Behandelter Abschnitt 5. Mose 12,4-26
Ein einziger Ort für den Gottesdienst
Aber Israel musste noch mehr tun. Der Gedanke konnte nahe liegen, an den verschiedenen Orten, wo sie den Götzendienst abschaffen mussten, den Altar des wahren Gottes aufzurichten. Aber Gottes Gedanken waren anders (V. 4–7). Israel sollte nur einen Ort der Anbetung haben, und zwar einen Ort, den Gott und nicht der Mensch erwählt hatte. Die Wohnung Gottes, der Ort seiner Gegenwart, sollte der große Mittelpunkt für Israel werden. Dorthin sollten sie alle ihre Opfer bringen. Dort allein sollten sie anbeten und ihre gemeinsame Freude finden. Wie hätte es auch anders sein können? Wenn Gott sich nach seinem Wohlgefallen einen Ort in der Mitte seines erlösten Volkes zu seiner Wohnung erwählte, musste sich das Volk darauf als Ort der Anbetung beschränken.
Alle anderen Orte waren ausgeschlossen, und dies konnte jeder wirklich gläubigen Seele nur Freude bereiten. Jeder, der den Herrn wirklich liebte, konnte nicht anders, als mit ganzem Herzen zu sagen: „Herr, ich habe geliebt die Wohnung deines Hauses und den Wohnort deiner Herrlichkeit“ (Ps 26,8). Und weiter: „Wie lieblich sind deine Wohnungen, Herr der Heerscharen! Es sehnt sich, ja, es schmachtet meine Seele nach den Vorhöfen des Herrn; mein Herz und mein Fleisch rufen laut nach dem lebendigen Gott . . . Glückselig, die in deinem Haus wohnen! Stets werden sie dich loben . . . Denn ein Tag in deinen Vorhöfen ist besser als sonst tausend; ich will lieber an der Schwelle stehen im Haus meines Gottes, als wohnen in den Zelten der Gottlosen“ (Ps 84).
Das ist ein sehr wichtiger Punkt. Die Wohnung des Herrn war teuer für das Herz jedes wahren Israeliten. Ein unstetes Herz verlangte vielleicht nach Veränderung; aber für ein Herz, das Gott liebte, war jede Entfernung aus seiner gesegneten Gegenwart nur eine Veränderung zum Nachteil. Der wirkliche Anbeter konnte nur in der Gegenwart Gottes seine Befriedigung, Segnung und Ruhe finden. Ein solcher dachte nicht daran, woanders hinzugehen. Wohin hätte er auch gehen sollen? Es gab ja nur einen Altar, nur eine Wohnung, nur einen Gott, und dort war der Platz für jeden wirklich aufrichtigen Anbeter. Der Gedanke an einen anderen Ort der Anbetung war für ihn nicht nur ein Abweichen von dem Wort des Herrn, sondern auch eine Entfernung von seiner heiligen Wohnung.
Unser ganzes Kapitel behandelt diesen großen Grundsatz. Mose erinnert das Volk daran, dass in dem Augenblick, da sie das Land des Herrn betraten, der Eigenwille aufhören musste, der das Volk in den Ebenen Moabs oder in der Wüste gekennzeichnet hatte (V. 8–14). Es war in allem, – und dies gilt nicht nur für den Gegenstand, sondern auch für den Ort und die Art seiner Anbetung – durchaus abhängig von dem Gebot des Herrn. Alles Handeln nach eigenem Gutdünken und eigener Macht musste in dem Augenblick ein Ende finden, da sie den Jordan, den Strom des Todes, durchschritten und als erlöstes Volk ihren Fuß auf das von Gott gegebene Erbteil setzten. Waren sie erst einmal im Genuss und in der Ruhe des Landes, dann war der Gehorsam gegen das Wort des Herrn ihr vernünftiger und einsichtsvoller Dienst. Dinge, die Gott in der Wüste hatte durchgehen lassen, konnten in Kanaan nicht geduldet werden. Je größer die Vorrechte sind, umso höher ist die Verantwortung und umso strenger die Richtschnur des Handelns.
Menschen, die sich für die Freiheit des Willens und Handelns, für das Recht des freien persönlichen Denkens in religiösen Dingen einsetzen, werden diese Auffassung sicher als engherzig und unwürdig für unsere aufgeklärte Zeit und für Menschen von Kenntnis und Bildung bezeichnen. Aber hat Gott nicht ein Recht, seinem Volk vorzuschreiben, wie es ihn anbeten soll? Hatte Er nicht ein Recht, den Ort zu bestimmen, wo Er seinem Volk Israel begegnen wollte? Ist es etwa ein Beweis von hoher Bildung, von Herzens- und Geistesgröße, wenn man Gott seine Rechte streitig zu machen sucht?
Wenn Gott ein Recht hat, zu gebieten, ist es dann engherzig und starrköpfig, wenn sein Volk ihm gehorcht? Wahre Herzensweite und rechte Geistesgröße zeigen sich im Gehorsam gegen die Gebote Gottes. Welch ein unaussprechliches Vorrecht war es zugleich für alle, die in der Liebe zu Gott und zueinander standen, sich da zu versammeln, wo Er seinen Namen wohnen lassen wollte. Welch eine herablassende Gnade zeigte sich in seinem Verlangen, sein Volk von Zeit zu Zeit um sich versammelt zu sehen! Aber wurden nicht ihre persönlichen Rechte dadurch beschränkt? Im Gegenteil. Sie wurden nur dadurch vermehrt. Gott sorgte in seiner unendlichen Güte auch da. Er fand seine Freude daran, sein Volk im Einzelnen wie auch gemeinschaftlich mit Freude und Segnungen zu überschütten (V. 20–22). Die Güte und Barmherzigkeit Gottes ließen dem persönlichen und häuslichen Bereich einen weiten Spielraum. Nur bezüglich des Blutes bestand eine Einschränkung: „Nur halte daran fest, kein Blut zu essen, denn das Blut ist die Seele; und du sollst nicht die Seele mit dem Fleisch essen. Du sollst es nicht essen, du sollst es auf die Erde gießen wie Wasser. Du sollst es nicht essen, damit es dir und deinen Kindern nach dir wohlergehe, weil du tust, was recht ist in den Augen des Herrn“ (V. 23–25).
Inwieweit dieser unter dem Gesetz so wichtige Grundsatz, der uns in unseren Betrachtungen über das dritte Buch Mose ausführlich beschäftigt hat, von Israel verstanden wurde, soll uns hier nicht beschäftigen. Das Volk sollte einfach die unumschränkten Rechte Gottes anerkennen und seinen Geboten gehorchen, damit es ihnen und ihren Kindern nach ihnen wohlerging.
Nach dieser kurzen Einschaltung wendet sich der Gesetzgeber zu dem wichtigen Thema des öffentlichen Gottesdienstes Israels. „Jedoch deine heiligen Dinge, die du haben wirst, und deine Gelübde, sollst du nehmen und an den Ort kommen, den der Herr erwählen wird“ (V. 26).
Der Herr wollte von Zeit zu Zeit sein geliebtes Volk um sich versammeln, damit es sich gemeinschaftlich vor ihm freue, und damit Er seine eigene, besondere Freude an ihm habe, eine kostbare Sache für alle, die den Herrn in Wahrheit lieb hatten. Wir dürfen wohl behaupten, dass jeder aufrichtige Israelit von Dan bis Beerseba mit Freuden zu dem Ort eilte, wohin der Herr seinen Namen setzte und wo Er seinem Volk begegnen wollte. In Psalm 122 sehen wir die Gefühle eines Herzens, das die Wohnung des Gottes Israels liebte, den Mittelpunkt der zwölf Stämme Israels, die geheiligte Stätte, mit der sich in den Gedanken jedes aufrichtigen Israeliten all die Herrlichkeit und Freude der Anbetung des Herrn und der Gemeinschaft seines Volkes verband. Wir werden jedoch bei der Betrachtung des 16. Kapitels noch einmal darauf zurückkommen.