Behandelter Abschnitt Off 3,1
Das Sendschreiben an Sardes
Sardes bedeutet Überrest und zeigt den Anfang einer neuen Linie in der Entwicklung des Zeugnisses Jesu Christi an, die aus dem Überrest in Thyatira herausgewachsen ist. Dieser Überrest – denken wir an die Waldenser, die Hussiten und andere größere und kleinere Kreise in der Vorreformationszeit – ist in der Tat ein Vorläufer und Saatgut der großen Reformation des 16. Jahrhunderts gewesen. Daraus sind dann die protestantischen Kirchen entstanden, leider nicht die einfache Gemeinschaft der Gläubigen nach der Heiligen Schrift, wie sie ursprünglich errichtet worden war. Zwar hatten die Reformatoren das Licht des einfachen Evangeliums wieder auf den Leuchter gestellt und dem biblischen Grundsatz der alleinigen Rechtfertigung aus Glauben an den Herrn Jesus Christus wieder Geltung verschafft. Da aber das Losreißen von Rom unter dem Schutz und der Mitwirkung der weltlichen Regierungen, oder in Frankreich wenigstens durch eine starke politische Partei erfolgte, ist damit auch viel unbekehrtes, nur äußerlich rechtgläubiges Volk übergetreten. Dadurch ist wiederum ein schließlich lebloses Staatskirchentum entstanden, dessen Leitung und Autorität die weltliche Regierung übernahm. So hat nun bei Sardes, im Gegensatz zu Thyatira, wo die Kirche Roms die Herrschaft der Welt beanspruchte, die irdische Regierung die Herrschaft über die Kirche an sich gezogen, wie dies schon bei Pergamus in einem gewissen Sinn der Fall war. Dadurch ist auch der grundlegende Satz der Reformatoren: „Rechtfertigung aus Glauben allein“ zur bloßen theoretischen Bekenntnisformel ohne Leben geworden, und die Kirche ist zu einem toten Namenchristentum erstarrt. Die Vorhaltungen des Herrn als Richter sind daher auch im Grund weit ernstere, als bei den vorigen Sendschreiben, denn es handelt sich hier um mehr, als durch Irrungen verursachte Verdorbenheit; es geht hier direkt um das Fahrenlassen der Lebensbedingungen selbst.
„Und dem Engel der Versammlung in Sardes schreibe: Dieses sagt der, der die sieben Geister Gottes hat und die sieben Sterne:Ich kenne deine Werke, dass du den Namen hast, dass du lebst, und du bist tot“ (3,1).
Der Herr stellt sich vor als derjenige, der immer noch unverändert die alleinige volle Kraft und Macht des Heiligen Geistes besitzt und sie dem glaubenden Menschen mitteilen kann und auch will, wenn man Ihm den gebührenden Platz gibt; Er hat auch fortwährend Macht über sein Zeugnis beansprucht und ist sein wahrer Träger, wiewohl äußerlich weltliche Regenten die Autorität über die Kirche an sich gerissen haben. Deswegen sagt Er hier nicht, wie bei Ephesus: „der die Sterne in seiner Rechten hält“, sondern nur: „der sie hat“; durch die Autoritätsausübung der Menschen ist Ihm in der Tat die Kirche als Gesamtsystem aus der Hand genommen.
Welches furchtbare Urteil! Zwar waren ja diese Kirchen der Lehre nach äußerlich richtig und gesund, standen sie doch, im Vergleich zu dem Götzendienst und den Missbräuchen der römischen Kirche, auf dem Grundsatz der Rechtfertigung und des ewigen Lebens aufgrund des Glaubens an Jesus Christus. Aber gerade dadurch, dass die weltlichen Herren die Autorität und Führung übernahmen, wurde bald aus der Rechtgläubigkeit eine bloße theoretische Formel ohne lebendige Wirklichkeit, ohne Buße und Bekehrung, eine bloße Kopfsache. Das kirchliche Leben erstarrte zur toten Dogmatik und Buchstabenreiterei; die Pfarrer wurden mehr Handlanger der Regierungen, als Lehrer der Wahrheit; es nahmen geistlicher Tiefstand und Leere überhand. Das ist ganz logisch, denn geistliche Kraft und wahres Leben kann eben nur vom Heiligen Geist mitgeteilt werden, dessen Tätigkeit hier sozusagen an die Wand gedrückt wurde. Kein Wunder, wenn diese Kirchen im 18. Jahrhundert in die seichte, ungläubige und nichtssagende „Aufklärung“ und schließlich in den Umsturz der Revolutionszeit mündeten!