Einleitung
Zeitlicher Rahmen
Was in diesem Buch beschrieben wird, hat sich in der Zeit zwischen Esra 6; 7 ereignet, und zwar während der Regierung des Ahasveros [Xerxes I.], der auch in Esra 4,6 erwähnt wird. Er hat in der Zeit von 486–464 regiert. Er war der Sohn des Darius und Vater des Artaxerxes oder Artasastas (siehe Nehemia).
Es ist bemerkenswert, dass die großen Perserkriege im Buch Esther mit keinem Wort erwähnt werden. Den einzigen Hinweis darauf finden wir in Daniel 10,20 - 11,2. Für Gott sind große Veränderungen nur insoweit wert, aufgezeichnet zu werden, als sein Volk mit einbezogen ist.
Die Situation war Folgende: Unter Serubbabel waren etwa 42 000 Juden in das Land der Väter zurückgekehrt, darin sind die Frauen und Kinder nicht mitgezählt. Wenn Gott sie auch nicht offiziell als Volk anerkannte (Lo-Ammi), so hatte Er doch Wohlgefallen an ihnen. Später zogen unter Esra noch einmal eine Anzahl Juden zurück ins Land. Das geschah nach den Ereignissen des Buches Esther. Gott wollte in der Mitte der Zurückgekehrten die Bereitschaft wirken, seinen Gesalbten aufzunehmen, um sie als Volk annehmen zu können. Ihre Ablehnung führte zu einem weiteren Aufschub. Die Lage der nicht zurückgekehrten Juden, die weiter im Persischen Reich zerstreut blieben, war im Allgemeinen traurig, bis auf einige treue Leute, die aufgrund ihrer Stellung (Beruf) doch eine erstaunliche Frömmigkeit besaßen (Daniel, Esra, Nehemia, Mordokai). Den meisten anderen war Gott verborgen, sie hatten keinerlei „gottesdienstliche“ Beziehung zu ihm.
Der Name Gottes
Kein einziges Mal wird der Name Gottes in diesem Buch erwähnt. Das Volk befand sich in einem Zustand der Verhärtung. Als die Juden das Alte Testament ins Griechische übersetzten,1 haben sie an zahlreichen Stellen den Namen Gottes eingefügt. Wenn das Buch bei den Juden gelesen wird, so führt es leider nicht zum Selbstgericht, sondern nur zu Verwünschungen über Haman und seine Familie.
Keins der von Mose festgesetzten Feste wird erwähnt. Wohl wird das Purim-Fest erwähnt, das die Juden neu einführten. Das Wort Gottes wird nicht erwähnt. Kein einziges Gebet wird erwähnt, kein Priester, kein Opfer, kein Dienst. Wohl werden Sack und Asche erwähnt, nicht aber das Gebet. Ihr Zustand ist die „Gleichgültigkeit der Unglücklichen“ (Henry Rossier). Das Volk befand sich gleichsam in einer Wüste ohne jede Erquickung. Der Ausruf in den Psalm 42; 43 passt gut hierhin: „Wo ist dein Gott“.
Dennoch gab und gibt es immer noch ein verborgenes Handeln Gottes in seiner Vorsehung. Wenn Gott sich auch verbirgt, so ist Er dennoch treu. Nur der Glaube schaut hinter die Kulissen. Das ist ein Glaube, der an der unwandelbaren Treue Gottes festhält.
Ein weiterer schöner Charakterzug besteht darin, dass auch dieses Buch eine vorbildliche Bedeutung hat. Es liegt an uns, dem Gemurmel unterirdischer Wasser zu lauschen, das uns zu Goldadern führt.
Die göttliche Macht ist in einer Person vereinigt; der Erretter wird zu königlicher Würde erhoben und gekrönt; der geschworene Feind des Volkes gerichtet und verurteilt; die heidnische Gemahlin verstoßen; die jüdische Gemahlin aus ihrer Gefangenschaft herausgeführt und zur Frau des großen Königs erhoben; der Überrest geht durch die große Drangsal bis der Befreier eingreift; Frieden und Freude folgen auf die große Befreiung (nach HR).
Die Juden sind in diesem Buch ein Bild des zukünftigen Überrestes, der außerhalb des Landes fliehen und dort in großer Angst bei fremden Völkern Unterschlupf finden wird (vgl. Mt 24,15 und Off 12,13‒17). Doch Juden, die während der Zeit der großen Drangsal fliehen werden, sind Gläubige. Könnten die Juden dieses Buches auch ein Bild der zehn Stämme sein, die die weltweite Stunde der Versuchung erleben werden (Off 3,10)? Allerdings gehören die Juden dieses Buches zu den zwei Stämmen. Vielleicht ist eine Anwendung in diesem Sinn möglich.
Geistlicher Inhalt dieses Buches
Das Buch Esther zeigt uns die Stellung Israels außerhalb des verheißenen Landes und die Fürsorge Gottes für sein Volk, obwohl Er sich ihnen nicht offenbaren konnte. Gott handelt in seiner Vorsehung. Deshalb wird sein Name in diesem Buch nicht erwähnt; Er bleibt im Hintergrund. Dadurch erhält Er sein Volk inmitten der Feinde aufrecht. Es ist beachtenswert, dass diese Juden kein Interesse am Wiederaufbau des Tempels und der Stadt Jerusalems zeigten. Umso größer ist die Güte Gottes, dass Er sich über dieses Volk erbarmt. Somit gibt es keine äußere Beziehung dieser Juden zu Gott, keinerlei Verheißungen. – Dennoch gilt unverändert, was Gott durch den Propheten Jeremia gesagt hat: „Ist mir Ephraim ein teurer Sohn oder ein Kind der Wonne? Denn sooft ich auch gegen ihn geredet habe, gedenke ich seiner doch immer wieder. Darum ist mein Innerstes über ihn erregt; ich will mich seiner gewiss erbarmen, spricht der der Herr“ (Kap. 31,20).
Könige von Persien auf einen Blick
Jahr | König |
559–530 | Kores II (Cyros). oder der Große (Esra 1; Dan 1,21) |
539–530 | Darius, der Meder [ein Mitregent des Kores] (Dan 6,1) |
539 | Eroberung Babels und Tod Belsazars – Ende der 70-jährigen Gefangenschaft – Ein Überrest kehrt nach Palästina zurück |
530–522 | Kambyses (ein Sohn des Kores) wird König über Persien |
522–486 | Darius I. Hystaspis (Esra 4,5.24) |
486–464 | Ahasveros [Xerxes I.] (Esra 4,6) |
464–423 | Artasasta [Artaxerxes I. Langhand] (Esra 4,6-8; 6,14 siehe Fußnote; 7,1; Neh 2,1; 5,14; 13,6) |
458 | Esras Hinaufzug nach Jerusalem (Esra 7,8) |
445 | Nehemias Hinaufzug nach Jerusalem |
423–404 | Darius II. [Nothus, „der Perser“] (Neh 12,2) |
Einführende Gedanken
Das Buch trägt den Namen eine Frau (sie ist Jüdin und heiratet einen Heiden) – das andere Buch, das den Namen einer Frau trägt, ist Ruth (sie ist eine Moabiterin und heiratet einen Juden).
Das Buch enthält nicht den Namen Gottes.
Die Juden verleugneten Gott – sie waren nicht aus Babylon zurückgekehrt (Jes 48,20; Jer 50,8; 51,6) und wohnten nun im Persischen Reich. Esther heißt eigentlich Hadassa (= Myrte). Esther ist die babylonische Ischtar oder griechische Aphrodite, die römische Venus (Göttin der Liebe). Der Name Mordokai war vom Schutzgott der Stadt Babylon, Marduk, abgeleitet. – So hielt auch Gott sich verborgen (5Mo 32,18.20).
Dennoch wacht Er über seinem Volk und erhält es sich, so wie Er es bis in unsere Tage erhalten hat (Mt 24,34).
Durch die Vorsehung wird Esther Königin, doch Mordokai verbietet ihr, ihre Herkunft bekanntzugeben (2,10).
Gott lässt es zu, dass ein außergewöhnlicher Judenhasser Zweiter im Persischen Reich wird, der alle Juden ausrotten will. Doch Gott weiß das zu verhindern.
Das Buch ist ein großartiges Beispiel dafür, wie Gott im Regiment sitzt – und Er knüpft an die Treue Einzelner an.
Ahasveros heiratet ohne sein Wissen eine Jüdin. Dann erhöht er Haman, einen Judenhasser.
Letztlich ist Haman ein Bild des Teufels, der immer wieder versucht hat, das Volk Gottes zu auszurotten, so auch beispielsweise Herodes (Mt 2; Off 12).
Bibliographie
Aalders, G. CH., Korte Verklaring Esther
Darby, J. N., Synopsis
Ironside, H. A., Notes on Esra, Nehemia and Esther
Huey, F. B., The Expos. Bible Commentary
Keil, C. F., Commentary on the Old Testament
Kelly, W., Esther, Bible Treasury
Kelly, W., Das Buch Esther, Zwei Vorträge, auf https://biblische-lehre-wm.de/wp-content/uploads/AT-17-Esther-WKelly-D.pdf
Rossier, H., Betrachtungen über die Bücher Esra, Nehemia, Esther
Ouweneel, W. J. O., Mut und Gnade
Kapitel 1
Einleitung
Zwischen Kapitel 1 und 2 sind möglicherweise drei oder vier Jahre vergangen. Dazwischen lag möglicherweise der Krieg mit Griechenland. Vielleicht hat die Niederlage Ahasveros etwas milder gestimmt.
Eine mögliche prophetische Anwendung ist Folgende: Die Königin ist ein Bild der Christenheit, die ihrem Gatten nicht untertan ist. An ihre Stelle tritt Esther, ein Bild des künftigen Überrestes es Volkes Israel.
Einteilung
Das Fest des Ahasveros (V. 1‒8)
Der Fall der Königin Vasti (V. 9‒22)
Vers 1
Und es geschah in den Tagen des Ahasveros (das ist der Ahasveros, der von Indien bis Äthiopien über 127 Landschaften regierte): Ahasveros ist Xerxes I., der Sohn des Darius Hystaspis. Er wurde durch den gewaltigen Aufmarsch einer ungeheuren Heeresmacht von etwa 700 Kriegs- und Lastschiffen im Jahr 480 gegen Griechenland berühmt. Themistokles gelang es, Xerxes in die Schlucht von Salamis zu zwingen und ihn dort zu schlagen. Ein Jahr später brach nach einem erneuten Sieg Griechenlands die Vorherrschaft Persiens in der Ägäis zusammen. Das Blatt der Geschichte begann sich zu wenden.
Von Darius lesen wir, dass er in seinen 120 Landschaften Satrapen einsetzte (Dan 6,2).
1 Diese Übersetzung war die sogenannte Septuaginta (LXX), die von siebzig Gelehrten übersetzt wurde.↩︎