Behandelter Abschnitt 5. Mose 7,1-2
Anweisungen vor der Besitznahme Kanaans
Das gerechte Urteil Gottes über die Nationen
„Wenn der Herr, dein Gott, dich in das Land bringt, wohin du kommst, um es in Besitz zu nehmen, und viele Nationen vor dir vertreibt . . . , sieben Nationen, größer und stärker als du, und der Herr, dein Gott, sie vor dir hingibt und du sie schlägst, so sollst du sie ganz und gar verbannen; und du sollst keinen Bund mit ihnen schließen noch Gnade gegen sie üben“ (V. 1.2).
Wenn wir den Bericht lesen über die Wege Gottes mit den Völkern der Erde in Verbindung mit seinem Volk Israel, dann werden wir unwillkürlich an die ersten Worte des Psalms 101 erinnert: „Von Güte und Recht will ich singen.“ Wir sehen die Entfaltung der Güte Gottes zu seinem Volk wegen seines Bundes mit Abraham, Isaak und Jakob, aber auch die Ausübung des Gerichts an den Nationen als Folge ihrer bösen Wege. Bei Israel begegnen wir der unumschränkten Güte Gottes, bei den Nationen seiner Gerechtigkeit. Aus beiden strahlt die Herrlichkeit Gottes hervor. Alle Wege Gottes, ob in Güte oder in Gericht, verkünden sein Lob und werden in alle Ewigkeit die Anbetung seines Volkes wachrufen. „Groß und wunderbar sind deine Werke, Herr, Gott, Allmächtiger, gerecht und wahrhaftig deine Wege, o König der Nationen! Wer sollte nicht dich, Herr, fürchten und deinen Namen verherrlichen? Denn du allein bist heilig; denn alle Nationen werden kommen und vor dir anbeten, denn deine gerechten Taten sind offenbar geworden“ (Off 15,3.4).
Das ist die richtige Gesinnung, in der wir die Wege der Regierung Gottes betrachten sollen. Manche Leser des Wortes lassen sich allerdings durch ihre Gefühle leiten und haben dann Schwierigkeiten, die Anweisungen, die dem Volk Israel bezüglich der Kanaaniter am Anfang unseres Kapitels gegeben werden, zu verstehen. Es scheint ihnen mit dem gütigen Wesen Gottes unvereinbar, dass Er einem Volk gebieten konnte, ein anderes Volk ohne Barmherzigkeit zu erschlagen. Sie können nicht begreifen, wie ein barmherziger Gott seinem Volk den Auftrag geben kann, Frauen und Kinder mit der Schärfe des Schwertes zu schlagen.
Solche Personen können natürlich nicht der oben angeführten Schriftstelle zustimmen. Sie sind nicht fähig anzuerkennen: „Gerecht und wahrhaftig sind deine Wege, o König der Nationen!“ Sie können Gott nicht rechtfertigen in allen seinen Wegen, ja, sie kritisieren sein Tun. Sie maßen sich an, die Handlungen der göttlichen Regierung mit dem Maßstab ihrer eigenen, oberflächlichen Gedanken zu messen. Sie beurteilen das Unendliche nach dem Endlichen.
Das ist ein verhängnisvoller Irrtum. Wir haben kein Recht, ein Urteil über die Wege Gottes zu fällen, und es verrät nur Anmaßung, wenn arme, kurzsichtige, sterbliche Menschen das versuchen. Es steht geschrieben: „Und die Weisheit ist gerechtfertigt worden von allen ihren Kindern“ (Lk 7,35).
Hat aber ein aufrichtiger Leser wirklich Schwierigkeiten, diese Zusammenhänge zu verstehen, so lese er Psalm 136,1.10-22. Er findet dort, dass die ewige Güte des Herrn durch das Erschlagen der Erstgeburt Ägyptens wie auch durch die Befreiung Israels und seinen Durchzug durchs Rote Meer, durch die gänzliche Vernichtung der Heere des Pharaos und das Gericht der Kanaaniter wie auch durch die Austeilung ihres Landes an Israel ans Licht kommt.14
Alles muss zur Verherrlichung Gottes dienen, und es ist unser Vorrecht, Gottes Güte zu erkennen, uns vor seinen unausforschlichen Gerichten zu beugen und die Gewissheit zu haben, dass alle Wege Gottes gut und richtig sind. Sicher ist es uns unmöglich, sie alle zu verstehen; denn die Endlichkeit kann die Unendlichkeit nicht erfassen.
Hierin liegt der Grund, weshalb so viele irregehen. Sie urteilen über die Handlungen der Regierung Gottes, ohne daran zu denken, dass solche Handlungen ebenso weit über dem Bereich der menschlichen Vernunft liegen, wie der Schöpfer über dem Geschöpf steht. Kann der menschliche Verstand die tiefen Geheimnisse der göttlichen Vorsehung enthüllen? Können wir erklären, dass eine Stadt voll lebensfroher Menschen – Männer, Frauen und Kinder – in einer Stunde durch einen Strom glühender Lava untergeht? Und dennoch ist dies nur eine Tatsache von tausenden, die die menschliche Geschichte aufgezeichnet hat und die alle außerhalb des menschlichen Beurteilungsvermögens liegen. Können wir sie erklären? Können wir sagen, warum Gott es erlaubt? Ist es unsere Aufgabe, das zu tun? Wir geraten in Verwirrung, wenn nicht gar in Unglauben, sobald wir anfangen, in unserer Unwissenheit über die unerforschlichen Geheimnisse der göttlichen Regierung zu grübeln.
14 Viele Christen verstehen eine große Zahl von Psalmen sehr schwer, weil in ihnen das Gericht für den Gottlosen erfleht wird. Die Sprache dieser Psalmen ist natürlich für uns Christen heute ganz unpassend, da wir ja belehrt werden, unsere Feinde zu lieben, Gutes zu tun denen, die uns hassen, und für solche zu beten, die uns beleidigen und verfolgen. Doch dürfen wir nicht vergessen, dass das, was für die Versammlung Gottes, als ein verborgenes und unter der Gnade stehendes Volk, unpassend ist, dem Volk Gottes, das unter den Grundsätzen göttlicher Regierung stand, von Gott aufgetragen war. Kein geistlich gesinnter Christ denkt daran, Rache für seine Feinde oder für den Gottlosen zu erbitten. Das wäre ein grobes Vergessen seiner christlichen Stellung.
Wir sind vielmehr berufen, ein lebendiges Zeugnis der Gnade Gottes in einer sündigen Welt zu sein, in den Fußstapfen des Herrn Jesus zu gehen, der sanftmütig und von Herzen demütig war, um der Gerechtigkeit willen zu leiden und dem Bösen zu widerstehen. Gott handelt jetzt mit der Welt in Langmut und Geduld. „Er lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte“ (Mt 5,45). Das soll unser Vorbild sein, und der Herr ermahnt uns, hierin „vollkommen zu sein, wie unser himmlischer Vater vollkommen ist“ (Mt 5,48). Ein Christ würde seinen himmlischen Vater völlig falsch darstellen und sein Bekenntnis verfälschen, wenn er mit der Welt nach den Grundsätzen eines gerechten Gerichts verfahren wollte. Aber bald, wenn die Versammlung die Erde verlassen hat, wird Gott mit der Welt in Gerechtigkeit handeln und die Völker danach richten, wie sie sein Volk Israel behandelt haben.↩︎