Behandelter Abschnitt 4. Mose 15,22-31
Sünden aus Versehen und Sünden aus Vermessenheit
Die Verse 22 bis 31 in unserem Kapitel geben uns Anweisungen über die Sünden aus Versehen und aus Vermessenheit – eine sehr ernste und wichtige Unterscheidung. Für jene ist nach der Güte und Barmherzigkeit Gottes genügend vorgesorgt. Der Tod Christi wird in diesem Teil des Kapitels nach seinen zwei großen Seiten dargestellt, nämlich als Brandopfer und als Sündopfer, d. h. nach der Seite, die sich auf Gott, und nach derjenigen, die sich auf uns bezieht. Ferner sehen wir hier den ganzen Wert, den Wohlgeruch seines vollkommenen Lebens und Dienstes als Mensch in dieser Welt, wie es durch das Speisopfer und Trankopfer dargestellt wird. Im Brandopfer sehen wir Versöhnung entsprechend der Hingabe Christi an Gott und des Wohlgefallens, das Gott an ihn hat; im Sündopfer sehen wir Versöhnung, wie sie im Hinblick auf das, was der Sünder bedarf, und auf die Hässlichkeit der Sünde in den Augen Gottes geschehen ist. Zusammengenommen stellen die beiden Opfer den Versöhnungstod Christi in seiner ganzen Tragweite dar. Das Speisopfer ist ein Bild des vollkommenen Lebens Christi und der Wirklichkeit seiner menschlichen Natur, wie sie sich in allen Einzelheiten seines Weges und Dienstes in dieser Welt offenbarte, und das Trankopfer schließlich stellt seine vollkommene Hingabe an Gott vor.
Wir wollen jetzt nicht auf die reichen und wunderbaren Belehrungen eingehen, die in den verschiedenen Opfern enthalten sind. Den Leser, den das interessiert, verweise ich auf die „Gedanken zum dritten Buch Mose“. Ich möchte hier nur darauf aufmerksam machen, dass die Ansprüche Gottes es erfordern, dass wir auch von den aus Versehen begangenen Sünden Kenntnis nehmen. Wir könnten meinen, dass man über solche Sünden hinwegsehen kann. Doch Gott denkt nicht so. Seine Heiligkeit darf nicht auf das Maß unserer Einsicht beschränkt werden. Die Gnade hat für Sünden aus Versehen Vorsorge getroffen; aber die Heiligkeit verlangt, dass solche Sünden gerichtet und bekannt werden. Jedes aufrichtige Herz wird Gott dafür preisen. Denn was würde aus uns werden, wenn die Vorkehrungen der göttlichen Gnade nicht genügten, um den Ansprüchen der göttlichen Heiligkeit zu entsprechen? Und sie würden es sicherlich nicht tun, wenn sie nicht über den Bereich unserer Einsicht hinausgingen.
Obwohl das im Allgemeinen zugegeben wird, hört man leider doch oft Gläubige ihre Unwissenheit entschuldigen, bzw. sie rechtfertigen Untreue und Irrtum mit Unwissenheit. Doch in solchen Fällen muss man meistens fragen: Warum sind wir über irgendetwas in unserem Leben oder über die Anrechte Christi auf uns in Unwissenheit? Nehmen wir an, wir werden vor eine Frage gestellt, die ein Urteil und eine bestimmte Handlungsweise von uns verlangt; können wir uns der Verantwortlichkeit für unser Verhalten dadurch entziehen, dass wir Unwissenheit vorschützen? Wird Gott erlauben, dass wir der Frage auf eine solche Weise ausweichen? Nein, eine solche Ausflucht wird niemals genügen. Warum sind wir unwissend? Haben wir alle Mittel angewandt, um der Sache auf den Grund zu kommen und zu einer richtigen Lösung der Frage zu gelangen? Denken wir daran, dass die Ansprüche der Wahrheit und Heiligkeit das von uns verlangen! Auch wir selbst sollten mit nichts Geringerem zufrieden sein.
Wir machen leider oft auch dort Unwissenheit geltend, wo es richtiger wäre, von Gleichgültigkeit zu sprechen. Das ist sehr traurig. Wenn unser Gott in seiner unendlichen Güte auch für die Sünden aus Versehen Vorsorge getroffen hat, so ist das doch wirklich kein Grund, sich hinter dem Vorwand der Unwissenheit zu verschanzen. Es gibt genug Belehrungen – wir müssen nur die Energie haben, sie zu benutzen.
Die Ansprüche Christi und die Autorität der Heiligen Schriften werden immer mehr beiseitegesetzt. Wir müssen deshalb darauf achten, dass das Wort Gottes den ihm gebührenden Platz in unseren Herzen findet und dass das Gewissen in allen Dingen durch seine Autorität geleitet wird. Ein zartes Gewissen ist etwas sehr Kostbares – ein Gewissen, das sich der Wirksamkeit des Wortes Gottes wirklich auftut und sich seinen klaren Anweisungen ohne eine Frage unterwirft. Wenn das Gewissen in diesem Zustand ist, so ist stets eine regulierende Kraft da, die auf unser Leben und unseren Charakter einwirkt. Man kann das Gewissen mit dem Regulator einer Uhr vergleichen. Es kann sein, dass die Zeiger der Uhr unrichtig stehen; aber solange der Regulator seinen Einfluss auf die Feder ausübt, ist es nicht schwer, den Stand und Gang der Zeiger zu berichtigen. Wenn aber dieser Einfluss aufhört, muss die ganze Uhr auseinander genommen werden. So ist es auch mit dem Gewissen. Solange es ein empfindsames Gefühl für das durch den Heiligen Geist angewandte Wort behält, ist eine sicher leitende Kraft erkennbar. Aber wenn es träge und hart wird, wenn es sich weigert, vor einem „So spricht der Herr!“ sich zu beugen, dann ist wenig oder gar keine Hoffnung mehr vorhanden. Dann entsteht ein Fall, der demjenigen ähnlich ist, den unser Kapitel berichtet: „Aber die Seele, die mit erhobener Hand etwas tut, von den Einheimischen und von den Fremden, die schmäht den Herrn; und diese Seele soll ausgerottet werden aus der Mitte ihres Volkes, denn das Wort des Herrn hat sie verachtet und sein Gebot gebrochen; diese Seele soll gewiss ausgerottet werden: Ihre Ungerechtigkeit ist auf ihr“ (V. 30.31).
Das war keine Sünde aus Versehen, sondern Sünde aus Vermessenheit und böser Absicht, für die nichts übrig blieb als das strenge Gericht Gottes. „Denn wie Sünde der Wahrsagerei ist Widerspenstigkeit und der Eigenwille wie Abgötterei und Götzendienst“ (1Sam 15,23). Das sind ernste Worte für eine Zeit wie die gegenwärtige, wo der Wille des Menschen sich mit so außerordentlicher Kraft entwickelt. Man hält es für männlich, seinen Willen zu behaupten; aber die Schrift lehrt das Gegenteil. Die beiden großen Elemente menschlicher Vollkommenheit (oder vollkommener Menschheit) sind Abhängigkeit und Gehorsam. In dem Maß, wie jemand davon abweicht, weicht er auch von dem wahren Geist und der wahren Stellung eines Menschen ab. Wenn wir daher das Leben des einzig vollkommenen Menschen – des Menschen Christus Jesus – sehen, so erkennen wir von Anfang bis Ende, wie diese beiden großen Charakterzüge vollkommen entfaltet sind. Er verließ keinen Augenblick die Stellung vollkommener Abhängigkeit und unbedingten Gehorsams.
Christus ist unser Vorbild. Wir, die wir das Leben Christi haben, sind berufen, beständig in der Abhängigkeit und im Gehorsam zu leben. Das ist Wandel im Geist. Das ist der sichere und glückliche Weg des Christen. Unabhängigkeit und Ungehorsam sind immer miteinander verbunden; aber sie sind völlig unchristlich und unmenschlich. Wir sehen diese beiden Dinge in dem ersten Menschen, so wie wir das Gegenteil davon in dem zweiten finden. Adam wollte unabhängig sein. Er war nicht zufrieden damit, Mensch zu sein und auf dem allein wahren Platz eines Menschen zu bleiben, in dem wahren Geist eines Menschen zu leben, und deshalb wurde er ungehorsam. Unabhängigkeit und Ungehorsam kennzeichnen die ganze Geschichte der gefallenen Menschheit. Man mag sie betrachten, wo man will, ob vor oder nach der Sintflut, ob ohne Gesetz oder unter Gesetz, ob bei den Heiden, Juden und Muslimen oder bei den Namenchristen – überall findet man nichts als Unabhängigkeit und Ungehorsam. Und was ist das Ende der Geschichte des Menschen in dieser Welt? In welchem Charakter erscheint der Mensch da? Als „König, der nach seinem Gutdünken handelt“ (Dan 11,36) und als „der Gesetzlose“.
Der Herr gebe uns Gnade, diese Dinge recht zu erwägen! Streben wir nach einem demütigen und gehorsamen Geist! Gott hat gesagt: „Auf diesen will ich blicken: auf den Elenden und den, der zerschlagenen Geistes ist, und der da zittert vor meinem Wort“ (Jes 66,2). Möchten diese Worte in unsere Ohren und Herzen dringen, und möge das beständige Gebet unserer Seele sein: „Auch von übermütigen [Taten] halte deinen Knecht zurück; lass sie mich nicht beherrschen!“ (Ps 19,14).8
8 Wir möchten besonders die jungen Leser daran erinnern, dass das einzig wirksame Bewahrungsmittel gegen Sünden aus Versehen die Erforschung des Wortes, und dasjenige gegen Sünden aus Vermessenheit Unterordnung unter das Wort ist. Wir alle haben es nötig, daran zu denken, aber unsere jungen Brüder besonders. Es gibt unter den jungen Christen dieser Tage einen starken Hang, sich dem Strom des gegenwärtigen Zeitlaufs zu überlassen und seinen Geist aufzunehmen. Daher gibt es so viel Unabhängigkeit, so viel eigenen Willen, Ungehorsam gegen die Eltern, Widerwillen gegen jede Aufsicht, Hartnäckigkeit, Hochmut, Selbstvertrauen, anmaßendes Benehmen, Einbildung, Sich-Weiser-Dünken als die Alten – alles Dinge, die in den Augen Gottes so hässlich und dem Geist des Christentums völlig zuwider sind. Wir möchten alle unsere jungen Freunde herzlich bitten, sich vor diesen Dingen zu hüten und nach Demut zu streben. Möchten wir uns daran erinnern, dass Gott dem Hochmütigen widersteht, dass Er aber dem Demütigen Gnade gibt!↩︎