Behandelter Abschnitt Hld 1,4
„Zieh mich: wir werden dir nachlaufen“ (Hld 1,4a)
Je mehr wir von Christus kennen, desto größer wird unser Verlangen sein, noch mehr von Ihm kennen zu lernen. Je näher wir Ihm sind, desto mehr werden wir wünschen, Ihm noch näher zu kommen. Wie Paulus sagt: „um ihn zu erkennen“ (Phil 3,10), und doch kannte Ihn niemand auf Erden so gut wie er. Und wieder: „damit ich Christus gewinne“, und doch war nie ein Heiliger seines Kampfpreises sicherer als Paulus. Obwohl er ein Gefangener zu Rom war und Mangel litt, konnte er in Wahrheit sagen: „Das Leben für mich ist Christus und das Sterben Gewinn“ (Phil 1,21). O welch eine reiche Erfahrung, welch ein ruhiges Vertrauen, welch eine tiefe, keine Grenzen kennende Freude strahlt aus seinem Briefe an die Philipper hervor!
Die Fülle der Segnungen, die es in Christus für uns gibt, ist so unendlich, dass, je mehr wir sie erfassen, wir umso mehr erkennen, wie wenig wir sie noch erfasst haben. Je mehr wir von der Wirklichkeit und Fülle Seiner Liebe schmecken, desto mehr werden wir imstande sein, in Wahrheit auszurufen, dass sie alle Erkenntnis übersteigt. Da sind Breiten und Längen und Tiefen und Höhen, die wir niemals erfassen und ergründen werden.4 Und die Freude, die in Seiner Gegenwart geschmeckt wird, ist eine solche Freude, dass das Herz, selbst indem es sie genießt, sich nach größerer Nähe sehnt, ja, dass es das Gefühl hat, als wenn es sich verhältnismäßig noch in einer gewissen Entfernung von Ihm befände.
Gerade aus den Worten der liebenden Braut: „Ziehe mich: wir werden dir nachlaufen“, scheint hervorzugehen, dass ihr Verlangen nach der Nähe der Person des Herrn so groß war, dass sie, so nahe und teuer sie auch sein mochte, doch noch etwas wie eine Entfernung von Ihm wahrnahm. Darum der tiefe Wunsch ihres Herzens: „Ziehe mich“ – „O ziehe mich näher, inniger, Herr, zu Dir“! Wenn wir diesen Vers mit dem Inhalt des zweiten Verses vergleichen, so ist offenbar ein Wachstum in der Gnade zu erkennen, eine wachsende Erkenntnis Seiner Selbst. Ein größeres Verlangen nach innigerer Gemeinschaft gibt sich kund, ähnlich wie wir es in vielen Psalmen finden: „Gott, du bist mein Gott!
Früh suche ich dich. Es dürstet nach dir meine Seele, nach dir schmachtet mein Fleisch in einem dürren und lechzenden Land ohne Wasser... Meine Seele hängt an dir, es hält mich aufrecht deine Rechte“ (Ps 63). Die gesegnetste Gemeinschaft mit dem Herrn steht immer in Übereinstimmung mit dem heißesten Verlangen nach größerer Nähe zu Ihm. Kannst du das bestätigen, mein lieber Leser? Kennst du es aus eigener Erfahrung? Prüfe alle deine Worte und Wege vor dem Herrn und lass dein Urteil über sie ergehen; der Heilige Geist sagt uns, dass die Worte des Herrn reine Worte sind, geläutert in dem Schmelztiegel, „siebenmal“ gereinigt. Ach, wie oft sprechen und schreiben wir, ohne unsere Worte auch nur ein einziges Mal zu läutern! Es besteht ein herrlicher Zusammenhang zwischen dem Ziehen des Herrn und unserem Nachlaufen.
„Wir werden dir nachlaufen.“ Beachten wir sorgfältig die Worte: „dir nach“! In diesen Worten ist viel mehr enthalten, als man zu sagen vermöchte; sie sind von der größten Bedeutung. „Dir nach“, nicht unseren eigenen Meinungen nach, oder selbst den besten Menschen auf Erden nach, sondern „dir nach“. Wie es in dem herrlichen Ps 16 heißt: „Ich habe den Herrn stets vor mich gestellt.“ Nicht nur zu gewissen Zeiten, sondern „stets“. O welch einen Pfad würden wir auf Erden wandeln, wenn das stets bei uns der Fall wäre! Wie abgesondert würde er von allem sein, was nicht Christus ist! Und sicherlich, wenn wir bitten: „Ziehe mich“, so sollten wir auch bereitwillig hinzufügen können, wie die Braut und ihre Gefährtinnen es tun: „wir wollen dir nachlaufen“.
Doch noch ein anderer köstlicher Gedanke ergibt sich aus dem Gegenstand unserer Betrachtung. Der, welcher zieht, geht voran. So geht der Herr vor Seinem Volk her in der Wüste, und sieht die Gefahren und begegnet ihnen, bevor die Seinigen zu ihnen gelangen. Viele Gefahren sind da, von denen wir durch Jesus befreit werden, ohne dass wir sie nur kennen lernen. „Wenn er seine eigenen Schafe alle herausgeführt hat, geht er vor ihnen her, und die Schafe folgen ihm“ (Joh 10,4). Der Feind mag uns auf dem Weg, den wir zu gehen gedachten, eine Schlinge gelegt haben; aber unser göttlicher Führer erkennt die Schlinge und führt uns einen anderen Weg, leitet uns nach einer anderen Richtung, und so sind wir der Schlinge, die uns hätte verhängnisvoll werden können, entgangen. Und dabei fühlen wir uns vielleicht getäuscht und sind unzufrieden, weil uns ein Hindernis das vorgenommene Ziel nicht erreichen ließ. – Anbetungswürdiger Herr! möchten wir doch allezeit und allein „dir nachlaufen“!
„Der König hat mich in seine Gemächer geführt: wir wollen frohlocken und uns an dir freuen, wollen deine Liebe preisen mehr als Wein. Sie lieben dich in Aufrichtigkeit“ (Hld 1,4b).
Hier haben wir das Resultat, die gesegneten Früchte des Ziehens und des Nachlaufens. Das Gebet war der Ausdruck bewusster Schwäche und Abhängigkeit, verbunden mit heiligem Fleiß. Die Jungfrauen sind rüstig gelaufen und haben das Ziel erreicht. Und nun finden wir sie in den Gemächern des Königs, gekrönt mit Freude und Fröhlichkeit. Aber vergessen wir es nie: es ist Gnade, die zieht, Gnade, die nachläuft; Gnade, die krönt; und dies alles fließt hervor aus dem endlosen Ozean der Liebe des Heilands. „Wir wollen deine Liebe preisen mehr als Wein.“ Jetzt gebraucht die Braut das Wort „preisen“. Sie hatte Seine Liebe schon vorher erkannt, aber sie erfreut sich ihrer jetzt mit wachsendem Interesse, sie preist sie in bewusstem Genuss. Sie ist von ihr umgeben wie von der Luft, ist ganz in sie eingeschlossen. „Der König hat mich in seine Gemächer geführt.“
Aber warum wird wohl Christus hier „der König“ genannt? Weil hier in prophetischer Weise von Seinen Beziehungen zu Israel nach dessen Wiederherstellung die Rede ist. Wenn es sich um die Rechte und Titel des Herrn handelt, so ist Er stets der König. Aber wird Er jemals der König der Kirche genannt? Nirgends in der ganzen Heiligen Schrift. Er ist ein König und aller Ehrerbietung würdig, aber die Schrift spricht von Ihm als dem Haupt Seines Leibes, der Kirche, und als dem König der Juden. Als solcher kam Er zuerst in Niedrigkeit und Gnade auf diese Erde herab und stellte Sich der Tochter Zion dar. Aber ach! sie wollte nichts von Ihm; Er wurde verachtet und verworfen, gekreuzigt und getötet. Aber Gott weckte Ihn auf aus den Toten und gab Ihm Herrlichkeit, wodurch Seine Rechte und Titel, nicht allein als König der Juden, sondern auch als Haupt Seines Leibes, der Kirche, und als Mittelpunkt aller zukünftigen Herrlichkeit, gewahrt wurden (vergl. Sach 9; Joh 12; Apg 2; Eph 1; Phil 2). Die Juden schrieen: „Hosanna! Gepriesen sei, der da kommt im Namen des Herrn, der König Israels!“ (Joh 12,13) und fast im gleichen Atemzug: „Hinweg, hinweg! kreuzige ihn!“ Ach! so kurz ist die Dauer menschlicher Volkstümlichkeit. Die Juden machten auf diese Weise das Maß ihrer Sünden voll, und ihre Beziehungen zu Gott wurden abgebrochen. Der Messias wurde abgeschnitten, das Zeugnis des Heiligen Geistes verworfen, und für den Augenblick war im Blick auf das Reich alles dahin.
Dennoch wird das Wort des Herrn feststehen in Ewigkeit. Der Unglaube und die Sünde des Menschen können die Treue Gottes nicht aufheben. In dem durch Christus vollbrachten Erlösungswerk wurde die Grundlage gelegt für die spätere Wiederherstellung Israels in Gnaden, gemäß den unveränderlichen Ratschlüssen Gottes, und um die Kinder in den vollen Besitz und Genuss der Segnungen einzuführen, die den Vätern einst verheißen waren. „Denn ich sage, dass Christus ein Diener der Beschneidung geworden ist um der Wahrheit Gottes willen, um die Verheißungen der Väter zu bestätigen“ (Röm 15,8). Nichts könnte klarer und deutlicher sein als die prophetischen Erklärungen des Wortes Gottes bezüglich der zukünftigen Herrschaft des Herrn Jesus in Verbindung mit dem Thron Davids und dem ganzen Hause Israels. Sicher wird sich Seine Herrschaft und Herrlichkeit nicht auf die wiederhergestellten Stämme und das Land Israel beschränken; aber Jerusalem und die Städte Judas werden der irdische Mittelpunkt Seines Tausendjährigen Reiches sein, so wie das himmlische Jerusalem, die Stadt des lebendigen Gottes, den himmlischen Mittelpunkt der vielen Kreise Seiner himmlischen Herrlichkeit bilden wird (Heb 12,22-24).
Da wir einmal von „dem König“ reden, so lasst uns noch einen Augenblick bei den Prophezeiungen verweilen, die Ihn uns in diesem Charakter vor Augen stellen. „Denn ein Kind ist uns geboren, ein Sohn uns gegeben, und die Herrschaft ruht auf seiner Schulter. Und man nennt seinen Namen: Wunderbarer, Berater, starker Gott, Vater der Ewigkeit, Friedefürst. Die Mehrung der Herrschaft und der Friede werden kein Ende haben auf dem Throne Davids und über sein Königreich, um es zu befestigen und zu stützen durch Gericht und durch Gerechtigkeit, von nun an bis in Ewigkeit. Der Eifer des Herrn der Heerscharen wird dieses tun“ (Jes 9,5.6). Diese alte Prophezeiung, die der Eifer des Herrn der Heerscharen zu seiner Zeit voll und ganz erfüllen wird, wurde ihrem wesentlichen Inhalt nach durch den Engel Gabriel wiederholt, als er mit der Botschaft zu Maria kam: „Du wirst einen Sohn gebären, und du sollst seinen Namen Jesus heißen. Dieser wird groß sein und Sohn des Höchsten genannt werden; und der Herr, Gott, wird ihm den Thron seines Vaters David geben; und er wird über das Haus Jakobs herrschen in Ewigkeit, und sein Reich wird kein Ende haben“ (Lk 1,31-33). Schier unzählig sind die Prophezeiungen, die diesen Gegenstand behandeln, aber ihrer vollen, endgültigen Erfüllung noch harren.
Aber war nicht der Herr in alten Zeiten schon König in Jerusalem? Sicher und gewiss. Von der Zeit der Befreiung Israels aus Ägypten bis zu den Tagen Samuels war der Herr Israels König. Dann aber verlangte das Volk einen König gleich den übrigen Nationen, die um sie her wohnten, und es verwarf den Herrn als seinen König. Gott entsprach ihrem Verlangen und gab ihnen einen König; aber die Sache endete, wie alles andere bei Israel unter dem Gesetz, in vollständigem Misslingen. Die ganze Geschichte Israels, von den Ufern des Roten Meeres bis zum Kreuz auf Golgatha oder bis zur Steinigung des Stephanus, ist nichts anderes als ein beständiges Misslingen und Fehlschlagen, und zwar in jeder Beziehung und unter allen Umständen. Mögen wir Israel unter dem Gesetz betrachten, oder als den Weinstock, den Gott aus Ägypten in das Land Kanaan verpflanzte, oder als die verehelichte Frau und als Gottes Zeugnis auf der Erde – wir finden nicht allein ein beständiges Fehlen, sondern das Volk wurde auch unverbesserlich in seinen Sünden. Darum kam schließlich Gottes gerechtes Gericht über sie. Ihre geliebte Stadt Jerusalem wurde von Heeren umlagert, ihr Tempel und die heilige Stadt dem Erdboden gleichgemacht, und die, die der Schärfe des Schwertes entrannen, wurden in alle vier Winde zerstreut.
Von jenem Tage an bis auf unsere Zeit ist der Zustand Israels „öde und verlassen“. Es wird aber nicht immer so bleiben. Wir müssen stets im Auge behalten, dass ein großer Unterschied besteht zwischen den Regierungswegen Gottes mit Seinem Volk und Seinen Wegen in Gnade. Unter der gerechten Regierung Gottes haben die Juden, infolge ihrer Sünden und ihrer Unbußfertigkeit, bisher unter Seiner züchtigenden Hand gestanden und sie stehen noch heute darunter; aber die Gnade und Liebe Seines Herzens zu ihnen bleiben unveränderlich dieselben. Beachten wir die Bedingungen des Bündnisses: „Und ich werde die Nachkommen Davids deswegen demütigen, doch nicht für immer“ (1Kön 11,39). Das ist ein Grundsatz von außerordentlicher Bedeutung, nicht nur im Blick auf Israel und die Kirche, sondern auch was den einzelnen Gläubigen betrifft. Auf diesen großen Grundsatz bezieht sich der Apostel, wenn er von Israels Verwerfung und Wiederherstellung redet: „Sie sind ausgebrochen worden durch den Unglauben . . . ; hinsichtlich der Auswahl aber sind sie Geliebte, um der Väter willen. Denn die Gnadengaben und die Berufung Gottes sind unbereubar“ (Röm 11,20.28-29).
Der gegenwärtige Zustand und die zukünftige Wiederherstellung der Juden werden auch in rührender Weise durch den Propheten Hosea beschrieben: „Denn die Kinder Israel werden viele Tage ohne König bleiben und ohne Fürsten, und ohne Schlachtopfer und ohne Bildsäule, und ohne Ephod und Teraphim. Danach werden die Kinder Israel umkehren und den Herrn, ihren Gott, und David, ihren König, suchen; und sie werden sich zitternd zu dem Herrn wenden und zu seiner Güte am Ende der Tage“ (Hos 3,4.5). Herrlicher Gedanke! Sie werden nochmals „den Herrn, ihren Gott, und David, ihren König, suchen“. Und was ist das Hohelied Salomos anders als die immer von neuem wiederholte Zusicherung an den Überrest, dass die Zuneigung des Königs zu ihm unveränderlich sei? Der gottesfürchtige Überrest in den letzten Tagen kann Seine Liebe in diesem Lied lesen – die unermüdliche, nichts vorwerfende, treu ausharrende Liebe „des Herrn, ihres Gottes, und Davids, ihres Königs“.
In der Vergangenheit haben sie alle das Gesetz gebrochen; in der Zukunft werden sie alle wiederhergestellt werden auf Grund der Gnade. In der Vergangenheit standen sie auf dem Boden eines mit Bedingungen verknüpften Bündnisses; in der Zukunft werden sie auf dem Boden der bedingungslosen Gnade Gottes stehen. Der Wert des Opfers ihres einst verworfenen Messias und die Fülle der Liebe Gottes werden das Maß ihrer Segnungen bilden. Wer aber könnte ermessen, was unermesslich ist? Und so wird die Liebe des Königs zu Seiner jüdischen Braut unermesslich sein, ohne Schranken!
Das Buch Ruth gibt uns in sehr einfacher und wahrhaft rührender Weise eine bildliche Erläuterung von dem vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Zustand Israels. Aus dem Eheleben Noomis blieb kein Same übrig. „Nennt mich nicht Noomi (Lieblichkeit)“, sagt sie, „sondern nennt mich Mara (Bitterkeit), denn der Allmächtige hat es mir sehr bitter gemacht.“ (Ruth 1,20) Ihr Mann Elimelech (was bedeutet: mein Gott ist König) und ihre beiden Söhne waren im Lande Moab gestorben. Noomi war jetzt eine Witwe, einsam, ohne Nachkommen und ohne alle Hilfsquellen. – „Nennt mich Mara . . . Voll bin ich gegangen, und leer hat mich der Herr zurückkehren lassen.“ (Rt 1,21) Welch ein treffendes Bild von der jüdischen Nation, die Gott als ihren König und Ehemann verloren hat und nun einsam und eine Witwe ist!
Aber ein schwacher Überrest in der Person der sanften und demütigen Ruth hängt Noomi an und sucht Schutz unter den Flügeln des Gottes Israels. „Glückselig die Sanftmütigen, denn sie werden das Land ererben!“ (Mt 5,5). Das Feld, das sie als eine arme Nachleserin betrat, wurde ihr Eigentum. Aber der nächste Anverwandte weigerte sich, das Erbteil zu lösen, wenn er zu gleicher Zeit Ruth zur Frau nehmen musste. Die Angelegenheit wurde in Gegenwart von zehn Zeugen geordnet (Rt 4,1-12). Diese zehn Männer aus der Stadt mögen vorbildlich an die zehn Gebote erinnern, welche gegeben waren, bevor Christus kam; aber es gab keine Frucht für Gott unter dem Gesetz (Vergl. Röm 7,1-4).
Boas (was bedeutet: in ihm ist Stärke) nimmt sich jetzt mit ganzem Herzen der Sache des schwachen Überrestes von Elimelechs Haus an. Er ist ein Vorbild des auferstandenen Christus, der als „Sohn Gottes in Kraft erwiesen worden . . . ist durch Toten-Auferstehung“ (Röm 1,1-4). Was dieses Gemälde so überaus schön macht, ist der Umstand, dass Ruth keine unmittelbaren Ansprüche an Boas hatte. Er war nicht der nächste Verwandte; darum war sein Tun gänzlich Gnade. Israel sowohl als auch die Heiden können das Erbteil nur besitzen aus reiner Gnade. „Und Ruth gebar einen Sohn. . .; und Noomi nahm das Kind und legte es auf ihren Schoß und wurde seine Wärterin. Und die Nachbarinnen gaben ihm einen Namen, indem sie sprachen: Ein Sohn ist der Noomi geboren“ (Ruth 4,13.16.17).
Rührende Szene! Liebliche Gnade! Das Herz der Witwe wird froh gemacht und singt wie in den Tagen ihrer Jugend. Die Einsame ist sozusagen die Mutter von Kindern geworden. Der beraubte Schoß ist wieder mit einem lebenden Erben gesegnet. Alles ist Freude. So haben wir hier ein überaus liebliches Vorbild von der künftigen vollständigen Wiederherstellung Israels zu Ehren, Herrlichkeit und Würden im Lande. Der wahre Boas wird über kurz oder lang die Sache des gottesfürchtigen Überrestes in Seine Hand nehmen und Israel im Land wieder aufrichten auf einem ganz und gar neuen Boden.
Dieser Wahrheit begegnen wir in zahlreichen anderen Stellen der Heiligen Schrift. Z. B. in Jes 62,2-4: „Und die Nationen werden deine Gerechtigkeit sehen, und alle Könige deine Herrlichkeit; und du wirst mit einem neuen Namen genannt werden, den der Mund des Herrn bestimmen wird. Und du wirst eine prachtvolle Krone sein in der Hand des Herrn und ein königliches Diadem in der Hand deines Gottes. Nicht mehr wird man dich „Verlassene“ nennen, und dein Land nicht mehr „Wüste“ nennen; sondern man wird dich nennen: „Mein Gefallen an ihr“, und dein Land: „Vermählte“; denn der Herr wird Gefallen an dir haben, und dein Land wird vermählt werden.“ Und in Hos 2,16-22: „Darum siehe, ich werde sie locken und sie in die Wüste führen, und ihr zum Herzen reden; und ich werde ihr von dort aus ihre Weinberge geben und das Tal Achor zu einer Tür der Hoffnung. Und sie wird daselbst singen wie in den Tagen ihrer Jugend und wie an dem Tag, als sie aus dem Land Ägypten heraufzog. . . Und ich will dich mir verloben in Ewigkeit, und ich will dich mir verloben in Gerechtigkeit und in Gericht, und in Güte und in Barmherzigkeit, und ich will dich mir verloben in Treue; und du wirst den Herrn erkennen.“
O wunderbare, schrankenlose Gnade! Es ist die Gnade Gottes in Christus Jesus gegenüber Seinem widerspenstigen, halsstarrigen Volk, ja Seine Gnade gegenüber dem größten der Sünder. Die Liebe ist ihre Quelle; die Gnade strömt hervor; der Verlorene ist gefunden. Die Liebe bleibt sich immer gleich. Der Herr liebt Israel, Er liebt die Kirche, Er liebt den einzelnen Gläubigen. Jede Seele, die sich zu Ihm ziehen lässt, wird von Ihm geliebt mit einer vollkommenen Liebe. Und wenn wir auch von Herzen Ihn lieben und uns Seiner erfreuen, so liegen doch die tiefere Liebe und Freude auf Seiner Seite. O grenzenlose Liebe, unermessliche Gnade, himmlische Freude, ewige Wonne! „Der König hat mich in seine Gemächer geführt; wir wollen frohlocken und uns an dir freuen, wollen deine Liebe preisen mehr als Wein“ (Hld 1,4).
4 Vergl. Eph 3,18.19↩︎