Behandelter Abschnitt Hld 1,8
„Wenn du es nicht weißt, du Schönste unter den Frauen, so geh hinaus, den Spuren der Herde nach, und weide deine Zicklein bei den Wohnungen der Hirten“ (Hld 1,8).
Die Antwort des Bräutigams auf die Frage der Braut in Vers 7: „Sage mir an, du, den meine Seele liebt, wo weidest du, wo lässt du lagern am Mittag?“ wird bereitwillig und deutlich erteilt, aber auch nichts mehr als das. Kein Beweis des Beifalls bezüglich der Fragen wird gegeben. Und doch sind es ohne Zweifel höchst wichtige und bedeutungsvolle Fragen.
Warum das? Ist der Geliebte nicht erfreut, solche Fragen aus dem Mund Seiner Geliebten zu vernehmen? Er sagt es nicht, so wichtig die Fragen auch.sein mögen. Er freut sich ihrer selbst und versichert sie Seines Wohlgefallens in den stärksten Ausdrücken: „du Schönste unter den Frauen!“ Seine Liebe ist unveränderlich die gleiche. Köstlicher Gedanke! Nichts von dem, was sie tut, nichts von dem, was andere über sie sagen, kann je die Liebe Seines Herzens zu Seiner Braut verändern, obwohl leider vieles von ihr gesagt und getan wird, was Er nicht billigen kann. Der Gläubige ist persönlich vollkommen in Christus, vollkommen in den Augen Gottes. Er ist „gerechtfertigt von allem“ (Apg 13,38.39); praktisch aber ist er voller Mängel.
Im vorliegenden Fall ist die Anrede des Bräutigams an die Braut und Seine Antwort auf ihre Fragen von einem anderen Geist durchweht. Woher mag das kommen? frage ich nochmals. Wünschen wir nicht die Gedanken des Meisters zu kennen? O wie kostbar ist ein heller Strahl des Lichts des Heiligen Geistes auf die geheiligten Urkunden! Dann werden wir nicht nur den Buchstaben der Schrift verstehen, sondern auch die Gedanken und Gefühle des Herzens, aus dem sie hervorgeflossen ist. Lernen wir denn, dass einem Beifall in der Heiligen Schrift niemals Ausdruck gegeben wird, es sei denn im Zusammenhang mit Wahrheit und Heiligkeit. O wie oft bitten wir um das, was wir schon haben! Wie oft bitten wir um Licht und Leitung betreffs unseres Weges, während das Licht eines wolkenlosen Himmels den Pfad bestrahlt, den wir gehen sollten. Gibt es nicht etwas in dem Wörtchen „wenn“, was anzudeuten scheint, dass der Herr von Seiner Braut erwartete, dass sie die Spuren der Herde kenne? Es ist, als ob Er sagte: „Gewiss, du kennst sie. Meine Gedanken über alle diese Fragen, als der Hirte Israels, liegen offen vor dir. Warum liest und verstehst du sie nicht?“ Der Herr tadelt nicht, doch Seine Liebe ist treu. So sagte Er einst auch zu Philippus: „So lange Zeit bin ich bei euch, und du hast mich nicht erkannt, Philippus?“ Ach, wie zärtlich leitet Er! Wie sanft und gelinde sind selbst die Verweise Seiner Liebe!
Christliche Gemeinschaft, wie sie im Worte gelehrt wird, wird oft von jungen Bekehrten sehr wenig beachtet und geschätzt. Sie gehen im Allgemeinen den Weg, der am bequemsten und angenehmsten für sie ist, ohne dass ihr Gewissen jemals geübt wird über die Frage, ob sie auch den Spuren der Herde nachfolgen. Vielleicht sind sie auf dem richtigen Weg; aber sie haben nie unter Gebet das Wort Gottes untersucht, um sich über diesen Punkt Gewissheit zu verschaffen. Wäre die Kirche ungeteilt geblieben, wie sie es am Pfingsttag war, so würde eine solche Übung und Untersuchung nicht nötig sein. Da aber die bekennende Kirche sich in so viele Parteien und Teile gespalten hat, geziemt es jedem Kind Gottes, die Schrift zu untersuchen, um so den heiligen Willen Gottes zu erkennen und zu tun.
Es ist eine betrübende Erscheinung, dass viele der Geliebten des Herrn diesen Gegenstand für unwichtig und unwesentlich halten. Dieser Gedanke entstammt nimmermehr der Bibel. Es ist höchst verunehrend für Gott und nachteilig für die Seele. Die Prüfungen, durch die wir die Braut in den verschiedenen Abschnitten des Hohenliedes gehen sehen, scheinen ganz und gar daher zu kommen, dass sie die Unterweisungen vernachlässigt hat, die ihr hier gegeben werden. Wir sagen wohl nicht zu viel wenn wir behaupten, dass nach der Errettung der Seele die nächstwichtige Frage die der kirchlichen Gemeinschaft ist. Wenn ein Christ bezüglich dieses Punktes gleichgültig ist, wenn ihm nicht viel daran liegt, den Willen des Herrn in dieser Hinsicht zu kennen, so wird er sicher seinem eigenen Willen folgen. Und was muss dann die Folge sein? Gott wird Seiner Ehre beraubt, man setzt Sein Wort beiseite und folgt nicht dem Meister nach, der Geist wird betrübt, und die Seele verliert ihre Frische. Unter solchen Umständen nimmt die „erste Liebe“ bald ab, und Friede und Freude machen allerlei Befürchtungen und Zweifeln Platz.
Wir glauben, dass verhältnismäßig nur wenige Gläubige lange in göttlicher Frische ihre erste Liebe bewahren. Das lebendige Bewusstsein der „großen Liebe“ des Herrn zu uns, und wie Er allen unseren Bedürfnissen entgegengekommen ist, verliert sehr bald seine Kraft. Wir verlassen unsere erste Liebe. Und warum ist das so? Statt zuzunehmen in der Erkenntnis des Herrn und zu suchen, Ihm allein zu gefallen, wählen wir unseren eigenen Weg, folgen unserem eigenen Willen und betrüben dadurch den Heiligen Geist; und die Folge ist, dass Dunkelheit unsere Herzen beschleicht; das Licht ist sozusagen ausgeschlossen, und wir werden schwach und ungewiss bezüglich aller Dinge.
Der Herr spricht in Mt 11 von zwei Arten von Ruhe, worüber hier eine Bemerkung wohl am Platz sein mag.
„Kommt her zu mir, alle ihr Mühseligen und Beladenen, und ich werde euch Ruhe geben“.5 Diese Ruhe ist die unmittelbare Gabe Seiner Liebe durch den Glauben an Ihn. Alle Gläubigen, ohne Ausnahme, besitzen diese Ruhe. Alle unsere mühsamen und fruchtlosen Anstrengungen nach Errettung hören auf, wenn wir zu Jesus kommen, und die schwere Last der Sünden, unter der wir seufzten, wird für immer weggenommen.
Aber der Herr sagt weiter: „Nehmt auf euch mein Joch und lernt von mir, denn ich bin sanftmütig und von Herzen demütig, und ihr werdet Ruhe finden für eure Seelen.“6 Ruhe des Gewissens gibt Er durch die Vergebung unserer Sünden, wenn wir an Ihn glauben; Ruhe des Herzens finden wir im Gehorsam und in der Unterwürfigkeit unter Seinen Willen. „Nehmt auf euch mein Joch und lernt von mir . . . und ihr werdet Ruhe finden“. – Ruhe und Frieden in jeder Lage, wie schwierig sie auch sein möge. Diese Schriftstelle erklärt uns, warum so viele Seelen schon kurz nach der ersten Freude über ihre Bekehrung in Unruhe geraten, und warum sie, obgleich sie sich der Vergebung ihrer Sünden bewusst sind, unruhig und unglücklich werden, sobald sich Schwierigkeiten einstellen. Man verliert aus dem Auge, Christus in den Einzelheiten des täglichen Lebens unterwürfig zu sein und von Ihm zu lernen. Unter demselben Joch mit Christus sein bedeutet, an Seiner Seite und Schritt für Schritt mit Ihm zu wandeln. „Nehmt auf euch mein Joch.“
Das ist in der Tat ein Wandeln in Seiner unmittelbaren Nähe; und wenn es so mit uns ist, werden wir sicher „Ruhe finden“, denn alle unsere Schwachheit fällt dann auf Ihn. Wenn zwei zusammengejocht sind, kann der Stärkere den Schwächeren unterstützen; und sicherlich braucht der schwächste Christ, wenn er in demselben Joch mit Jesus, dem Starken, ist, keine Schwierigkeiten zu fürchten. Alle unnützen Befürchtungen werden vor Seiner Gegenwart verschwinden, und die Räder unseres Wagens werden sich leicht durch den tiefen Sand der Wüste fortbewegen.
Aber es könnte eingewendet werden, dass dies alles klar genug erscheine, sofern es unseren persönlichen Wandel und unsere persönliche Heiligkeit betreffe, dass aber unser Pfad und unsere Stellung in kirchlicher Hinsicht nicht so klar offenbart seien. Nichts würde jungen Christen weniger geziemen, als wenn sie über die verschiedenen Benennungen der bekennenden Christenheit urteilen wollen; aber allen, sowohl jungen als alten, liegt es ob, die Gedanken Gottes über diesen Gegenstand zu erforschen. Wir haben eine persönliche und auch eine korporative Verantwortlichkeit, und das Wort des Herrn unterrichtet uns über die eine so deutlich wie über die andere.
Nichts könnte einfacher und klarer sein, wenn es sich um den Gegenstand der kirchlichen Gemeinschaft handelt, als Mt 18,20: „Wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich in ihrer Mitte.“ Hier haben wir in klaren Worten die wahre Grundlage aller christlichen Gemeinschaft – Christus der Mittelpunkt, und die Gläubigen durch den Geist zu Ihm hin versammelt. Beachten wir wohl, dass es nicht heißt: wo zwei oder drei sich versammeln, oder wo zwei oder drei zusammenkommen, sondern wo zwei oder drei versammelt sind. Das deutet hin auf eine versammelnde Kraft; es ist nicht die bloße Wahl oder Wirksamkeit des menschlichen Willens. Der Heilige Geist ist, wie wir alle wissen, die Kraft, die zu dem Namen Jesu hin versammelt (Vergl. Joh 14 und Joh 16). Christus ist der Mittelpunkt Gottes, Sein Geist ist die Kraft, die zu diesem Mittelpunkt hin versammelt, und Seine Kinder sind die, die versammelt sind. Das ist die Kirche Gottes. Und das ist es, wonach wir zu trachten haben, nicht allein im Wort und im Geist, sondern auch in einer verkörperten Form.
Als unser hochgelobter Herr im Begriff stand, Seine Jünger zu verlassen, sagte Er: „Ich werde den Vater bitten, und er wird euch einen anderen Sachwalter geben, dass er bei euch sei in Ewigkeit, den Geist der Wahrheit, den die Welt nicht empfangen kann, weil sie ihn nicht sieht, noch ihn kennt. Ihr aber kennt ihn, denn er bleibt bei euch und wird in euch sein“ (Joh 14,16.17). Hier haben wir die sammelnde, bildende und erhaltende Kraft der Kirche Gottes.
Im Blick auf die Gegenwart des Heiligen Geistes in der Kirche sind besonders drei Punkte bemerkenswert: 1. „dass er bei euch sei in Ewigkeit „; nicht für eine gewisse, begrenzte Zeit, wie es der Heiland Selbst gewesen war, sondern „für immer“. 2. „Er bleibt bei euch“; als Versammlung werdet ihr Ihn „bei euch“ haben; und 3. „Er wird in euch sein“ – wohnend in jedem Gläubigen persönlich. Die gleichen köstlichen Wahrheiten wurden später in der deutlichsten Weise durch den Apostel in seinen Briefen gelehrt: „Wisst ihr nicht, dass euer Leib der Tempel des Heiligen Geistes ist, der in euch wohnt?“ (1Kor 6,19). „In dem auch ihr mitaufgebaut werdet zu einer Behausung Gottes im Geist“ (Eph 2,22). Wunderbare, köstliche, gesegnete Wahrheit: der Geist „in euch“, „bei euch „, „für immer!“ O wie überschwänglich reich ist die Mitgift der Braut des Lammes!
Wenden wir jetzt einen Augenblick unsere Aufmerksamkeit einer praktischen Erläuterung von Mt 18,20 zu: „Als es nun Abend war an jenem Tag, dem ersten der Woche, und die Türen, wo die Jünger waren, aus Furcht vor den Juden verschlossen waren, kam Jesus und stand in der Mitte und spricht zu ihnen: Friede euch! . . . Und als er dies gesagt hatte, hauchte er in sie und spricht zu ihnen: Empfangt den Heiligen Geist“ (Joh 20,19-22). Hier haben wir ein wahres und liebliches Bild von der Versammlung Gottes. Christus in der Mitte, der Mittelpunkt, und die Jünger versammelt um den auferstandenen Jesus. Friede, Anbetung, Dienst und der Geist der Kindschaft charakterisierten sie. Eine Versammlung, die auf diesem göttlichen Boden versammelt ist, wird nicht nur Christus in ihrer Mitte anerkennen, sondern auch den Heiligen Geist als ihren unumschränkten Leiter und als die Quelle aller Auferbauung und Ermunterung. Die so Versammelten werden auf den Herrn schauen, damit sie geleitet werden mögen durch Seinen Geist zur Verherrlichung Gottes (vergl.1Kor 12 und 1Kor 14).
Wenn wir nun eine so klare Vorschrift und ein so deutliches Beispiel vor uns haben, ist es dann noch nötig, den Herrn zu fragen, wo Er Seine Herde weide? Was könnte Er mehr sagen, als Er uns bereits gesagt hat? Es mag mir unmöglich sein, die Unterschiede zwischen der einen und anderen Kirchenpartei aufzuzählen, aber ich brauche nicht im Unklaren darüber zu sein, ob eine von ihnen in Übereinstimmung mit dem Wort Gottes ist, das so deutlich Seinen Willen offenbart. Vielmehr sollte ich Ihn bitten, mich vor jedem Nebenpfad zu bewahren, und mich nicht meinem eigenen Willen folgen zu lassen, sondern durch Seinen Heiligen Geist in den Wegen der Wahrheit zu leiten. Und, mein lieber christlicher Leser, lasst es uns nie vergessen, dass Er versichert hat da zu sein, wo Seine Jünger zu Seinem Namen hin versammelt sind. Dort ist die Stätte ihrer Ruhe und Weide. Seine Gegenwart ist genug, um die Seele bis zum überfließen zu füllen. „Fülle von Freuden ist vor deinem Angesicht…“ (Ps 16,11). Ein anziehender Dienst, glänzende und bezaubernde Zeremonien, angenehme Verbindungen sind nicht Christus. Was ich begehre, was mir Not tut, ist da zu sein, wo der Glaube mit Gewissheit sagen kann: Christus Selbst ist gegenwärtig.
Wie lieblich, wenn Jesus die Seinigen findet Um Ihn, den Gekreuzigten, dankbar vereint; Wenn innige Liebe die Herzen verbindet, Und Tränen der Freude das Auge nur weint! Ihr Danken und Loben Steigt jubelnd nach oben, zu Dem, der den Sohn, den geliebten, geschenkt, mit Vatergefühlen der Seinen gedenkt.
Wie lieblich, wenn Brüder in Eintracht und Frieden Sich sonntäglich scharen zum herrlichsten Mahl; Den Tod ihres Herrn zu verkünden hienieden, mit Ihm in der Mitte, wie klein auch die Zahl! Sie rühmen und preisen in lieblichen Weisen den Gott, der so Großes an ihnen getan, Dem sie als Erlöste und Kinder nun nah‘n.
„Weide deine Zicklein bei den Wohnungen der Hirten.“ Nachdem wir den wahren Boden und Charakter christlicher Gemeinschaft aus dem Worte kennen gelernt haben, sind wir verantwortlich, auch die Jüngeren unter uns auf diese Wege zu leiten, zu den Spuren der Herde Gottes. Göttliche Nahrung für jung und alt ist nur dort zu finden. Das Lämmlein lernt bald den Fußtapfen seiner Mutter folgen und auf derselben Weide sich nähren. Der königliche Hirte Israels sorgt für die Lämmer Seiner Herde. „Er wird seine Herde weiden wie ein Hirte, die Lämmer wird er in seinen Arm nehmen und in seinem Schoß tragen, die Säugenden wird er sanft leiten“ (Jes 40,11). Er sorgte für die Schwächsten Seiner Herde, als Er Sein Volk Israel aus Ägypten und durch das Rote Meer leitete. Nicht eine Klaue durfte zurückbleiben (2Mo 10,26). Und Speise fand sich für alle rund um ihre Zelte her an jedem Morgen, solange sie durch die dürre, schreckliche Wüste zogen.
Unser guter Herr will es auch jetzt so haben in den Versammlungen Seiner Heiligen. Und da, wo der Heilige Geist in Seiner Wirksamkeit frei und ungehindert ist, wird Er sicherlich Milch für die Unmündigen und feste Speise für die Erwachsenen darreichen. Von der Kirche wird gesagt, dass sie die Wohnung, das Zelt oder die Behausung Gottes sei (Eph 2,22). Zu diesem Zelt hin, in dem Gott Selbst zu wohnen Sich herabgelassen hat, möchten wir alle Lämmer Jesu versammelt sehen; das ist unser Flehen zu Gott. O dass die Gegenwart des Herrn eine größere Anziehungskraft für die Herzen besäße als alles andere! Höre Ihn sagen, mein lieber Leser: „da bin ich in ihrer Mitte!“ und sei auch du da, wo Jesus ist! Wer oder was könnte Ihn ersetzen? Was wäre die schönste Versammlung auf Erden ohne Ihn? Ja, was würde der Himmel selbst sein ohne Seine Gegenwart? Ein leerer Raum! Doch was ist die Wüste mit Seiner Gegenwart? Das Paradies Gottes. Stets und überall ist Seine Gegenwart die Stätte des Segens, der Freude und des Glücks. Möge unser treuer Gott und Vater die vielen teuren Lämmer Christi in diesen letzten Tagen aus allen menschlichen Höfen und Umzäunungen hinausführen und sie als die eine wahre Herde sammeln um den Hirten und Aufseher unserer Seelen!