68 Jahre waren vergangen, seitdem Daniel beim Fall Jerusalems gefangen genommen worden war. Daniel hatte die Auferstehung und den Fall Babylons, des ersten Weltreiches, gesehen. Persien, das zweite Weltreich, hatte jetzt die Vorherrschaft erlangt. In diesem Königreich hatte Daniel eine hohe, autoritäre Position über die Fürsten des Reiches inne. Doch weder seine gehobene Stellung, noch die beanspruchenden staatlichen Angelegenheiten konnten auch nur für einen Moment seine brennende Liebe für das Volk Gottes oder seinen Glauben in das sein Volk betreffende Wort Gottes dämpfen.
„Im ersten Jahr seiner Regierung verstand ich, Daniel, in den Schriften die Zahl der Jahre, bezüglich derer das Wort des Herrn an den Propheten Jeremia ergangen war, dass nämlich 70 Jahre für die Verwüstung Jerusalems vollendet werden sollten“ (9,2).
Wir haben bereits gesehen, dass Daniel ein Mann des Gebets war. Jetzt erfahren wir, dass er ebenso jemand war, der die Schriften studierte. Obwohl er selbst ein Prophet war, war er bereit, auf andere inspirierte Propheten Gottes zu hören und die Gedanken Gottes in den Büchern der Schrift zu erfahren. So kommt es, dass er beim Lesen des Buches Jeremia entdeckt, dass das Land Israel nach dem Fall Jerusalems in den Tagen Jojakims 70 Jahre zur Einöde werden würde und am Ende dieser siebzig Jahre der König von Babylon gerichtet und das Land der Chaldäer verwüstet werden würde (Jer 25,1.11.12). Darüber hinaus lernt Daniel, dass nicht nur Babylon gerichtet werden würde, sondern dass der Herr zu Jeremia geredet hatte: „Sobald siebzig Jahre für Babel voll sind, werde ich mich euer annehmen und mein gutes Wort an euch erfüllen, euch an diesen Ort zurückzubringen“ (Jer 29,10).
Daniel macht diese wichtige Entdeckung im ersten Jahr des Darius. Die eigentliche Rückkehr fand, wie wir wissen, zwei Jahre später im ersten Jahr des Kores statt (Esra 1,1). Zu diesem Zeitpunkt kann es keine aktuellen Ereignisse gegeben haben, die Hoffnung auf eine Rückkehr gerechtfertigt hätten. Dass Gott sich seines Volkes in der Gefangenschaft annehmen und ihnen einen Weg zur Rückkehr eröffnen würde, erkennt er „in den Schriften“, nicht durch die Umstände. Er hatte gerade die Vernichtung des Königs von Babylon und den Fall seines Reiches gesehen, doch er stellt keine Spekulationen über die erschütternden Ereignisse, die um ihn herum stattfinden, an. Auch strebt er nicht danach, aus diesen für das Volk Gottes vorteilhafte Schlussfolgerungen zu ziehen. Er wird in seinem Verständnis von der Schrift, dem Gottes Wort, geleitet, ob die Umstände für oder gegen die Verheißungen Gottes sprechen. Das Wort Gottes ist der wahre Schlüssel zur Prophetie. Wir müssen Prophezeiungen weder durch sich ereignende Umstände erklären, noch die Erfüllung der Prophezeiungen abwarten, um sie auszulegen.