Behandelter Abschnitt Heb 2,16-18
„Denn er nimmt sich fürwahr nicht der Engel an, sondern der Nachkommen Abrahams nimmt er sich an. Daher musste er in allem den Brüdern gleichwerden, damit er in den Sachen mit Gott ein barmherziger und treuer Hoherpriester werden, um die Sünden des Volkes zu sühnen.“
Das ist eine Sprache, die ein Israelit gut verstehen würde. Doch die „Nachkommen Abrahams“ und „das Volk“ werden im Licht des Christentums aus den Gläubigen gebildet. Wenn Israel als Volk dieser Beschreibung entspräche, dann könnte es als solches die Verheißungen beanspruchen. Doch der Brief ermahnt ja gerade dazu, das Lager aufgrund der Verwerfung Christi durch Israel zu verlassen, und diejenigen, an die er sich richtet, werden als „heilige Brüder, Genossen der himmlischen Berufung“ bezeichnet. Auf Israel trifft diese Bezeichnung nicht zu. Vor diesem Hintergrund müssen die Begriffe „Volk“ und „Nachkommen Abrahams“ hier verstanden werden.
Die Aussage ist eine Anspielung auf den Sühnungstag, an dem die Sünden Israels auf den Kopf des Bockes gelegt und weggenommen wurden. Der Tag gehörte zu den Festen des siebten Monats, die im Gegensatz zu den Festen zu Beginn des Jahres (das Passah und der ungesäuerten Brote, der Erstlingsgarbe und Pfingsten) nationale Feste sind und von der Erfüllung des Verheißungen an das Volk Israel zu dem Zeitpunkt sprechen, den Gott für angemessen befindet. Beim Fest des Posaunen-Halls zu Beginn des siebten Monats, dem Neumond (wenn das Licht der Gunst Gottes wieder auf Israel zu scheinen beginnt), hören wir die Stimme des Gedächtnisses an das Volk.
Am zehnten Tag des siebten Monats, dem Sühnungstag, wird es unter den Wert des Werkes Christi gestellt. Das Laubhüttenfest, das mit dem fünfzehnten Tag beginnt, zeigt die Freude über die Wiederherstellung Israels im Land. Die erste Serie von Festen dagegen hat Israel verloren, weil es Christus ablehnte, als er kam. Die vorausschauende Weisheit Gottes ist der Grund dafür, dass das Passah ein Familienfest war: „Du wirst gerettet werden, du und ein Haus“. Diese Botschaft wird im Christentum verkündigt. Das Fest der ungesäuerten Brote ist untrennbar mit dem Passah verbunden, und die Garbe der Erstlinge (Christus ist auferstanden) sowie Pfingsten sind typisch christlich. Der Unglaube Israels hat den Segen für das Volk aufgeschoben.
So ist auch zu erklären, warum es am großen Sühnungstag zwei Böcke gab. Darüber ist schon viel gesagt worden. Für Israel die Vergebung der Sünden durch einen zeitlichen Abstand von dem Werk des Herrn getrennt, das die Grundlage dieser Vergebung ist. Israel hat den Segen abgelehnt, der ihm angeboten wurden. Genau das wird in den beiden Böcken vorgebildet. Wenn ihre Sünden auf den lebenden Bock gelebt werden, wird kein buchstäbliches Opfer dargebracht. In diesem Moment geschieht keine Sühnung. Der Ziegenbock ist ein Sündenbock, der nicht geopfert, sondern weggeschickt wird.
Die Schrift spricht nirgends von einem Opfern dieses Ziegenbocks. Das ist wichtig, weil durch Unverständnis über diesen Punkt bereits viel Unheil angerichtet wurde. Es wird nicht mit (engl. with) ihn Sühnung bewirkt, sondern auf (engl. for) ihm (3Mo 16,10). So wird der Begriff kapher al an anderen Stellen zurecht verstanden (s. 2Mo 29,26; 30,10.15.16; 3Mo 1,4; 4Mo 4,20.26.31.35 etc.). Es wird nicht mit (engl. with) ihn Sühnung bewirkt, sondern auf (engl. for) ihm (3Mo 16,10). So wird der Begriff kapher al an anderen Stellen zurecht verstanden (s. 2Mo 29,26; 30,10.15.16; 3Mo 1,4; 4Mo 4,20.26.31.35 etc.). Dadurch entsteht die Frage, wie Sühnung geschehen kann beziehungsweise warum sie für den Bock geleistet wurde?
Die Antwort darauf lautet: Sühnung ist deshalb nötig, weil beide Böcke als Sündopfer bestimmt sind (3Mo 16,5), während in Wirklichkeit nur einer geopfert wurde. Das Los für den Herrn fiel auf den Bock, der geopfert werden sollte, der andere entging einer Opferung. Die Sühnung, die er bewirken sollte, wurde in Wirklichkeit durch den geopferten Bock für ihn bewirkt.
Die Anwendung auf Israel ist einfach. Der erste Bock wird geopfert und das Blut dieses Bockes wird ins Allerheiligste getragen, wenn der Hohepriester hineingeht. Erst dann, wenn er wieder herauskommt, werden die Sünden Israels auf den lebenden Bock gelegt und weggetragen. Die Zeit zwischen dem Eintreten unseres Hohenpriesters ins Heiligtum und seinem Hinauskommen umfasst die ganze christliche Zeitperiode. Sühnung - und zwar in vollem Umfang – ist ein für allemal geschehen, bevor Christus als der Hohepriester in den Himmel hineinging. Doch Israels Sünden werden erst dann weggetan, wenn er wieder herausgekommen ist. Natürlich wird dann kein neues Opfer mehr dargebracht. Der lebende Bock ist ein einfach ein Hinweis auf den Zeitpunkt, an dem tatsächlich Sühnung geschehen ist. Die beiden Böcke sind also nötig, um diese Verbindung aufzuzeigen. Sie sind ein Hinweis auf den Aufschub des Segens aufgrund des nationalen Unglaubens des Volkes.
Ein anderer Punkt darf nicht übersehen werden. Wenn der Hohepriester ins Heiligtum hineingeht, nimmt er nicht nur das Blut des Bockes für Israel mit sich, sondern auch das des Stieres für sein Haus. Das Haus Aarons symbolisiert uns Christen. Wie Petrus sagt, sind sie „ein geistliches Haus, eine heilige Priesterschaft“ (1Pet 2,5). In ihnen sehen finden wir also die „Geheiligten“, die „Genossen Christi“ (“Teilhaber“, s. Heb 3,1), für die der große Hohepriester ein Opfer darbringt.
Es ist zu beachten, dass am großen Sühnungstag der Hohepriester allein das ganze Werk vollbringt. Keine andere Person aus der priesterlichen Familie tritt in Erscheinung. Sie werden lediglich in Verbindung mit dem für sie dargebrachten Opfer erwähnt. Für einige Ausleger erschien das so außergewöhnlich, dass sie infrage stellten, ob das Darbringen von Opfertieren eindeutig ein priesterlicher Dienst ist. Sogar die Tatsache, dass der Hohepriester das Heiligtum nicht in seinen Kleidern zur Herrlichkeit und zum Schmuck, sondern in einfachen weißen Leinen betrat, wird als Argument angeführt. Wir können das an dieser Stelle nicht weiter untersuchen. Es genügt, dass schon die Worte einen solchen Gedankengang nicht zulassen. Er ist „ein barmherziger und treuer Hoherpriester . . . , um die Sünden des Volkes zu sühnen.“ Könnte man den priesterlichen Charakter davon, Sühnung zu bewirken, stärker betonen, als zu sagen, dass Er Hoherpriester war, um sie zu bewirken?
Der große Sühnungstag war insofern etwas Besonderes, als dass er „der Versöhnungstag“ (o. Sühnungstag) war. Deshalb wird alles das, was zu ihm gehört, in besonderer Weise hervorgehoben. Aus diesem Grund werden die gewöhnlichen Priester nicht erwähnt, auch wenn sie sicherlich dabei geholfen haben, die vielen Opfer darzubringen. Doch „der gesalbte Priester“ ist nur der Hohepriester, und an dem großen Sühnungstag steht nur er vor unseren Augen. Im weiteren Verlauf wird das noch deutlicher werden. „Das Volk“, für as unser Hoherpriester Sühnung bewirkt, umfasst mehr Menschen als nur die Christen oder das priesterliche Haus. Es beinhaltet die wahren „Nachkommen Abrahams“, die ganze Familie des Glaubens. Gleichzeitig ist das Werk und damit die Sühnung groß genug, dass alle Menschen an ihrem Wert teilhaben können.
Die „Sühnung für die ganze Welt“, von der Johannes spricht (1Joh 2,2), ist leicht übereinzubringen mit dem „Sühnmittel durch den Glauben an sein Blut“ (Röm 3,25), denn alle Menschen sind dazu eingeladen, zu glauben. Wenn ein Mensch zum Glauben kommt, darf er eine absolut wirksame Sühnung kennenlernen, die einer göttlichen Kenntnis seiner Not entspricht und der Gnade Gottes, die dieser Not begegnet. So hat der einmal gereinigte Anbeter kein Gewissen mehr von Sünden.
Im letzten Vers dieses Abschnitts wird uns die Hilfe des großen Hohenpriesters auf der Grundlage seiner menschlichen Erfahrungen zugesichert: „Denn worin er selbst gelitten hat, als er versucht wurde, vermag er denen zu helfen, die versucht werden.“