Behandelter Abschnitt 2Kor 5,13-21
Wir haben uns das letzte Mal mit der Frage beschäftigt, welche Stellung die Welt und anderseits die Christen den drei Tatsachen: Sünde, Tod und Gericht, gegenüber einnehmen. Wenn der Sünder vor diese Frage gestellt wird, so ist seine Lage verzweifelt, und er hat nichts zu erwarten als ewiges Verderben. Ganz anders der Christ. Wo sind seine Sünden? Sie sind verschwunden, da für ihn die Frage der Sünde am Kreuz geregelt wurde, wo Christus an unserer Statt zur Sünde gemacht worden ist. Und wie steht es im Blick auf den Tod? Nun, er ist für uns nichts weiter als die Vorstufe der Auferstehung, oder besser ausgedrückt, der Tod ist gleichsam nur eine Nebenerscheinung auf unserem Wege, während die Auferstehung die Wirklichkeit ist.
Der Apostel wusste das. „Wo ist, o Tod, dein Stachel?“ ruft er, „wo ist, o Tod, dein Sieg?“ Die Macht des Todes ist für uns ebenso völlig geschwunden wie die der Sünde. Bleibt noch das Gericht. Was ist darüber zu sagen? Dass der Richterstuhl des Christus eine unendlich gesegnete Sache für jeden Christen ist, der weiß, dass die Gnade ihn vom ersten Schritt an begleitet hat, um ihn endlich vor diesen Richterstuhl zu führen. Dort wird alles, was sie getan haben, mit allen Einzelheiten, wie ein Bild vor den Augen der verherrlichten Heiligen, vor den Augen Gottes und den Augen Christi stehen. Gott wird alles ins volle Licht rücken, nicht, um uns die Strafe für unsere Sünden tragen zu lassen, sondern zur Verherrlichung seiner Gnade. Indessen gibt es noch etwas anderes, das wir nicht vergessen dürfen: Unser Verhalten in dieser Welt wird ewige Folgen haben, wenn wir in der Herrlichkeit sind, nicht zu unserer Verurteilung, sondern weil der Richterstuhl der Ort der Kronen und der Belohnungen ist.
Der Apostel wusste am Ende seiner langen Laufbahn, dass seiner eine Belohnung wartete, denn er sagt: „Fortan liegt mir bereit die Krone der Gerechtigkeit, welche der Herr, der gerechte Richter, mir zur Vergeltung geben wird an jenem Tage“ (2Tim 4,8). Gewiss sind wir nicht dazu berufen, dem Herrn wie Arbeiter um Lohn zu dienen, wohl aber so, dass wir ihm in unserem ganzen Verhalten wohlgefällig sind, damit wir dann vor seinem Richterstuhl aus seinem eigenen Munde die Worte vernehmen dürfen: „Wohl, du guter und treuer Knecht! . . . Geh ein in die Freude deines Herrn.“ Das ist etwas anderes, als hören zu müssen: Du bist untreu gewesen; ich hatte eine Krone für dich bereit, aber ich kann sie dir nicht geben. Ich gebe sie einem anderen, und du, du gehst leer aus.
Der Apostel Paulus konnte mit Gewissheit darauf rechnen, eine schöne Krone der Herrlichkeit zu empfangen: alle die, welche er zu Christo geführt hatte, würden sie bilden. Was für eine Krone aber werden andere Christen in der Herrlichkeit erhalten, Christen, die für sich selbst oder für die Welt gelebt haben, die sich an ihren Gedanken, ihren Plänen und ihrem Verhalten genug sein ließen, anstatt an die Seelen zu denken, mit denen der Herr sie in Verbindung gebracht hat? Der Herr bedient sich daher dieses Ausblicks, um uns zu ermuntern, aber auch, um uns ernst zu stimmen. Es ist nicht gut damit, dass ich weiß: Der Richterstuhl Christi ist für mich nicht ein Ort ewiger Verdammnis. Es ist ein feierlicher Gedanke, wir könnten am Ende unserer irdischen Laufbahn vor dem Richterstuhl erscheinen, ohne auch nur ein Zeugnis der Zufriedenheit von unserem geliebten Herrn zu empfangen hinsichtlich dessen, was wir für ihn getan haben. Gehen wir nach dieser Wiederholung nunmehr zur Betrachtung der heute gelesenen Stelle über: „Denn sei es, dass wir außer uns sind, so sind wir es Gott; sei es, dass wir vernünftig sind – euch“ (V. 13).
Hier möchte vielleicht der eine und andere erstaunt aufhorchen, wenn ich behaupte, dass diese Tatsache auch uns kennzeichnen sollte. Nicht so, als ob wir etwa dazu berufen wären, „außer uns zu sein“, wie der Apostel Paulus es gewesen ist. Diese Ermunterung hat Gott nur ihm auf seiner mühseligen und mit so vielen Schwierigkeiten besäten Laufbahn geschenkt. Aber wir haben hier das Beispiel eines Menschen, bei dem das Ich, die Selbstsucht des natürlichen Herzens, keinerlei Rolle spielte. Befand Paulus sich in einer Entzückung, so war es nicht für ihn, sondern für Gott; war er vernünftig, d. h. in ruhiger Besonnenheit, so war es ebenfalls nicht für ihn, sondern für seine Kinder im Glauben. So war das Leben des Apostels geteilt zwischen Gott, zu Dem er in den Himmel entrückt wurde, und seinen geliebten Korinthern, indem er nur an sie dachte, wenn er „vernünftig“ war. Wie war derartiges nur möglich? Deswegen, weil die Liebe Christi ihn drängte und von ihm Besitz ergriffen hatte.
Das war Grund und Triebfeder dieses ganzen Lebens. Was anderseits das Verhalten des Paulus der Welt gegenüber anlangte, so gab es da zwei Beweggründe, die sein Herz erfüllten. Beim Gedanken an den Richterstuhl dachte er zuerst an die Menschen. Was wird aus ihnen werden, wenn sie vor dem Thron des Gerichts erscheinen müssen? Er kannte den Schrecken des Herrn und wusste, welche Wirkung die Gegenwart des gerechten und heiligen Gottes auf die Sünder ausüben würde. Darum ruft er ihnen zu: Hütet euch vor dem Richterstuhl! Dann aber hatte er ihnen von einer Liebe zu erzählen, die er vor allem kannte, denn er wusste, wie groß die Liebe Christi gegen ihn selbst war. Bis zum Schluss unseres Kapitels bleibt der Dienst auch weiterhin der große Gegenstand.
In den vorigen Kapiteln hatten wir den Dienst des Apostels zugunsten des Volkes Gottes; aber damit ist er nicht erschöpft. Hier wendet sich der Dienst nach außen, an die Welt, und zwar mit diesen beiden Worten, zunächst: Hütet euch vor dem Gericht Gottes! Es handelt sich um eine ernste Sache und zugleich um eine Entscheidung von ewiger Bedeutung. Und zweitens: Öffnet Augen und Ohren, um zu sehen und zu hören, von welcher Art Christi Liebe ist! „Die Liebe des Christus drängt uns!“ Es war nicht seine Liebe zu Christus, die sein Herz erfüllte, sondern Christi Liebe selbst. Meine Liebe zu Christo ist eine so unvollständige Empfindung, dass sie niemals mein Herz füllen wird.
Je weiter wir fortschreiten auf dem Wege des christlichen Lebens, desto mehr sehen wir, wie beschränkt unsere Zuneigung zu ihm ist, verglichen mit seiner Liebe, die sich am Kreuz geoffenbart hat, die sich jeden Tag in der Sorge des Hirten und Hohenpriesters erweist, und die sich in der Zukunft zeigen wird, wenn sie ihre Krönung in der Herrlichkeit findet, dort, wo wir für immer bei ihm und ihm gleich sein werden. „Die Liebe des Christus drängt uns, indem wir also geurteilt haben, dass einer für alle gestorben ist, und somit alle gestorben sind.“ Das ist mit einem Wort die Grundlage und gleichsam das Endurteil des ganzen Evangeliums.
Alle sind in den Augen Gottes tot (in unseren eigenen Augen sind wir es ja niemals); das ist durch die Tatsache bewiesen, dass der Herr Jesus gekommen ist, um für alle zu sterben. Im Herzen des sündigen Menschen gibt es nicht ein Fünkchen göttlichen Lebens: er ist tot. Aber Christus ist gekommen, um sich für alle dem Tode zu unterwerfen, und er hat uns, indem er aus den Toten auferstand, den Weg des Lebens gebahnt. Er hat uns seinen eigenen Platz in einem neuen Leben, einem Auferstehungsleben, gegeben, „auf dass die, welche leben, nicht mehr sich selbst leben, sondern dem, der für sie gestorben ist und ist auferweckt worden“.
Es sei mir gestattet, auf diesen Gedanken, der uns bereits früher beschäftigt hat, noch einmal zurückzukommen. Ich möchte an uns alle die Frage richten: Wie wollen wir von nun an unser neues Leben hienieden verbringen? Was wollen wir daraus machen? Beachten wir es, liebe Freunde, dass wir in diesen Worten das finden, was das Leben des Christen nach den Gedanken Gottes in Wahrheit ausmacht. Es gilt, nicht mehr sich selbst zu leben, sondern Christus! Kann das der sündige Mensch überhaupt? Niemals. Lesen wir nur Hosea 10,1: „Israel ist ein wuchernder Weinstock, der seine Frucht ansetzte.“ So macht es der Mensch. Und an anderer Stelle heißt es: „Die da faseln zum Klange der Harfe, sich wie David Musikinstrumente ersinnen“ (Amos 6,5). Der Prophet führt David an, den großen Erfinder von Instrumenten. David ließ diese Instrumente herstellen, um mit ihnen die Lobgesänge Jehovas zu begleiten. Der Mensch kann, so gut wie David, Musikinstrumente erfinden. Aber er bedient sich ihrer für sich selbst.
Soll unser Leben dieses Gepräge haben? Sagen uns nicht unsere eigenen Gewissen, dass wir als Gegenstände einer solchen Liebe alles Christus opfern und hinfort nicht mehr uns selbst leben sollten? Wenn ich hier in vertrautem Kreise meinen Brüdern und Schwestern diese Mahnung erteile, so dürfen sie davon überzeugt sein, dass ich die gleiche an mich selbst richte und mir durchaus nicht das Recht zuerkenne, mich anderen als Vorbild hinzustellen. Aber es gibt solche Vorbilder in dieser Welt. Ich kenne viele, einfache und aufopfernde Christen, denen Gott Zeugnis gegeben hat, dass sie nicht sich selbst, sondern Dem gelebt haben, der für sie gestorben ist und ist auferweckt worden!
Es ist gut, wenn wir ein wenig stillstehen und alle, ohne Ausnahme, unser Gewissen im Licht der Gegenwart des Herrn prüfen. Haben wir verstanden, zu welchem Zweck er uns neues Leben mitgeteilt hat, das imstande ist, zu lieben, sich ganz hinzugeben und ihm zu dienen? Wir haben solche Ermahnung nötig, denn er weiß sehr wohl, was unsere schwachen und oberflächlichen Herzen sind. Möchten wir doch allezeit diese Worte im Gedächtnis behalten: „Auf dass die, welche leben, nicht mehr sich selbst leben, sondern dem, der für sie gestorben ist und ist auferweckt worden“!