Behandelter Abschnitt Dan 7,1-4
In diesem Kapitel gehen wir auf den zweiten Teil des Buches ein. Der erste Teil enthält die Gesichte, die die Monarchen empfingen, zusammen mit ihren Handlungen, und den Handlungen anderer im Zusammenhang mit Daniel und seinen Gefährten. Daniel tritt als Bote Gottes in Erscheinung, in Seinem Sinn, um die Träume und Gesichte, die Nebukadnezar empfangen hatte, zuverlässig auszulegen. All dies haben wir betrachtet, und nun haben wir in diesem zweiten Teil, die Gesichte mit ihren Auslegungen, die Daniel selbst gegeben wurden. Es sind Mitteilungen, „die nicht nur allgemeine Grundsätze enthalten, sondern Einzelheiten, die das Volk Gottes und die Nationen, die sie unterdrückten, betreffen – historische Einzelheiten, auch wenn sie im Voraus prophetisch gegeben wurden. Ein Unterschied zwischen diesen und dem gewöhnlichen prophetischen Mitteilungen ist augenblicklich zu sehen.
Bei Daniel ist es nicht so, wie bei den Propheten im Allgemeinen, dass das Wort des Herrn über ihn kam, oder dass er vom Heiligen Geist bewegt sprach. Er sah „einen Traum und Gesichte seines Hauptes auf seinem Lager“ oder wie in Daniel 8 erschien ihm „ein Gesicht.“ Er war nicht so sehr ein Bote für Gottes Volk, wie es zum Beispiel Jesaja und Jeremia waren, sondern er empfing, wie Johannes auf Patmos, Offenbarungen der Zukunft als Leitung für Gottes Volk in jeder Zeit. Die Gesichte Daniels sind daher, wie die von Johannes, von endzeitlicher Natur.
Das erste davon ist in diesem Kapitel aufgezeichnet und fand „im ersten Jahr Belsazars, des Königs von Babel“ (Vers 1) statt. Wir nennen es das erste Gesicht, obwohl beginnend mit den Versen 2, 7, und 13 tatsächlich drei Gesichte gegeben werden. Dazu folgt auf Daniels Nachfrage hin ihre Auslegung, die in den Versen 17–27 gefunden wird. Der Gegenstand des Kapitels scheint das vierte Reich der Nationen zu sein: Sein Gericht und seine Verdrängung durch das Königreich des Sohnes des Menschen. Die ersten drei Reiche werden vorgestellt, wenn auch nur kurz, und so umfasst das Kapitel dasselbe wie die Gesichte Nebukadnezars in Daniel 2, wenn auch aus einer anderen Perspektive. Alle drei Gesichte hängen miteinander zusammen und ergänzen sich gegenseitig. Dies wird also zu einem besseren Verständnis beitragen, wenn man sie in der Reihenfolge, in der sie stehen, betrachtet und ihre Auslegung wird in ihren Grundzügen erfasst werden.
Der Gegenstand dieses ersten Gesichts waren vier große Tiere: „Daniel hob an und sprach: Ich schaute in meinem Gesicht in der Nacht: Und siehe, die vier Winde des Himmels brachen los auf das große Meer. Und vier große Tiere stiegen aus dem Meer herauf, eins verschieden vom anderen.“ (Verse 2, 3). Das Meer, eine Wassermasse, steht, wie oft in der Schrift (siehe Off 17,1–15) für Menschen und Völker und im vorliegenden Fall herrscht ein Zustand des Chaos und der Verwirrung, denn „die vier Winde des Himmels brachen los auf das große Meer.“ Die Winde sind von Gott auf schicksalhafte Weise bewirkte unterschiedliche, beunruhigende Einflüsse. Sie sind ein Gericht, um Seine Absichten der Regierung über die Erde zu erreichen. So haben wir in Offenbarung 7 Engel, die die vier Winde der Erde von ihrem gerichtlichen Auftrag zurückhalten, bis die Knechte Gottes an ihren Stirnen versiegelt wurden. Dort sind es die Winde der Erde, denn die Erde war das Ziel ihres Erscheinens. In Daniel sind es die Winde des Himmels, hinweisend auf die Herkunft, aus der sie ausgesandt wurden.
Die vier Tiere kamen aus dem Meer, also aus den Unmengen der Völker in einem Zustand der Unruhe, wenn nicht sogar chaotischer Verwirrung, herauf. Es wird jedoch nicht angenommen, dass ihr Aufstieg aus dem Meer zeitgleich war, denn wenn sie, wie kaum jemand anzweifelt, für dieselben vier Reiche, die Nebukadnezars Bild verkörpert, stehen, treten sie nacheinander in Erscheinung; worauf Daniel tatsächlich in Vers 6 hinweist (als er sagt, „Nach diesem schaute ich, und siehe, ein anderes“ usw.), so auch in Vers 7. Es ist nicht mehr als eine Feststellung in Vers 3, die aufzeigt, dass all diese Reiche sichtbar wurden und ihre Herrschaft auf dieselbe Weise erlangten. Sie kamen in einer Zeit der auflehnenden Unruhe als Weltreiche zustande und wurden jeweils auf den Trümmern anderer Königreiche errichtet.
Alle werden gleichermaßen als Tiere verbildlicht, worin sie sich von der Symbolik des Bildes Nebukadnezars unterscheiden. In dem Bild wurde der Gedanke des allmählichen Verfalls der herrschenden Macht in den Händen der Nationen verkörpert: Von Nebukadnezar (dem es unmittelbar von Gott selbst anvertraut wurde), als dem Kopf aus Gold, bis zum Eisen und Ton in den Beinen und Füßen. Obwohl sie sich im Wesen voneinander unterscheiden, und möglicherweise auch im Grad ihrer Vorzüglichkeit werden hier alle gleichermaßen als Tiere gesehen, um ihre sittlichen Eigenschaften aufzuzeigen: Das Ausschließen Gottes, Selbstsucht, eigennützige Begierden, irdische Ziele und irdische Beweggründe und Zwecke, Grausamkeit und Raubgier beschreiben all diese heidnischen Königreiche. Welch eine Offenbarung, dass alle Regierungen auf der Erde, von der Zerstörung Jerusalems an bis zum Königreich Christi, sittlich als „Tiere“ dargestellt werden!
Das erste Tier, welches Babylon darstellt, „war gleich einem Löwen und hatte Adlerflügel; ich schaute, bis seine Flügel ausgerissen wurden und es von der Erde aufgehoben und wie ein Mensch auf seine Füße gestellt und ihm ein Menschenherz gegeben wurde.“ (Vers 4) Diese beiden Symbole – der Löwe und der Adler – standen bereits vorher für Babylon (Jer 4,7; Jer 49,19-22; vergleiche mit Vers 30), und sie sprechen von Majestät und Schnelligkeit – Schnelligkeit des Vorrückens und Eroberns, was beides das Königreich Nebukadnezars besonders kennzeichnete. Doch der Prophet sah eine außergewöhnliche Veränderung. Die Flügel des Tieres wurden ausgerissen; es verlor seine Schnelligkeit der Durchführung, die es ausgezeichnet hatte, und zeigte somit was in den Händen von Nebukadnezars verweichlichten Nachfolgern aus dem Reich wurde. Überdies verlor das Tier seine wesenseigene Haltung, wurde auf seine Füße gestellt wie ein Mensch, und erhielt das Herz eines Menschen – eine Darstellung des Zustands der Schwäche, auf den Babylon schlussendlich herabgesetzt wurde. Denn wenn ein Löwe dazu gebracht wird aufzustehen, und sein ganzes Wesen verändert wird, hat er sowohl seine Macht als auch seine Majestät verloren.