Behandelter Abschnitt Hld 1,7
„Sage mir an, du, den meine Seele liebt, wo weidest du, wo lässt du lagern am Mittag? denn warum sollte ich wie eine Verschleierte sein bei den Herden deiner Genossen?“ (Hld 1,7).
Eine herrliche Veränderung hat stattgefunden in dem, was die Braut beschäftigt. Der Bräutigam steht vor ihren Blicken und füllt ihr ganzes Herz aus. Das eigene Ich ist aus dem Auge verloren. Welch eine Gnade! Es ist weder das schwarze Ich, noch das liebliche Ich, mit dem sie beschäftigt ist. Wenn wir mit uns selbst beschäftigt sind, ist das Resultat immer unglücklich. Unzählige Schwierigkeiten und Sorgen entstehen, sobald sich der Blick nach innen richtet, anstatt nach außen auf Christus.
Drei Dinge sind in diesem schönen Vers unserer besonderen Betrachtung wert:
1. Die aufrichtige Zuneigung des Herzens der Braut. Sie sagt nicht: „Du, den meine Seele“ lieben sollte, oder zu lieben begehrt, sondern: „Du, den meine Seele liebt „. Eine helle Flamme der Liebe zu der Person ihres Herrn und Erlösers brennt in ihrem Herzen. Sie liebt Ihn aufrichtig und innig. „Sage mir an, du, den meine Seele liebt“. Das ist ein bewusstes Nahesein: „mir“ – „du“. Welch ein gesegneter Zustand für eine Seele. Kennst auch du etwas davon, mein lieber Leser? Ach, wie oft tritt etwas zwischen die Seele und den Herrn, verhindert diese innige Gemeinschaft und stört den seligen Genuss dieser Nähe! Aber Gott sei gepriesen, der Tag ist nahe, an dem diese beiden Augen den König in Seiner Herrlichkeit schauen werden. Dann wird dieses kalte, träge Herz ganz hingerissen sein von Seiner Schönheit und für immer brennen mit einer reinen Flamme vollkommener Liebe für Ihn allein.
2. Die Braut verlangt Erquickung und Nahrung unmittelbar von Ihm Selbst. „Sage mir an, . . . wo weidest du, wo lässt du lagern am Mittag?“ Sie geht nicht zu den Hirten Israels, die mehr die Wolle als die Schafe liebten, sondern zu dem Erzhirten selbst. Sie war zu Ihm als dem König gebracht worden, jetzt aber wendet sie sich an Ihn als den Hirten. Wie David vor alters, so ist auch Er der königliche Hirte; und o, wie gnädig, liebevoll und zärtlich wird Er noch einmal die jetzt überallhin zerstreuten Schafe Israels sammeln! Nichts könnte die Gnade übertreffen, die sich in den Versen kundgibt: „Denn so spricht der Herr, Herr: Siehe, ich bin da, und ich will nach meinen Schafen fragen und mich ihrer annehmen. Wie ein Hirte sich seiner Herde annimmt an dem Tag, da er unter seinen zerstreuten Schafen ist, so werde ich mich meiner Schafe annehmen und werde sie erretten aus allen Orten, wohin sie zerstreut worden sind am Tag des Gewölks und des Wolkendunkels. Und ich werde sie herausführen aus den Völkern und sie aus den Ländern sammeln und sie in ihr Land bringen; und ich werde sie weiden auf den Bergen Israels, in den Tälern und an allen Wohnplätzen des Landes. Auf guter Weide werde ich sie weiden, und auf den hohen Bergen Israels wird ihr Weideplatz sein; dort, auf den Bergen Israels, werden sie auf gutem Weideplatz lagern und fette Weide beweiden. Ich will meine Schafe weiden, und ich will sie lagern, spricht der Herr, Herr“ (Hes 34,11-15).
3.Ihr Herz sehnt sich nach der Mittagsruhe Seiner hochbegünstigten Herde. „Sage mir an, . . . wo lässt du lagern am Mittag?“ Persönliche Gemeinschaft, geistliche Speise und friedliche Ruhe sind die reichen Segnungen, nach denen ihre Seele jetzt inbrünstig verlangt. Ermüdet von dem fruchtlosen Suchen nach Ruhe und Erquickung fern von Gott, sehnt sie sich nach den grünen Weiden und den stillen Wassern Seiner Liebe und Gnade. Die, welche selbst einmal auf den finsteren Bergen umhergeirrt sind, unerfreut durch das Licht des Antlitzes Gottes, verstehen die schreckliche Dürre in ihrer Seele. Wenn die Seele aber vollständig und glücklich ist, schmecken die zarten Triebe der Weide süßer als je zuvor. Nachdem die Braut einmal den Segen der Gemeinschaft mit Gott geschmeckt hat, kennt sie nur noch das eine Verlangen, dass dieser Segen wachsen und nicht unterbrochen sein möge.
Der Gedanke, von anderen als unaufrichtig beargwöhnt zu werden, beunruhigt sie. „Denn warum“, sagt sie, „sollte ich wie eine Verschleierte sein bei den Herden deiner Genossen?“ Wer diese Genossen sind, dürfte schwer zu bestimmen sein; vielleicht die Unterhirten, die ihre Lage nicht so verstehen und beurteilen können wie der Haupthirte Selbst. Er kennt ihr Herz, und sie kann dem Seinigen vertrauen. Der Ausdruck „Verschleierte“ scheint den Gedanken an eine Beargwöhnung zu enthalten (Vergl. 1Mo 38,15). Das ist sehr schmerzlich für ein aufrichtiges, ehrliches Gemüt, obwohl es nicht ungewöhnlich ist. Viele, die Hirten der Herde Gottes zu sein bekennen, verstehen nur sehr wenig von dem Pfad einer Seele, die mit dem Herrn wandelt, frei von allen Vorschriften und Regeln der Menschen,- die nur das Verlangen hat, dem Herrn zu gefallen, mag sie auch das Missfallen aller anderen auf sich ziehen.
Es gibt eine Energie der Liebe, die sich über alle menschlichen Einrichtungen erhebt und eine unmittelbare (nicht mittelbare) Gemeinschaft mit dem Herrn unterhält; eine Energie, die nicht zufrieden ist mit der geläufigen Beobachtung menschlicher Formen. Eine solche Seele wird sehr wahrscheinlich missverstanden und missdeutet werden von denen, die sich in der mehr ausgetretenen Spur alltäglicher Religiosität bewegen; gleich Hanna, der Mutter Samuels, die mit einer innerlich geistlichen Energie betete, die selbst von Eli, dem Priester Gottes, nicht verstanden wurde. Aber der Herr kennt die Beweggründe des Herzens und die Quelle dieser Energie.
Doch gerade in dem Augenblick, da die Geliebte in ihrer Seele leidet von dem niedrigen Argwohn anderer, erscheint der Geliebte ihr zum Trost. Dies ist das erste Mal im Hohenlied, dass wir die Stimme des Bräutigams vernehmen. Und ach! welch eine Huld und Gnade strömen der fragenden Braut entgegen! Welche Worte fließen von Seinen Lippen! „Du Schönste unter den Frauen“, so lautet die erste Äußerung Seines Herzens. Wahrlich, das ist genug, um auch die tiefste Bitterkeit der Seele zu verbannen.
Sie mochte bekümmert gewesen sein über ihre äußere Erscheinung und über die unwürdigen Gedanken anderer; aber eine solche Zusicherung Seiner Liebe und Wertschätzung ist hinreichend, um alle ihre Kümmernisse zu verscheuchen und ihr Herz mit überströmender Freude zu erfüllen. Sie hatte auf sich selbst geblickt, auf das, was sie in sich selbst ist: „schwarz wie die Zelte Kedars“, eine sonnenverbrannte Sklavin, aber Er versichert ihr, dass Er sie nicht allein für schön und anmutig hält, sondern für die Schönste unter den Schönen.