit vorhergegangenem Selbstgericht, wohl vorbereitet für den Tisch des Königs und fähig, uns an Seinen reichen Gaben zu laben und die Beute Seines Sieges, die Frucht der Erlösung, zu genießen.
So werden wir stets alle unsere Bedürfnisse gestillt und jedes Verlangen befriedigt finden. Haben wir denn um nichts zu bitten an dem Tische unseres Herrn? Um nichts, es sei denn um ein weiteres Herz; anders müsste ja der König etwas, was uns Not ist, vergessen haben. Und wie wäre das möglich? Wie könnten wir anders als befriedigt sein in dem Empfangszimmer des Königs, im Allerheiligsten, wo wir die reichen Spenden Seiner Tafel genießen? Wie könnten wir anders als unseren Gott und Vater und unseren Herrn Jesus Christus loben und preisen, bewundern und anbeten, lieben und verehren?
Die Braut hat jetzt den Höhepunkt des Segens erreicht. Sie erfreut sich in Ruhe und Frieden der Gegenwart des Königs, während Er an Seinem Tisch ruht. Die Tätigkeiten des Dienstes haben der Ruhe der Anbetung Platz gemacht. Die versengenden Strahlen der Sonne, die Verfolgung, die Armut, die Sorgen – alles ist vergessen in der Fülle der Freuden, die Seine Gegenwart verleiht. Die Flasche ist zerbrochen, die kostbare Narde fließt, der Wohlgeruch erfüllt das Haus, das Haupt und die Füße Jesu werden gesalbt, und Sein Herz ist hingerissen durch das Entgegenkommen ihrer Liebe.