Behandelter Abschnitt 5. Mose 9,11-29
Gottes Wohltaten nicht vergessen
Mose kannte jedoch die Neigung des menschlichen Herzens, alles das zu vergessen, den gnädigen Geber aus den Augen zu verlieren und sich mit seinen Gaben zufrieden zu geben. Er richtet daher in den folgenden Versen (11–20) ernste, warnende Worte an die Gemeinde.
Diese Worte reden ebenso ernst zu uns wie damals zu Israel. Vielleicht wundern wir uns über die vielen Wiederholungen der Warnungen und Ermahnungen, über die ständigen Erinnerungen an die Pflicht, dem Wort Gottes in allem zu gehorchen sowie über die immer wiederkehrenden Hinweise auf die großen Tatsachen, die mit ihrer Befreiung aus Ägypten und ihrer Reise durch die Wüste in Verbindung standen.
Aber brauchen wir uns wirklich darüber zu wundern? Müssen wir nicht zugeben, dass auch wir vor allen Dingen Warnung, Zurechtweisung und Ermahnung nötig haben? Brauchen wir nicht Belehrung auf Belehrung, Erinnerung auf Erinnerung? Wir erfreuen uns so gern am Strom des Segens, anstatt zu seiner Quelle vorzudringen. Wir machen die Barmherzigkeiten, Segnungen und Wohltaten, mit denen Gott unseren Weg überschüttet, so gern zu einer Gelegenheit, uns selbst darin zu gefallen, anstatt in ihnen den Grund zu stetem Lob und Dank zu finden.
Könnten die Begebenheiten, an die Mose das Volk immer wieder erinnerte, jemals ihre Wichtigkeit, Kraft und ihren Wert verlieren? Sicher nicht. Die Begebenheiten blieben dieselben, wenn auch Israel sie vergaß und ihren Wert aus den Augen verlor. Wie hätten die Plagen Ägyptens, die Nacht des Passahfestes, die Befreiung aus dem Land der Finsternis, der Schmach und der Knechtschaft, der wunderbare Durchzug durch das Rote Meer, die tägliche wiederkehrende geheimnisvolle Speise vom Himmel, die erfrischenden Wasser aus dem Kieselfelsen – wie hätten alle diese wunderbaren Dinge je ihre Kraft für ein Herz verlieren können, in dem noch ein Funke echter Liebe zu Gott war? Dürfen wir uns darüber wundern, dass Mose sie immer wieder anführte, um die Herzen des Volkes zu bewegen? Er selbst fühlte den mächtigen Einfluss dieser Dinge, und daher wünschte er, dass auch andere ihn fühlten und dadurch angespornt die Ansprüche des Herrn auf ihren rückhaltlosen Gehorsam anerkannten.
Die häufigen Erinnerungen an vergangene Tage und Dinge, die wir in den letzten Reden Moses an das Volk finden, lassen uns an die Worte des Apostels Petrus denken: „Deshalb will ich Sorge tragen, euch immer an diese Dinge zu erinnern, obwohl ihr sie wisst und in der gegenwärtigen Wahrheit befestigt seid. Ich halte es aber für recht, so lange ich in dieser Hütte bin, euch durch Erinnerung aufzuwecken, da ich weiß, dass das Ablegen meiner Hütte bald geschieht, wie auch unser Herr Jesus Christus mir kundgetan hat. Ich will mich aber befleißigen, dass ihr auch zu jeder Zeit nach meinem Abschied imstande seid, euch diese Dinge ins Gedächtnis zu rufen“ (2Pet 1,12-15).
Der Geist, der diese beiden Diener Gottes beseelte, und der Zweck, den sie verfolgten, zeigt eine auffallende Übereinstimmung. Beide kannten die Neigung des menschlichen Herzens, die göttlichen und ewigen Dinge zu vergessen, und beide fühlten die Wichtigkeit und den Wert der Dinge, von denen sie redeten. Daher ihr Wunsch, sie dem Herzen und Gedächtnis des geliebten Volkes Gottes ständig vorzustellen. Eine flüchtige, ruhelose Natur hätte vielleicht zu Mose oder Petrus sagen können: „Habt ihr uns denn gar nichts Neues zu sagen? Warum bleibt ihr immer bei demselben alten Thema? Alles, was ihr zu sagen habt, wissen wir. Wir haben es schon so oft gehört. Wenn wir weiterhin ständig über veraltete Lehren und Gedanken brüten, werden wir unversehens auf dem Trockenen stehen, während der Strom der Zivilisation an uns vorüberrauscht. Bringt uns doch etwas Neues!“
So hätte man damals sagen können, und so könnte heute ein ungläubiges oder weltliches Herz reden; aber der Glaube kennt die Antwort auf solche traurigen Äußerungen. Sicher hätten Mose und Petrus solche Einwürfe kurz abgefertigt, und wir sollten es nicht anders machen. Konnte ein wahrer Israelit müde werden, das zu hören, was der Herr für ihn in Ägypten, am Roten Meer und in der Wüste getan hatte? Ein solches Thema musste seinem Herzen stets frisch und willkommen sein. Ebenso ist es mit dem Christen. Kann sein Herz müde werden, das Kreuz und all die großen und herrlichen Dinge, die damit in Verbindung stehen, zu betrachten? Kann es ihn ermüden, Christus und sein Werk, seinen Dienst, seine unvergleichliche Herrlichkeit und seine unermesslichen Reichtümer zu erforschen? Alle diese Dinge sind und bleiben seinem Herzen lieb und wertvoll. Kann die Wissenschaft Christus etwas hinzufügen oder kann menschliche Gelehrsamkeit das große Geheimnis der Gottseligkeit vollkommener machen, das einen „Gott, offenbart im Fleisch“, als Fundament und einen verherrlichten Menschen im Himmel zum Schlussstein hat? Könnte es etwas Höheres geben?
Wenn wir die Werke Gottes in der Schöpfung betrachten, finden wir da nicht schon dasselbe? Könnten wir z. B. jemals der Sonne müde werden? Sie ist nicht neu. Ihre Strahlen ergießen sich bereits seit mehr als sechstausend Jahren über diese Erde, und doch sind sie heute noch jeden Tag ebenso neu und willkommen wie zur Zeit, da sie geschaffen wurden. Oder könnten wir je des Meeres überdrüssig werden? Auch das Meer ist nicht neu. In regelmäßiger Ebbe und Flut sind seine Wasser schon unzählige Male hin- und hergeströmt, und doch sind seine Wellen heute noch so willkommen an unseren Ufern und so gerne gesehen wie je. Allerdings ist die Sonne oft zu blendend für die schwachen menschlichen Augen, und das Meer verschlingt nicht selten in einem Augenblick des Menschen Werke. Aber doch verlieren beide weder ihre Macht noch ihren Reiz und ihre Frische.
Werden wir je der Tautropfen müde, die in erfrischender Kraft unsere Gärten und Felder benetzen? Oder könnten wir je des schönen Geruchs unserer Hecken und Wiesen, des Gesangs der Nachtigall und der Drossel überdrüssig werden?
Was ist das alles im Vergleich mit den Herrlichkeiten, die mit der Person und dem Kreuz Christi in Verbindung stehen? Was ist es gegenüber den großen Wirklichkeiten der vor uns liegenden Ewigkeit?
Wir wollen solchen Einflüsterungen nicht unser Ohr leihen, ob sie nun von außen an uns herantreten oder aus unseren eigenen Herzen aufsteigen, damit es uns nicht ergeht wie Israel, dem vor dem himmlischen Manna ekelte und das das köstliche Land verschmähte, oder wie Demas, der den Apostel Paulus verließ, da er den jetzigen Zeitlauf lieb gewonnen hatte, oder auch wie jenen, die, unwillig über die ernsten Worte des Herrn, zurückblieben und nicht mehr mit ihm gingen (Joh 6).