Aus dem Jahre 1909: zu Vers 16. 17. Gnade um Gnade nehmen!
Es ist namentlich Vers 16, den ich im Auge habe: „Denn aus Seiner Fülle haben wir alle genommen Gnade um Gnade." Die Elberfelder und — wenn ich nicht irre — auch die Miniaturbibel übersetzen: „haben wir alle empfangen Gnade um Gnade" — während Luther übersetzt: „haben wir alle genommen Gnade um Gnade". Wenn man in dem neutestamentlichen Lexikon von Cremer nachschlägt, der auf diesem Gebiete eine der ersten Autoritäten ist, so findet man, daß es heißt: „nehmen, ergreifen". Es scheiden sich in der Übersetzung dieses Wortes zwei Linien. Es ist ein großer Unterschied zwischen Christen, die immer empfangen wollen und solchen, die einfach ihre Hand ausstrecken nach dem, was der Herr ihnen bietet. Er wartet darauf, daß endlich ein Geschlecht heranwachse, das aus Seiner Fülle nimmt Gnade um Gnade. Was ist die erste Bedingung, um das tun zu können, um aus Seiner Fülle nehmen zu können? Daß man nicht schon vorher voll ist von sich selbst, vom Weltschmerz und Weltlust, von irdischen Erinnerungen und Hoffnungen, von Kreaturenliebe und Menschenfurcht, von allem möglichen Staub und Schmutz und Jammer, von allen möglichen Gebundenheiten — seelisch gebunden und an allem Erdenklichen krankend. Ehe wir aus Seiner Fülle nehmen können, was in Seiner Fülle liegt — Gnade um Gnade —, müssen wir die Gnade nehmen, die aller anderen Gnade zugrunde liegt — nämlich, daß wir aller eigenen Fülle los werden — daß wir los werden der Welt, in der wir gelebt und die uns Kopf und Herz und Phantasie angefüllt hatte mit Eitelkeit, Sichtbarkeit, Vergänglichem, Schmutz, Menschenfurcht und Menschenliebe. Dahinein will Gott Seine Fülle nicht gießen und gießt Er Seine Fülle nicht — da muß zuerst aufgeräumt werden. Wer das schreiben und sagen kann: „Aus Seiner Fülle haben wir alle genommen Gnade um Gnade", der hat sein Pfingsten schon erlebt — er ist neugeboren, für eine neue Welt aufgewacht; er ist durch das Blut des Lammes gewaschen und gelöst von seiner alten Natur, die dem Sinnlichen und Sichtbaren zusteuerte, dort ihr Begehren hatte, von dorther fürchtete. Er muß namentlich gelöst sein von sich selbst. Wer voll ist von sich selbst, kann Gottes Fülle nicht aufnehmen. Da ist kein Raum für sie, und Gott muß da ein Menschenkind und auch ein Christenkind je und je sehr schwer führen, um es herauszubringen aus der Welt, in der es seine Heimat hatte und deren Bild sein Herz ausgefüllt hatte. Das kann oft nur durch schwere Führungen geschehen. Aber es kann Gott auch dem Einfältigen, Aufrichtigen in einem Augenblick eine alte Welt zertrümmern und eine neue anstatt besten heraufführen. So war es bei Saulus. Dieser hatte nichts Besseres gekannt als einen tadellosen Wandel im Gesetz — da hat ihn Gott auf den Boden geworfen und so geblendet mit Seinem Licht, daß er nicht mehr in die alte Welt zurück konnte. Eine neue Welt war ihm zwar aufgegangen, aber er konnte sie noch nicht fassen. „Herr, wer bist Du? Was willst Du, daß ich tun soll?" fragt er. Und so muß uns allen — davon zeugt gerade Johannes 1 — ein neues Licht erscheinen. Wer jetzt aber noch in seiner eigenen Fülle bleibt, der ist schuldig und verantwortlich vor Gott und Menschen. Er ist ein Nachtkind. Er verdunkelt anderen die Luft mit seinem Leben, seinem Selbstleben, seiner eigenen Fülle. Es geht auch hier wie in Bezug auf alles andere: „Wes das Herz voll ist, des geht der Mund über." Die Fülle läuft über und verbreitet Schmutz, Kot, Verderben. So lassen wir es uns denn nicht verdrießen, wenn Gott bei uns allen auf dem Plane ist oder bis jetzt hat darauf hinarbeiten müssen, uns den Boden unter den Füßen wegzuziehen — den Boden, auf dem wir eingewurzelt waren, an den unser Gedächtnis, unsere Hoffnungen, Erinnerungen, Befürchtungen, unsere Liebe geknüpft waren. Der Weg zum Leben geht durch den Tod. „In Ihm ist erschienen das Leben" — in Ihm ist erschienen die Fülle. Laste es sich auch niemand verdrießen, wenn Gott dafür seinen Nachbar, seine Mitschwester, seinen Mitarbeiter, den leiblichen Bruder, seine Familienglieder, Verwandte, diejenigen, die in Geschäftsverbindung mit ihm stehen, die Brüder und Schwestern, die auf dem gleichen Gebiet der Evangelisation mit ihm arbeiten, gebraucht. Er gebraucht alles. Er gebietet den Winden und Elementen. „Denen, die Gott lieben, müssen alle Dinge zum Guten zusammenwirken" — und denen, die Ihn noch nicht lieben, die Er aber aus der Welt der Eitelkeit und Vergänglichkeit herausziehen und in Sein Leben hineinziehen will — auch denen müssen alle Dinge zum Besten dienen. Da ist alles an der Arbeit, ihn herauszuführen aus der Leere der Eitelkeit und Sichtbarkeit — und erst, wenn man sich da einmal hat das Alte zertrümmern lassen, kann der Herr alles in die Hand nehmen und füllen. Erst wenn man Seine Erquickung und Seinen Trost hat nehmen können, schwindet die Leere, da mag es noch so sehr geregnet und gestürmt haben, so daß man dachte, es könne nie mehr Licht werden auf dem Wege; laß es nur geschehen. Es geht früher oder später ein neues Licht auf, um dann nie mehr unterzugehen.
„Welt ohne Ende" — die Heimat unserer Geister. Wir sind nicht dazu geschaffen, daß wir uns mit Sichtbarem den Bauch füllen — sondern wir sind losgekauft von der Sichtbarkeit, der Sinnlichkeit, der Eitelkeit — wir sind frei geworden oder frei werdend durch das Blut des Lammes für Sein Leben, Seine Fülle, für das Verständnis der unsichtbaren Welt, die in Christo Jesu zusammengeschlossen ist; denn in Ihm wohnt die ganze Fülle der Gottheit leibhaftig. Es ist nichts in Gott, was sich nicht im Sohne wiederfände und uns nicht im Sohne entgegenträte — dem einen dies, dem anderen das. Keins von uns hat die Fülle, aber wir können ausgefüllt werden, und wir sollen ausgefüllt werden mit dem Herrn und mit Seinem Leben und Seinem Licht und Seiner Gnade. Wir haben genommen — das ist aber eine Vergangenheit, welche fortdauert. Man hört nicht auf zu nehmen. Das hört nie auf. Wir sind nie am Ende, haben nie ausgeschöpft, und zwar haben wir — nach Vers 16: „empfangen Gnade um Gnade". Das Wörtchen, das im Griechischen gebraucht ist, bedeutet auch: „anstatt, gegen" — Gnade gegen Gnade. Das heißt: wir haben eine erste Gnade — ohne sie zu verlieren — umgetauscht gegen eine zweite Gnade, dadurch daß wir sie ausleben. Jede Gnade, die man auslebt, macht Raum für eine andere. Da ist fortwährender Austausch. Ein Abgrund ruft dem anderen, eine Gnade der anderen, eine Lebensmitteilung der anderen, und dabei wird das arme, irdische Gefäß, das zusammengeschnürt war von fleischlichen Erinnerungen und Hoffnungen und Befürchtungen, wieder frei, um in seine göttliche Bestimmung und Fähigkeit einzutreten. Es erweitert sich, ist nicht mehr zusammengeschnürt — es findet eine unbegrenzte Herzenserweiterung statt durch die Gnade. Was wir direkt von Menschen annehmen, kann uns beengen und belasten — eine Zeitlang erquicken und dann belasten. Was von Gott kommt — wenn es sich einmal Bahn gebrochen hat in uns hinein, und wenn das Alte dem Neuen Raum gemacht hat, so findet das gerade Gegenteil statt. Jede aufgenommene Gnade macht Raum für neue Gnade, und ein Tag in einem Christenleben, der nicht Raum gemacht hat für neue Gnade, ist ein verlorener Tag. Hast du gestern aus der Gnade geschöpft, wo hast du heute Bedürfnis und Fähigkeit, tiefer in die Gnade hineinzugreifen, dich tiefer hineinzuwerfen in dieses Meer, als du es gestern tun konntest. „Jeder Tag", heißt es in Gottes Wort, „hat seine eigene Plage" und hat auch seine eigene Gnade — ja, gerade die Plage wird zur Gnade. Was uns gedrückt hat, wird auf eutestamentlichem Boden zur Bereicherung für uns. Die Gnade, die wir aufgenommen haben, geht unserem natürlichen Leben tiefer an die Wurzel denn je, bis alles in uns ausgefüllt ist von der Gnade, bis nichts anderes mehr aufkommen kann, auch wenn es sich geltend machen will in diesem Meer der Gnade — soviel unser Herz fassen kann — eine Fülle, die Fülle, die wir fassen können und die sich — wie gesagt — nach allen Seiten hin unendlich erweitert. Da steht dann noch der andere Vers dabei: „Das Gesetz ward durch Moses gegeben, die Gnade und Wahrheit ist durch Jesum Christum geworden." Die Gesetzeszeit, die Zeit Mose, war die Zeit, wo Gott forderte — die Kraft, das vom Gesetz Geforderte zu halten, ist durch Jesum Christum geworden. Diese existierte gar nicht, die ist geworden, ins Dasein getreten durch Jesum Christum. Wer Jesum Christum nicht kennt, Ihm nicht nahe steht, kann nicht nehmen aus der Fülle Gottes Gnade und Wahrheit. Die Gnade und Wahrheit — Gnade im Gegensatz zum Schein — die Gnade und Wahrheit ist durch Jesum Christum geworden. Sie ist da — eine Welt von Gnade und Wahrheit im Gegensatz zu einer Welt von Anstrengung und Lüge und Schein und Engherzigkeit. O öffnen wir doch in diesen Tagen, wo so manche Gott in der Stille begegnen dürfen, ehe ihr wieder zurückkehrt mitten in die Ansprüche einer großen oder kleinen Aufgabe — öffne sich da jeder doch ganz und lerne jeder schöpfen, besser als bisher nehmen, was er bedarf aus der Fülle Gottes, die sich am Kreuze Christi aufgetan und aus der nun der Geist Christi schöpft. Er öffnet uns die Augen und bietet uns auf dem Wege Gnade um Gnade.
Ergänzung zu Vers 16 aus dem Jahre 1911.
Gott hat von seinem Volke nichts verlangt als Gehorsam und Liebe — und Er hat nicht Gehorsam und Liebe von ihm verlangt, ohne Sich ihm als ein Gott der Liebe zu offenbaren. Das hat Er schon im Garten Eden getan, als Er dem Menschen die Wunder der Schöpfung zu Füßen legte und ihn als Herrn der Schöpfung einsetzte, und der Mensch hätte wahrlich Gelegenheit gehabt, in dem allen die Liebe seines Gottes zu erkennen. Was hat Gott von ihm verlangt? Gar nichts als Vertrauen. Es war eine Vertrauensprobe, als Gott ihm einen Baum zeigte, von dem er nicht essen sollte. Da handelt es sich darum, auszuweisen, daß er Ihm nicht mißtraute in diesem Stücke. Gott meint es unter allen Umständen gut, auch wenn Er dann und wann etwas vorenthält. Ein einziger Baum! Die ganze wunderbare Schöpfung zeugte an allen Ecken und Enden von der Liebe Gottes — wahrhaftig, da hatte der Mensch das beste Unterpfand, das er wünschen konnte, um nicht die eine Sünde — die Sünde aller Sünden — zu begehen, Mißtrauen gegen Gott sich in die Seele spritzen zu lassen: „Gott gönnt es euch nicht; Er will euch in der Minderjährigkeit zurückhalten." Man wird Gott gleich durch Gehorsam und Vertrauen — durch Gehorsam und Vertrauen wird man umgestaltet in das Bild Gottes, das Jesus Christus uns ganz ungetrübt und fleckenlos geoffenbart hat in Seinem Leben, Leiden und Sterben, in Wort und Werk. Alles, was Er tat und sagte und litt, war Offenbarung Seiner Herrlichkeit, so daß die Heiligkeit ihr Erschreckendes verliert und nur noch da ist als ein Grund zu heiliger Furcht, zu heiliger Eifersucht für einen so großen, heiligen Gott, der uns zu Söhnen und Töchtern adoptiert in Seinem geliebten Sohne. Diese Proben — diese Scheidewege — Vertrauen oder Mißtrauen — die kommen immer wieder, bis wir im Vertrauen vollendet und versiegelt sind, bis die neue Natur so ausgestaltet ist, daß kein Raum mehr ist für Mißtrauen, für Zögern, für sklavisches Zurückbleiben hinter dem, was Gott von uns will, bis wir von unserer Verderbtheit, von der Tiefe des Falles, von der Schlechtigkeit, in die unsere Natur hinabgesunken ist, so überzeugt sind, daß wir für keine Aufgabe, für kein Wort Gottes, für keinen Dienst, für keine Entscheidung im äußeren oder inneren Leben Kraft in uns selbst suchen, nichts mehr aus uns selbst tun (sondern immer nur das, was wir den Vater tun sehen) und gelernt haben, uns gründlich zu schämen, daß da, wo unser Meister — der Sohn des Hauses —, der nie gesündigt hat, nichts aus Sich Selbst getan, sondern immer nur tat, was Er den Vater tun sah, wir da noch imstande sein wollen, unseren Entschlüssen und Vorsätzen zu vertrauen. Solange das der Fall ist, gibt es immer wieder Rückschläge, und wir stehen da als Enttäuschte. Warum? Weil wir, nachdem Adam nicht der Güte Gottes geglaubt, nicht an die Wahrheit Gottes geglaubt und nicht an die Tiefe des Falles, um für jeden Akt des Gehorsams zu schöpfen aus Seiner Fülle, zu leben aus Seiner Gnade und so dem Geiste Gottes Raum zu machen, die Natur Jesu Christi in uns auszugestalten — die Charakterzüge der wahren Menschheit, wie der Herr Jesus sie dargestellt hat. „Siehe, der Mensch", hat Pilatus gesagt. In den letzten Lebensstunden unseres Heilandes hat der gottlose Hohepriester und hat auch Pilatus von Ihm weissagen müssen: „Es ist gut, daß ein Mensch — der Mensch — sterbe für das Volk." Ja, das war der Mensch, der wahre Mensch, und aus der Fülle dieses Menschen, in dem die ganze Menschheit eingeschlossen ist, in dem die Fülle der Gottheit und der Menschheit wohnt, aus Ihm haben wir alle genommen und aus Ihm schöpfen wir alle Tage Gnade um Gnade. Das Ausleben einer Gnade macht einer anderen Gnade Raum. Eine Gnade ruft einer anderen Gnade. Gerade wie jedes Zurückbleiben der Sünde Raum macht, so macht jeder Akt des Gehorsams der Gnade Raum, uns Seinem Bilde entgegenzuführen, endlich — in gerader Linie abwärts in Demut und Einfalt und in gerader Linie aufwärts in Gnade und Herrlichkeit von Gehorsam zu Gehorsam. Wir dürfen uns nur darin üben, alles mit unserem Gott durchzumachen, alles zu tun; dann können wir nicht anders als Ihn lieben. Es gibt Menschen, von denen wir sagen: „Man muß sie lieb haben" — und doch gibt es, solange sie nicht ganz von dem Fall erlöst sind, immer noch Dinge bei ihnen, die nicht stimmen. Christus gegenüber aber können wir sagen: „Zu wem sollten wir gehen? — Du hast Worte des ewigen Lebens" — Du hast es uns angetan. Wir haben geglaubt und dann auf Grund des Glaubens erkannt, daß Du bist Christus, der Sohn des lebendigen Gottes, und jeder Vertrauensakt vermehrt die Erkenntnis, daß uns der Geist Gottes weiter Christi Bild verklären und tiefer aufschließen kann, um uns dann tiefer in dasselbe einzuführen. Jede Erkenntnis eines neuen Stückes Herrlichkeit in Christo gibt neue Freudigkeit, Ihm zu vertrauen weiterhin, und verstärkt die moralische, sittliche Unmöglichkeit, Ihm zu mißtrauen. So führt uns der Geist Gottes, indem er uns Christum verklärt und in der Nachfolge Christi stärkt, Schritt für Schritt, von Umgestaltung zu Umgestaltung zur Ehre Gottes des Vaters.