Behandelter Abschnitt Hld 1,5-6
„Ich bin schwarz, aber anmutig, Töchter Jerusalems, wie die Zelte Kedars, wie die Zeltbehänge Salomos. Seht mich nicht an, weil ich schwärzlich bin, weil die Sonne mich verbrannt hat; die Söhne meiner Mutter zürnten mir, bestellten mich zur Hüterin der Weinberge; meinen eigenen Weinberg habe ich nicht gehütet“ (Hld 1,5.6).
Die Braut hat in den vorhergehenden Versen von der Liebe, dem Namen und den Gemächern des Königs gesprochen und jetzt, aufmerksam gemacht durch irgend ein Ereignis, erinnert sie sich daran, was sie selbst ist, und legt ein offenes Geständnis ab. Zu gleicher Zeit aber versichert sie mit ebenso freudigem Herzen, welchen Wert sie in Seinen Augen hat. Die Erkenntnis dieser Wahrheit tut uns zu allen Zeiten Not, wenn wir innerlich im Gleichgewicht bleiben wollen. Je gründlicher wir erkennen, dass das Fleisch wertlos ist, soviel mehr werden wir den Wert Christi zu schätzen wissen, und soviel besser werden wir auch das Werk des Heiligen Geistes verstehen. Wenn es keine ausgemachte Wirklichkeit in unserer Seele ist, dass die menschliche Natur gänzlich verderbt ist, so wird in unseren Erfahrungen bezüglich der eitlen Einbildungen des Fleisches und der göttlichen Wirkungen des Geistes stete Verwirrung herrschen.
In unserer alten Natur ist nichts Gutes zu finden. Der Apostel Paulus, ein im göttlichen Leben wohl am meisten Vorgeschrittener, hat gesagt: „In mir, das ist in meinem Fleisch, wohnt nichts Gutes.“ Wie schmettert dies alle eitlen Einbildungen zu Boden. „Nichts Gutes!“ Kann denn die Natur nicht verbessert werden durch fleißiges Beten und stete Wachsamkeit? Nein, sie ist ganz und gar unverbesserlich. Dieses Urteil hat schon vor langer, langer Zeit durch den Gott der Wahrheit seine Bestätigung erhalten: „Und der Herr sah, dass die Bosheit des Menschen groß war auf der Erde, und alles Gebilde der Gedanken seines Herzens nur böse den ganzen Tag . . . Und Gott sprach zu Noah: Das Ende alles Fleisches ist vor mich gekommen, denn die Erde ist voll Gewalttat durch sie; und siehe, ich will sie verderben mit der Erde“ (1Mo 6,5-13). Was also ist das Ende oder das Ergebnis alles Fleisches? Es ist „böse“, „nur böse“ und „böse den ganzen Tag“. Das ist eine deutliche Sprache. Das Fleisch ist böse ohne irgendetwas Gutes, böse ohne Aufhören; und beachten wir, dass das von allem Fleisch gesagt wird. Alle sind eingeschlossen. Wohl mögen wir in einigen Menschen die Natur verfeinert, ausgebildet und veredelt finden, während andere ungeschliffen und roh sind; aber in beiden Klassen ist es die gleiche fleischliche Natur. Eine Stange hartes, unbiegsames Eisen kann wohl so ausgereckt oder breitgeschlagen werden, dass sie ganz biegsam wird; aber es ist und bleibt stets dasselbe Eisen.
Doch zugegeben, dass alles das wahr ist, warum tut es uns so Not, diese Wahrheit zu erkennen? Weil wir nur dann imstande sind, zwischen Fleisch und Geist zu unterscheiden und zu wissen, von welchem dieser beiden ein Gedanke oder eine Neigung kommen mag. Es ist überaus wichtig zu wissen, dass beide, Fleisch und Geist, in uns sind; das Fleisch unverbesserlich böse, der Geist unvermischt gut. Endlose Verwirrung und Sorgen, und in manchen Fällen tiefe Niedergeschlagenheit, sind die unglücklichen Resultate, wenn wir nicht wissen und bedenken, dass beide Naturen in dem Gläubigen sind. Nichts Gutes irgendwelcher Art kann aus unserer fleischlichen Natur hervorkommen. Nehmen wir an, wir begegnen einer Person, die über ihren Seelenzustand in Wahrheit tief bekümmert ist und aufrichtig danach verlangt, Christus und die Erlösung kennen zu lernen. Es steht außer Frage, dass der Heilige Geist in dieser Seele wirkt. Ein solches aufrichtiges Verlangen nach Christus ist gut und kann nicht aus einer Natur entspringen, die sowohl Gott als auch Christus hasst und die Welt mehr liebt als den Himmel.
Jene Seele mag noch in großer Not sein, und voller Zweifel und Befürchtungen bezüglich des Ausgangs, ja, sie mag selbst jeden Trost abweisen; aber in Wirklichkeit ist schon ein göttliches Werk in ihr geschehen. Sie hat dem Zeugnis Gottes bereits geglaubt, und sobald sie dahin kommt, von sich ab auf Christus zu blicken, wird sie sich freuen. Das gute Werk hatte in dem verlorenen Sohn schon begonnen, als er zu sich selbst sagte: „Ich will mich aufmachen und zu meinem Vater gehen.“ Der Geist Gottes wird jedes Verlangen, das Er erzeugt hat, auch völlig befriedigen. Christus Selbst ist die vollkommene Antwort auf jedes Verlangen des Herzens.
Wir lernen aus der Heiligen Schrift drei Punkte von täglicher praktischer Bedeutung, nämlich: das Fleisch widersteht dem Geist, Satan widersteht Christus, und die Welt widersteht dem Vater (Gal 5; 1Mo 3; 1Joh 2). Fleisch, Satan und Welt – das sind unsere drei großen Feinde; und deshalb ist es so überaus wichtig zu wissen, auf wessen Seite wir stehen. Zum Beispiel: anstatt mich mit der Frage zu beunruhigen, wo die Welt anfängt und wo sie aufhört in dem, was man Weltlichkeit nennt, habe ich einfach zu fragen: „Ist es aus dem Vater?“ In Hunderten von Fällen wird es unmöglich sein zu sagen, wo die Weltlichkeit anfängt und wo sie endet, wenn man auf die Sache selbst blickt. Es fällt uns aber nicht schwer zu entscheiden, ob es „aus dem Vater“ ist. Und wenn wir finden, dass es nicht aus dem Vater ist, so ist die Frage entschieden; es muss dann von der Welt sein. Es gibt in dieser Beziehung keinen Mittelweg, keinen neutralen Boden. Die gleiche Regel gilt für die beiden anderen Feinde. Was nicht vom Geist ist, ist aus dem Fleisch, und was nicht von Christus ist, ist vom Satan.
Aber der Leser möchte vielleicht fragen: denkt die Braut im Hohenlied wohl an diese Dinge, wenn sie sagt: „Ich bin schwarz, aber anmutig“? Nein, in keinem Fall, da die jüdischen Erfahrungen stets einen mehr äußerlichen, zeitlichen und vorbildlichen Charakter tragen. Kehren wir deshalb nach dieser Abschweifung in praktische Einzelheiten zu unserem Text zurück. Die Schwärze, von der die Braut spricht, ist äußerlich, eine Verdunkelung der Hautfarbe – sie ist sonnenverbrannt; das Warnungswort des Propheten ist an ihr in Erfüllung gegangen: „Statt der Schönheit wird ein Brandmal sein“ (Jes 3,24). Und deswegen empfindet sie tief die neugierigen Blicke der Töchter Jerusalems, „Sehet mich nicht an, weil ich schwärzlich bin, weil die Sonne mich verbrannt hat.“ Es gab eine Zeit, wo die Tochter Zion schön und herrlich war, ein Ruhm auf der ganzen Erde. „Und dein Ruf ging aus unter die Nationen wegen deiner Schönheit; denn sie war vollkommen durch meine Herrlichkeit, die ich auf dich gelegt hatte, spricht der Herr, Herr“ (Hes 16,14).
Aber wegen ihrer Undankbarkeit und Untreue ist sie zu dem traurigen Zustand einer armen, sonnverbrannten Sklavin herabgesunken. Der Prophet Jeremia beschreibt ebenfalls in seinen „Klageliedern“ über die Versunkenheit Jerusalems in der rührendsten Weise, was Jerusalem früher war, und auch was es durch Trübsal und Bedrängnis geworden ist. „Ihre Fürsten waren reiner als Schnee, weißer als Milch; röter waren sie am Leib als Korallen, wie Saphir ihre Gestalt. Dunkler als Schwärze ist ihr Aussehen, man erkennt sie nicht auf den Straßen; ihre Haut klebt an ihrem Gebein, ist dürr geworden wie Holz“ (Klgl 4,7.8). Wohl mochte der Prophet in der Bitterkeit seiner Seele ausrufen: „Wie wurde verdunkelt das Gold, verändert das gute, feine Gold!“ (Klgl 4,1).
Ach, mein Leser, wenn das die schrecklich bösen, bitteren und schmerzlichen Früchte der Sünde schon in dieser Welt sind, während „die Barmherzigkeit sich rühmt wider das Gericht“, was müssen sie erst sein in der zukünftigen Welt, wo alle Hoffnung zu Ende ist und Verzweiflung sich jeder schuldigen Seele bemächtigt. Kannst du zum Kreuz zurückblicken und dort deine Sünden, alle deine Sünden gerichtet sehen, hinweggetan und in dem Grab ewiger Vergessenheit versunken? Gott und der Glaube allein kennen die Kraft jenes Kreuzes und rühmen seine ewige Wirksamkeit. Aber wenn du geglaubt hast und dich des Kreuzes rühmen kannst, so richte jetzt alles Böse in deinem Herzen und deinen Wegen schonungs- und rückhaltlos, in dem Bewusstsein, dass Christus einst dafür gerichtet worden ist. Das, was Christus am Kreuz zugerechnet wurde, wird dir nicht mehr zugerechnet werden. „Glückselig der Mensch, dem der Herr die Ungerechtigkeit nicht zurechnet und in dessen Geist kein Trug ist!“ (Ps 32).
Wenn ich sehe, dass die Sünde, über die ich traurig bin, durch Jesus getragen worden ist, und dass Er sie für immer hinweggetan hat durch das Opfer Seiner Selbst, so verschwindet aller Trug. Ich habe kein Verlangen mehr, meine Sünde zu verbergen, zu verkleinern oder zu entschuldigen. Sie ist hinweggetan auf dem Kreuz und ist nun vergeben kraft des Erlösungswerks. Angesichts einer solchen Liebe und Güte verschwindet alle Furcht. Ich bin frei und offenherzig, und ich kann nur den Herrn preisen für die grenzenlose Gnade, die Er mir bewiesen hat.
Das Wort „schwarz“ wird in der Schrift vielfach als bezeichnend für Trübsal, Schmerz und Verfolgung gebraucht. „Meine Haut“, sagt Hiob, „ist schwarz geworden und löst sich von mir ab, und mein Gebein ist brennend vor Glut“ (Hiob 30,30). Es ist in besonderer Weise so mit dem ungehorsamen Israel. Hier jedoch wird das Bekenntnis in lieblicher Weise mit dem Glauben an Christus verbunden und wird so (in moralischer Beziehung) der wahre Ausdruck aller Gläubigen. „Ich bin schwarz, aber anmutig.“ In mir selbst schwarz wie die Sünde, aber in Christus weißer als Schnee.
So wird die Sprache des gottesfürchtigen Überrestes in den letzten Tagen lauten, wenn er durch die ganze Tiefe der Trübsale Jakobs hindurchgegangen sein wird; wahrlich, er wird schwer geschlagen sein von der Gluthitze „der großen Drangsal“. Nicht allein werden die gläubigen Israeliten jener Tage von dem Antichristen, dem großen Bedränger, verfolgt werden, sondern sogar ihre eigenen Brüder nach dem Fleisch werden sich gegen sie wenden. „Hört das Wort des Herrn, die ihr zittert vor seinem Wort! Es sagen eure Brüder, die euch hassen, die euch verstoßen um meines Namens willen: Der Herr erzeige sich herrlich, dass wir eure Freude sehen mögen! Aber sie werden beschämt werden“ (Jes 66,5).
Daran denkt, wie es mir scheint, die nunmehr freudige Braut, wenn sie sagt: „Die Söhne meiner Mutter zürnten mir, bestellten mich zur Hüterin der Weinberge.“ Gleich einer zweiten Ruth werden die Weinberge, in denen sie gezwungen wurde zu arbeiten, ihr Eigentum. Und glücklich in der Liebe ihres großen Befreiers und reichen Herrn, kann sie jetzt freimütig von dem reden, was sie durchgemacht hat, und was sie noch immer in ihren eigenen Augen ist: „schwarz wie die Zelte Kedars, anmutig wie die Zeltbehänge Salomos.“
Die Söhne Ismaels benutzen, wie man sagt, die rauen, zottigen Felle ihrer schwarzen Ziegen zur äußeren Bedeckung ihrer Zelte, so dass diese für das Auge des Wüsten-Reisenden in den blendenden Strahlen der Sonne ein tiefschwarzes Aussehen haben. Und sicherlich, wenn der Mensch in seinem besten Zustand unter die unendlich helleren Strahlen der Sonne der Gerechtigkeit gestellt würde, so würde er noch viel schwärzer erscheinen als die Zelte der wilden Araber. Selbst von einer brennenden Lampe ist, wie jemand gesagt hat, in den hellen Sonnenstrahlen nicht viel mehr zu sehen als der schwarze Docht. Aber o glücklicher Gedanke! wenn auch das Gefühl unserer eigenen Unwürdigkeit uns noch besorgt machen sollte, so macht es unserem Herrn doch keine Sorgen mehr. Er hat unsere Unwürdigkeit ganz und für immer aus Seinen Augen entfernt. Und das Auge des Glaubens sieht, wie Er sieht. Das Urteil Gottes und das Urteil des Glaubens sind stets gleich. „Deswegen sage ich dir: Ihre vielen Sünden sind vergeben“ (Lk 7,47). „Das Blut Jesu Christi reinigt uns von aller Sünde“ (1Joh 1,7).
Die „Töchter Jerusalems“, die hier angeführt werden, sind ohne Zweifel unterschieden von der Braut, obgleich sie in naher Beziehung zu ihr stehen, wie wir dies aus der wichtigen Stellung entnehmen können, die sie in dieser herrlicher Szene haben. Wenn die Braut die geliebte Stadt Jerusalem vorstellt, den irdischen Sitz des großen Königs, so dürften die Töchter Jerusalems wohl die Städte Judas repräsentieren. Daraus können wir uns auch erklären, warum sie an so manchen Stellen auf den Schauplatz treten, obwohl sie niemals in der Wertschätzung des Königs die Stelle der Braut einnehmen. Nach dem Wort des Herrn muss Jerusalem immer den Vorrang haben. „Und nun habe ich dieses Haus erwählt und geheiligt, dass mein Name dort sei in Ewigkeit; und meine Augen und mein Herz sollen dort sein alle Tage“ (2Chr 7,16).