Behandelter Abschnitt 2Kor 6,1-10
Im fünften Kapitel unseres Briefes ist die Rede gewesen von der Evangelisation, einem Teil des Dienstes, der allen Menschen gilt. Die jetzt gelesene Stelle aus dem 6. Kapitel zeigt uns, dass dieses gleiche Evangelium eine ganz besondere Mahnung für die Nationen hat. So ist das Wort des Apostels zu verstehen: „Mitarbeitend aber ermahnen wir auch, dass ihr die Gnade Gottes nicht vergeblich empfanget.“ Wenn diese Stelle nicht richtig verstanden wird, kann sie leicht die Seelen in Verwirrung bringen. So haben die einen aus ihr herauslesen wollen, dass der Christ seines empfangenen Heils wieder verlustig gehen kann, während andere zu beweisen versuchen, dass „die Gnade Gottes vergeblich empfangen“ nicht den völligen Verlust der Gnade seitens dessen, der sie empfangen hat, bedeute.
Beide Ansichten sind unrichtig. „Die Gnade Gottes vergeblich empfangen“ kann tatsächlich nur eins bedeuten, nämlich jedes mit dieser Gnade verbundenen Vorrechts verlustig zu gehen. Gott schwächt niemals die Verantwortlichkeit des Menschen ab, auch nicht diejenige des Christen, oder vermindert sie dadurch, dass er sie mit der Gnade vermischt; anderseits aber kann allein die Gnade uns von den Folgen unseres Bankrotts retten, was unsere Verantwortlichkeit betrifft. Seit dem Beginn der menschlichen Geschichte werden diese beiden Grundsätze in ihrer ganzen Strenge nebeneinander aufrechterhalten. Der verantwortliche Adam, der vor Gott nackt erfunden wird, stirbt und erntet so die Folgen seines Ungehorsams; aber die Gnade bekleidet diesen selben Adam und führt ihn in das Leben ein, da, wo sein Ungehorsam ihm den Tod gebracht hatte.
Der folgende Vers ist ein Zwischensatz: „Denn er spricht: „Zur angenehmen Zeit habe ich dich erhört, und am Tage des Heils habe ich dir geholfen.‘ Siehe, jetzt ist die wohlangenehme Zeit, siehe, jetzt ist der Tag des Heils“ (V. 2). Diese Stelle ist Jesaja 49 entnommen, jenem Kapitel, dessen drei erste Verse uns Israel, auf das Jehova sich als auf seinen Knecht zu stützen versucht hatte, in völliger Untreue zeigen im Blick auf das, was Gott von diesem Volk erwartete. Dann, im vierten Vers, spricht Christus, der treue Knecht: „Umsonst habe ich mich abgemüht, vergeblich und für nichts meine Kraft verzehrt.“
Der Herr ist gekommen, um als Israels Stellvertreter vor Gott hinzutreten, aber die, für welche er kam, hatten betreffs der Gnade, die ihnen in seiner Person gebracht worden war, ihr völliges Zukurzkommen bewiesen. Sie hatten die Gnade Gottes vergeblich empfangen. Deshalb fährt der Herr im fünften Verse fort: „Und Israel ist nicht gesammelt worden; aber ich bin geehrt in den Augen Jehovas, und mein Gott ist meine Stärke geworden.“ Darauf antwortet Gott ihm (V. 6): „Es ist zu gering, dass du mein Knecht seiest, um die Stämme Jakobs aufzurichten und die Bewahrten von Israel zurückzubringen; ich habe dich auch zum Licht der Nationen gesetzt, um mein Heil zu sein bis an das Ende der Erde.“ So ist seine Arbeit doch nicht umsonst.
Ja, die Frucht derselben wird bis zu den Grenzen der bewohnten Erde gesehen werden. Aber auch selbst für Israel wird diese Arbeit nicht verloren sein, freilich erst in der Zukunft. Gott sagt zu Christo, seinem Knecht: Ich habe dich erhört, und ich habe dir geantwortet: „Zur Zeit der Annehmung habe ich dich erhört, und am Tage des Heils habe ich dir geholfen“ (V. 8). Alles, was du für Israel getan hast, ist vergeblich gewesen, aber später werde ich dich setzen zum Bund des Volkes. Und dann beschreibt er in den Versen 9–13 diese wunderbare Wiederherstellung.
Aber „siehe“, sagt der Apostel, „jetzt ist die wohlangenehme Zeit, siehe, jetzt ist der Tag des Heils“ (V. 2). Jetzt scheint das Licht der Nationen. Wenn man das erkannt hat, wird diese Stelle sehr einfach. Indem er sich an die Korinther wendet, ermahnt Paulus die Nationen, es nicht zu machen wie Israel und nicht die Gnade Gottes vergeblich zu empfangen. Da wir zu diesen Nationen gehören, sollten wir darauf achten, wie wir die Gnade Gottes empfangen, und sollten auf eine Weise wandeln, die in Einklang mit ihr steht. Das gehörte zu dem Dienst des Paulus.
Weiterhin zeigt der Apostel, dass er, was ihn persönlich angeht, die Gnade Gottes nicht vergeblich empfangen hat (V. 3–10). Er tritt im Charakter eines Knechtes Gottes, wie sein Herr und Meister, vor die Korinther. Inmitten von Juden und Nationen gibt er „in keiner Sache irgendeinen Anstoß, auf dass der Dienst nicht verlästert werde, sondern in allem erweist er sich als Gottes Diener“. Was aber sind die Eigenschaften, die den Diener empfehlen? Verweilen wir, um zu sehen, was Gott von uns erwartet, ein wenig bei dem, was der Apostel Paulus gewesen ist: „in vielem Ausharren“ oder „in vieler Geduld“. Eine Sache kennzeichnet in erster Linie den Diener: Ausharren oder Geduld, um alles zu ertragen. „In Drangsalen, in Nöten, in Ängsten.“
Hier haben wir es mit Schwierigkeiten zu tun, von denen eine noch größer ist als die andere. Drangsal ist wohl die schlimmste. Dieses Wort kehrt immer wieder sowohl in den Psalmen als auch in den Propheten, wohl deshalb, weil es eine ganz besondere Bedeutung hat, die der „großen Drangsal“, der „Drangsal für Jakob“, (Jer 30,7) durch die der gläubige jüdische Überrest am Ende wird gehen müssen. Während aus Nöten und Ängsten noch irgendein Ausweg führen mag, hier gibt es keinen Ausweg mehr, so dass der Gläubige nur noch ruft: „Bis wann?“, indem er sein Vertrauen einzig und allein auf Gott setzt. So musste David durch Drangsale, Nöte und Ängste hindurch, bis er keinen Ausweg mehr sah. Aber da öffnete Gott seinem Gesalbten einen Weg vor Saul und vor Absalom. Und wie David war auch der Apostel durch alle diese Dinge hindurchgegangen in ausharrender Geduld.
Dann nennt der Apostel Streiche, Gefängnisse, Aufstände, Mühen, Wachen, Fasten. Am Ende dieses Briefes erfahren wir, was Paulus an Derartigem alles durchgemacht hat. Die Apostelgeschichte gibt uns sozusagen nur eine Probe davon, denn Gott hat nicht alle Einzelheiten aus dem Leben des Apostels aufgezählt, während er zugleich aber doch soviel mitteilt, wie nötig ist, um eine erschöpfende Darstellung von der hingebenden Laufbahn eines Knechtes des Herrn auf Erden zu geben. Auch darin folgte der Apostel, wenn auch ohne Zweifel von ferne, dem Beispiel seines göttlichen Meisters, von dem der geliebte Jünger sagte: „Wenn die Dinge, die Jesus getan hat, alle einzeln niedergeschrieben würden, so würde, dünkt mich, selbst die Welt die geschriebenen Bücher nicht fassen.“ „In Reinheit, in Erkenntnis, in Langmut, in Gütigkeit, im Heiligen Geiste, in ungeheuchelter Liebe; im Worte der Wahrheit, in der Kraft Gottes; durch die Waffen der Gerechtigkeit zur Rechten und zur Linken“ (V. 6.7). Auch diese Dinge durften bei diesem Dienst nicht fehlen: Der Heilige Geist, ungeheuchelte Liebe, das Wort der Wahrheit!
Möchten wir das doch recht verstehen! Durch seine Gnade hat Gott uns mit seinem Wort in Verbindung gebracht und uns davon überzeugt, dass wir ohne dieses Wort keinen Schritt zu tun vermögen. Aber beachten wir wohl, dass als Grundlage unseres ganzen Christenlebens das Wort der Wahrheit genannt wird, nicht einfach das Wort Gottes. Es ist das Wort, in welchem Gottes Gedanken ihre völlige Offenbarung gefunden haben! Dieses Wort hatte der Apostel in Händen, um das Werk Gottes in dieser Welt zu tun. Nun, dieses Werk ist ein Kampf ; deshalb fügt der Apostel hinzu: „in der Kraft Gottes; durch die Waffen der Gerechtigkeit zur Rechten und zur Linken“. Unter den Waffen der Gerechtigkeit zur Rechten oder der rechten Hand haben wir das Wort zu verstehen, unter denen zur Linken den Schild des Glaubens. Einerseits müssen wir durch das Wort kämpfen und anderseits dem Feind widerstehen. Diese Waffen sind Waffen der Gerechtigkeit, denn das Wort erweist sich nur dann wirksam, wenn praktische Gerechtigkeit den kennzeichnet, der es bringt. Nur wenn wir mit dieser Gerechtigkeit bewaffnet sind, vermögen wir die feurigen Pfeile des Bösen auszulöschen.
Ein Christ besitzt alle nötige Kraft zum Widerstand, alle nötige Kraft auch zum Kampf in dieser Welt; aber um zu siegen, muss er sich vor der Sünde auf seinen Wegen hüten. „Er leitet mich in Pfaden der Gerechtigkeit um seines Namens willen“, sagt der Psalmist, hier freilich im Blick auf den Wandel, nicht auf den Kampf. Wenn wir Christi Pfad folgen, werden wir niemals die Sünde unter unseren Füßen finden. Gibt es eine Begegnung mit ihr, so nur, um sie zu bekämpfen. Der Herr selbst ist hierin für uns das vollkommene Vorbild. „Als Verführer und Wahrhaftige; als Unbekannte und Wohlbekannte.“ Diese Worte erinnern mich an das Leben eines Bruders, den wir wegen seiner Gaben und seiner Frömmigkeit hoch geschätzt haben. Er hat diese Worte verwirklicht, indem er in den Spuren des Apostels wandelte. Von den Menschen beschuldigt, ein falscher Lehrer und ein Verführer zu sein, war er in Gottes Augen ein Wahrhaftiger.
Sein Name galt denen, die ihn aussprachen, als Schandfleck, und es war, als ob man sich verschworen hätte, ihn mit Stillschweigen zu übergehen. Man behandelte ihn als Unbekannten, aber Gott war er wohlbekannt. Das ist es, wonach wir, was uns betrifft, trachten sollten. Wenn wir, ohne an uns zu denken, in dieser Welt als Diener Christi wandeln, was tut es dann, wenn die Welt uns nicht kennt? Gott kennt uns. Unser Weg ist höchst einfach, denn wir haben ihn nur von einem Gesichtspunkt aus zu betrachten. Was kümmert es mich, der Welt ein Unbekannter zu sein, wenn Gott von mir spricht, wie er einst von Abraham sagte: „Ich habe ihn erkannt“!? „Als Sterbende, und siehe, wir leben; als Gezüchtigte und nicht getötet; als Traurige, aber alle Zeit uns freuend; als Arme, aber viele reich machend; als nichts habend und alles besitzend“ (V. 9.10).
Paulus war immer ein Sterbender, einer, der seitens der Welt ständig zum Tode verurteilt war, aber siehe, Gott erhielt ihn am Leben. Er wurde gezüchtigt, und Gott bediente sich der Rute in der Hand der Welt zum inneren Wachstum seines geliebten Apostels. Zur rechten Zeit aber hielt Gott, wie bei Hiob, die Hand Satans auf, der den Diener gern getötet hätte, um sich seines Zeugnisses zu entledigen. Bei aller Trauer, in der er oft war, war sein Herz doch voll Freude, weil seine Augen nicht auf die Umstände gerichtet waren, sondern auf die Person Christi. Er war arm, aber machte viele reich. Er hatte nichts und besaß doch alles. Das sind die letzten Züge, die dieses Bild trägt. Wen sehen wir in ihnen? Paulus, gewiss, aber einen Paulus, der in allem seinen Meister nachahmte. Wer war arm wie er, aber machte viele reich? Von ihm steht geschrieben, dass er arm wurde, auf dass wir reich würden. „Nichts habend und alles besitzend.“ Haben wir unseren Herrn da nicht wieder? Er hatte nichts in dieser Welt. Galt es, die Doppeldrachme zu bezahlen – Er hatte sie nicht.
Trotzdem gehörten ihm alle Dinge, und er verfügte zu aller Gunsten darüber. Dem Apostel ist es von Anfang bis zu Ende seiner langen Laufbahn gelungen, in seinem Leben die Charakterzüge seines Herrn wieder hervortreten zu lassen, und er war vollkommen glücklich dabei. Denn mochte er auch nichts in dieser Welt gefunden haben, er befand sich im Besitz eines Gegenstandes, der sein alleiniges Vorbild geworden war, und in welchem sich alle seine Zuneigungen vereinigten. Lasst uns oft über diese Stelle nachsinnen, denn es ist für uns der Mühe wert, den Dienst zu erfüllen, den der Herr uns anvertraut hat! Bitten wir ihn auch inständig um die Gnade, diese Charakterzüge zur Schau stellen zu können! Dass die Verwirklichung aller dieser Dinge möglich ist, beweist das Beispiel des Apostels. Zugleich soll es uns hindern, den Mut zu verlieren beim Erwägen der Vortreffilichkeit des Dienstes, wie er durch unseren Herrn und Meister, den vollkommenen Diener, erfüllt worden ist.
Die Frage, auf die es ankommt, ist: Welchen Platz nimmt der Herr in meinem Herzen und in meinen Gedanken ein? Wenn er mein Herz ganz ausfüllt, so werde ich imstande sein, ihn zu ehren, indem ich ihm folge. Hier schließt der erste Teil dieses Briefes.