Einleitung
1. Galatien
Im Jahr 25 v. Chr. fassten die Römer das Gebiet der Galater = Gallier (die Ureinwohner des heutigen Frankreichs) mit den südlicheren Landschaften Pisidien, Teilen von Lykaonien und Phrygien zu der römischen Provinz „Galatien“ zusammen.
Nun gibt es zwei Theorien: (a) es sind die Einwohner des ursprünglichen Galatien im Norden der später entstandenen römischen Provinz gemeint oder (b) es sind die Bewohner der später entstandenen römischen Provinz „Galatien“. Im ersten Fall wäre Paulus auf seiner zweiten Missionsreise (Apg 16,6) dort gewesen; ein zweiter Besuch hätte dann dort auf der dritten Reise stattgefunden (Apg 18,23). Sind die Versammlungen dort durch einen Aufenthalt aufgrund einer Erkrankung des Apostels entstanden (4,13)? Um welche Versammlungen an welchen Orten es sich dann handelt, bleibt unklar. Die Erwähnung dieser Christen im Neuen Testament geschieht ohne Angabe der Orte (1Kor 16,1; 2Tim 4,10; 1Pet 1,1). Die Abfassungszeit fällt dann in die Zeit der dritten Reise. Von Ephesus aus (Apg 19,2-10) oder später? Wohl nicht nach der Gefangennahme, denn die wird immer erwähnt (Eph 4,1; Phil 1,7; Kol 4,18; 2Tim 1,16; Phlm 1).
Im zweiten Fall gehören die Orte Ikonium, Lystra, Derbe und Antiochien in Pisidien dazu, die Paulus auf seiner ersten Reise besucht hatte (Apg 13; 14). Dann hätte er sie zusammen mit Silas auf seiner zweiten Reise besucht (Apg 15,36 - 16,5). Dann wäre dieser Brief viel früher entstanden, von Korinth aus (Apg 18,11)?
2. Anlass und Zweck des Briefes
Die Versammlungen waren durch den Dienst des Apostels Paulus entstanden. Die Galater hatten Paulus trotz seiner Schwachheit des Fleisches wie einen Engel aufgenommen (4,13–15). Sie waren überwiegend frühere Heiden (4,8–10). Sie überlegten daher auch, sich beschneiden zu lassen (5,2.3; 6,12.13). Sie waren früher Götzendiener (4,8). Es gab unter ihnen Juden, die dort geboren waren (3,28.29). Plötzlich traten dort Lehrer auf (aus Judäa – Apg 15,1?), die falsche Dinge lehrten. Diese falschen Lehrer unterscheidet der Apostel deutlich von den Gläubigen, die er mehrere Male Brüder (1,11; 3,15; 4,12.28.31; 5,11.13; 6,1.18) und Kinder nennt (4,19). Die falschen Lehrer werden in Kapitel 1,7; 5,10.12 und 6,12 erwähnt. Wir finden diese judaisierenden Lehrer in mehreren Briefen des Apostels Paulus (2Kor 11,13.14.18-22; Kol 2,14-23; Phil 3,2).
Ihre Lehre bestand in Folgendem:
Der christliche Glaube allein reicht nicht aus.
Gottes Verheißungen galten Abraham – wer an diesen Verheißungen teilhaben wollte, musste durch die Beschneidung die „jüdische Religion“ annehmen (vgl. Apg 15,1.5).
Damit mussten sie auch das Gesetz halten; nur so konnte man Gott wohlgefällig sein (siehe dazu Apg 15,5: Beschneidung und Halten des Gesetzes).
Sie untergruben damit die Autorität des Paulus und behaupteten, allein die Apostel in Jerusalem seien vom Herrn berufen. Diese Apostel hielten aber am Gesetz fest und seien mit dem gesetzesfreien Evangelium des Paulus nicht einverstanden. Paulus sei ihnen „lediglich entgegengekommen“, in Wirklichkeit sei Paulus, da er die Galater vom Heil ausschließe, ihr Feind geworden (4,16). Haben sie sein Verhältnis zur Versammlung in Jerusalem in ein schlechtes Licht rücken können?
So erschütterten diese falschen Lehrer ihr Vertrauen in Paulus. Die Galater begannen das Gesetz zu halten (4,10) und wollten sich beschneiden lassen (5,2–12). Andere leisteten Widerstand gegen die Einführung des Gesetzes; dadurch entstand heftiger Streit in den Versammlungen (5,15). Würde die Arbeit des Apostels Paulus vergeblich sein? Dieser Gefahr begegnet der Apostel in diesem Brief.
In der Apostelgeschichte werden die Besuche des Apostels und seiner Mitarbeiter nur sehr kurz erwähnt: „Sie durchzogen aber Phrygien und die galatische Landschaft“ (16,6) und: „Und als er einige Zeit daselbst zugebracht hatte, reiste er ab und durchzog der Reihe nach die galatische Landschaft und Phrygien und befestigte alle Jünger“ (18,23). Die Galater hatten Paulus eine sehr schöne Aufnahme bereitet (Gal 4,11-15). Wunder geschahen unter ihnen (3,5). Es gab keine Opposition, keine Vertreibung des Apostels. Fehlte es an Tiefe? Das ist kein Vorwurf an die Adresse des Apostels (vgl. das Beispiel vom Sämann).
Wo immer ein Sünder versucht, auf der Grundlage des Gesetzes vor Gott zu stehen, ist er verloren (William Kelly).
3. Grobe Einteilung dieses Briefes
Einleitung (1,1–5)
Geschichtlicher Teil: Ursprung des Evangeliums; die Berufung und Zubereitung des Paulus zum Dienst; sein Verhältnis zu der Versammlung in Jerusalem (1,6–2,18)
Belehrender Teil: der Unterschied zwischen der Gerechtigkeit aus Glauben und der durch das Gesetz – die Bedeutung des Gesetzes (2,19–4,31)
Ermahnender Teil: der Wandel des Glaubens, die Kennzeichen der Gläubigen und die Auswirkungen des neuen Lebens (5,1–6,16)
Schluss (6,17.18)
4. Diverse Punkte
Die List Satans ist, Lüge und Wahrheit zu vermischen. Das Angebot der Beschneidung ist für das Fleisch attraktiv, da es ihm eine Vorrangstellung einräumt. So ist heute ein „höherer geistlicher“ Stand für uns eine Gefahr.
Es geht in diesem Brief auch um die Frage, ob das Christentum eine jüdische Sekte war oder etwas völlig neues. Die Judaisten benutzten jedenfalls die Gelegenheit, um aus den Christen Proselyten zu machen.
Die Judaisten hatten „Wühlmausarbeit“ betrieben. Die Wühlmäuse fressen die Wurzeln bzw. die Rinde ringsum ab. Dann geht jeder Baum ein.
Wer sich unter das Gesetz stellt, also nicht im Bereich der Gnade bleibt, wird selbst zwar Gerechtigkeit üben, aber keine Gnade. Er wird auch nicht barmherzig mit anderen umgehen, sondern sie an der Erfüllung von Forderungen messen. Wenn ein Vater seine Kinder nur dann liebt, wenn sie das tun, was er sagt, ist es schlimm um sie bestellt. Darum war in Galatien Streit und Neid; man biss und fraß einander. Wer kein Empfinden für Barmherzigkeit und Gnade hat, ist gesetzlich.
5. Illustration
Da ist ein sehr reicher Graf, der mit seiner Frau ein Schloss bewohnt. Beide haben keine Kinder. In Seitengebäuden sind Diener, Knecht und Mägde untergebracht. Nun kommt ein Knecht mit seiner Frau durch einen tragischen Unfall ums Leben. Sie hinterlassen zwei Kinder, die nun Weisen sind. Das Grafenehepaar adoptiert die beiden Kinder. Nun ziehen die Kinder in das herrliche Schloss ein, in das sie früher hin- und wieder bei Botengängen eintreten durften. Sie bekommen ein sehr schönes Zimmer, sie dürfen sich frei in allen Räumen bewegen, sie nehmen an allen Mahlzeiten teil. Eines Tages werden sie die großen Ländereien und das Schloss, ja, sie werden alles erben. Doch dann werden sie älter. Es tritt eine Entfremdung zwischen den Adoptiveltern und den beiden Kindern ein. Die Kinder möchten gerne in das bescheidene Haus am Rand des Schlossparks einziehen. Sie wollen wieder wie ihre Eltern, als Knechte für den Grafen arbeiten. Nun, ihre Adoption kann nicht rückgängig gemacht werden. Sie bleibt von der weiteren Entwicklung der Ereignisse unberührt.
Doch wie kam es dazu, dass die beiden Kinder das Schloss und ihre Adoptiveltern verlassen wollten? Sie hatten Kontakt mit anderen gleichaltrigen Kindern von Knechten, die um die Adoption wussten und diese beiden Kinder beneideten. Es war ihnen gelungen, diese beiden von ihren Eltern zu entfremden, so dass das vertrauensvolle Verhältnis gestört wurde.
6. Einteilung des Briefes
Einleitung (1,1‒10)
Beweis, dass Paulus seine Heilsbotschaft nicht von Menschen empfangen hat (1,11‒2,21)
Die Rechtfertigung durch den Glauben und die Freiheit des Christen vom mosaischen Gesetz (3,1‒5,12)
Die Gesetzesfreiheit in Christus als Grundlage eines neuen geistlichen und sittlichen Lebens (5,13‒6,10)
Der eigenhändige Schluss des Briefes (6,11‒18)
Kapitel 1
Einleitung
Paulus verteidigt zuerst einmal seine Apostelschaft, die wurde nämlich von den Judaisten bestritten. Außerdem bekämpften sie die Wahrheit des Evangeliums, um Einfluss auf die Gläubigen zu bekommen.
Es geht letztlich um die Frage, ob das Gesetz noch Gültigkeit über einen Christen hat oder nicht.
Einteilung
Apostelschaft des Paulus und Gruß (V. 1‒5)
Verfluchung derer, die ein anderes Evangelium verkündigen (V. 6‒9)
Paulus hat das Evangelium als Offenbarung von Jesus Christus empfangen (V. 10‒12)
Das Verhalten des Paulus (im Judentum) vor seiner Bekehrung und unmittelbar darauf (V. 13‒17)
Das selbständige Wirken des Paulus während der Zeit vor der Apostelversammlung (V. 18‒24)
Vers 1
Paulus, Apostel, nicht von Menschen noch durch einen Menschen, sondern durch Jesus Christus und Gott, den Vater, der ihn aus den Toten auferweckt hat: Die Galater zogen ‒ durch das Wirken der Judaisten ‒ die Autorität des Apostels in Zweifel, indem sie ein „anderes“ Evangelium angenommen hatten. Darum besteht der Apostel zuerst einmal entschieden auf seiner Apostelschaft.
Nicht von Menschen noch durch einen Menschen: Die hier gebrauchten Präpositionen sind ajpov und diaV. Die erste ist Ursprung, die zweite Vermittlung. Kein Mensch hatte Paulus mit dem Apostelamt betraut. Gott hatte keinen Menschen benutzt, um Paulus einzuführen. Elisa wurde durch Elia zum Propheten berufen (1Kön 19,16.19-21). Paulus hingegen von niemandem.
Heute werden noch und noch Menschen in der Christenheit (zunehmend auch in evangelikalen Kreisen) von Menschen berufen. Dieses Prinzip ist unbiblisch. Wir dürfen der Gefahr nicht erliegen, dass wir Geschwister zu Sonntagsschullehrern berufen, sie bitten, bestimmte Dienste zu tun (wie z. B. Beteiligung am Gebet, an der Wortbetrachtung, am Verkündigungsdienst). Wir können dort Ermunterungen aussprechen, wo sich Hingabe für den Herrn und Begabung zeigt, doch berufen kann allein der Herr. Tun wir es doch, greifen wir in die Rechte Herrn Jesus ein.
Durch Jesus Christus und Gott: Die Berufung ist durch Jesus Christus geschehen, durch den verherrlichten Herrn. Das steht im Gegensatz zu den anderen zwölf Aposteln, die den Herrn sowohl in seinem Leben hier auf der Erde als auch nach der Auferstehung gesehen haben (Apg 1,21.22).
Es könnte auch heißen: von. „Durch“ hat nicht nur die Bedeutung von „mittels“, sondern geht in diesem Fall in seiner Bedeutung weiter. Rienecker schreibt: „Apov ist durch den in ajpovstoloς liegenden Verbalbegriff verursacht, diaV vom Urheber (so Röm 1,5) gebraucht“. Ridderbos: „Here the diaV has not merely an instrumental, but also a causative significance, in which the means can be regarded as being understood. When used for God and for Christ diaV can have a richer content than ajpoV“.
Die falschen Lehrer konnten höchstens für sich in Anspruch nehmen, dass sie von den Aposteln in Jerusalem gelernt hatten und auch autorisiert waren, obwohl das natürlich nicht der Fall war.
Den Vater, der ihn auferweckt hat aus den Toten: Die Berufung ist also auch durch Gott. Die Auferweckung ist nicht nur eine fundamentale Wahrheit des Evangeliums, sondern zugleich auch ein Eckpfeiler der Berufung des Paulus zum Apostel.