Behandelter Abschnitt 4. Mose 11,10-15
Mose ist entmutigt
Doch es gibt in diesem wichtigen Abschnitt noch mehr für uns zu lernen. Nicht nur die ernste Verfehlung Israels haben wir zu betrachten, nein, wir sehen sogar Mose wanken und unter der Last seiner Verantwortung beinahe zu Boden sinken. „Und als Mose das Volk nach seinen Familien, jeden am Eingang seines Zeltes, weinen hörte und der Zorn des Herrn heftig entbrannte, da war es übel in den Augen Moses. Und Mose sprach zu dem Herrn: Warum hast du an deinem Knecht übel getan, und warum habe ich nicht Gnade gefunden in deinen Augen, dass du die Last dieses ganzen Volkes auf mich legst? . . . Woher soll ich Fleisch haben, um es diesem ganzen Volk zu geben? . . . Ich allein vermag nicht dieses ganze Volk zu tragen, denn es ist mir zu schwer. Und wenn du so mit mir tust, so bring mich doch um, wenn ich Gnade gefunden habe in deinen Augen, damit ich mein Unglück nicht ansehe“ (V. 10–15).
Das ist wirklich eine erstaunliche Sprache. Nicht, dass wir uns einen Augenblick über die Fehltritte und Schwachheiten eines so treuen und aufopfernden Dieners, wie Mose es war, aufhalten wollen. Ein solcher Gedanke liegt uns fern! Es würde uns schlecht anstehen, über die Taten oder die Reden eines Mannes abfällige Bemerkungen zu machen, von dem der Heilige Geist sagt, dass „er treu war in seinem ganzen Haus“ (Heb 3,5).
Dennoch sollen wir über den vor uns liegenden Bericht, den Mose selbst niedergeschrieben hat, nachdenken. Im Neuen Testament wird von den Fehlern und Schwachheiten der Gläubigen im Alten Bund nicht geredet (Ausnahme: Elia, s. Röm 11,2); in den Schriften des Alten Testaments aber werden sie mit großer Genauigkeit berichtet, und zwar deshalb, weil es zu unserer Belehrung dient. „Denn alles, was zuvor geschrieben worden ist, ist zu unserer Belehrung geschrieben, damit wir durch das Ausharren und durch die Ermunterung der Schriften die Hoffnung haben“ (Röm 15,4).
Was haben wir denn aus dem merkwürdigen Ausbruch der Gefühle Moses zu lernen? Jedenfalls das eine, dass die Wüste ans Licht bringt, was selbst in dem Besten von uns wohnt. Hier zeigen wir, was in unserem Herzen ist. Und da das vierten Buch Mose in besonderer Weise das Buch der Wüste ist, können wir erwarten, gerade hier alle Arten von Fehltritten und Schwachheiten aufgedeckt zu finden. Der Geist Gottes zeigt uns die Menschen, wie sie sind; und wenn selbst Mose mit seinen Lippen unbedacht redet (Ps 106,33), so wird uns gerade dieses unbedachte Reden zur Ermahnung und Belehrung mitgeteilt. Mose war sicher wie Elia „ein Mensch von gleichen Empfindungen wie wir“ (Jak 5,17), und es wird offenbar, dass in dem vorliegenden Teil seiner Geschichte sein Herz dem schweren Gewicht seiner Verantwortung erlag.
Vergessen der göttlichen Hilfsquellen
Man wird vielleicht sagen: „Kein Wunder, dass er unterlag, denn die Last war für die Schultern eines Menschen schwer.“ Aber die Frage ist: War sie für die Schultern Gottes zu schwer? War Mose wirklich berufen, die Last allein zu tragen? War nicht der lebendige Gott mit ihm? Und war Er nicht genug? Alle Kraft, alle Weisheit, alle Gnade war in ihm! Er ist die Quelle alles Segens, und nach dem Urteil des Glaubens macht es durchaus keinen Unterschied, ob dieser Segen durch einen Kanal oder durch tausend Kanäle fließt.
Das ist ein schöner Grundsatz für alle Diener Christi. Unablässig haben sie sich daran zu erinnern, dass der Herr einen Menschen, den Er auf einen verantwortungsvollen Posten stellt, für sein Amt befähigt und ihn dort auch erhält. Etwas ganz anderes ist es, wenn ein Mensch sich unberufen in ein Arbeitsfeld oder auf einen schwierigen oder gefährlichen Platz stellen will. In einem solchen Fall wird er gewiss früher oder später zusammenbrechen. Doch wenn Gott einen Menschen in eine Stellung beruft, so rüstet Er ihn auch mit der nötigen Gnade aus. Er sendet nie jemanden auf eigenen Sold in den Krieg. Darum besteht das, was wir zu tun haben, allein darin, in allem, was wir benötigen, auf ihn zu warten. Wir können nie zu Fall kommen, wenn wir uns nur an den lebendigen Gott klammern. Wir erleben keine Dürre, wenn wir nur aus der Quelle schöpfen. Unsere eigenen winzigen Quellen und Bächlein werden bald austrocknen; aber unser Herr Jesus Christus erklärt: „Wer an mich glaubt, wie die Schrift gesagt hat, aus dessen Leib werden Ströme lebendigen Wassers fließen“ (Joh 7,38).
Das ist eine wichtige Lehre für die Wüste. Wir können nicht vorwärts kommen, wenn wir sie nicht verstehen. Hätte Mose sie völlig verstanden, so wären niemals die Worte über seine Lippen gekommen: „Woher soll ich Fleisch haben, um es diesem ganzen Volk zu geben?“ Er hätte allein auf den Herrn gesehen. Er hätte verstanden, dass er nur ein Werkzeug in den Händen Gottes war, dessen Hilfsmittel unbegrenzt sind. Natürlich hätte Mose diese gewaltige Versammlung nicht für einen einzigen Tag mit Nahrung versorgen können, aber der Herr konnte den Bedürfnissen jedes lebenden Wesens entsprechen.
Glauben wir das wirklich? Scheint es nicht oft, als ob wir daran zweifelten? Kommt es uns nicht manchmal so vor, als hätten wir und nicht Gott für das zu sorgen, was wir brauchen? Und ist es dann ein Wunder, wenn wir verzagen und unterliegen? Ja, Mose mochte wohl sagen: „Ich allein vermag nicht, dieses ganze Volk zu tragen, denn es ist mir zu schwer.“ Es gab nur ein Herz, das eine solche Menge zu tragen vermochte, nämlich das Herz dessen, der sie befreit hatte, als sie sich in den Ziegelöfen Ägyptens abmühten, und der, nachdem sie aus der Hand ihrer Feinde erlöst waren, seine Wohnung unter ihnen aufgerichtet hatte. Er konnte sie tragen und nur Er. Sein liebendes Herz und seine mächtige Hand allein waren dieser Aufgabe gewachsen. Hätte Mose in der vollen Kraft dieser Wahrheit gestanden, so wäre er niemals zu dem bitteren Ausspruch gekommen: „Und wenn du so mit mir tust, so bring mich doch um, wenn ich Gnade gefunden habe in deinen Augen, damit ich mein Unglück nicht ansehe.“
Das war ein dunkler Augenblick in der Geschichte dieses ausgezeichneten Knechtes Gottes. Es erinnert uns an den Propheten Elia, der sich unter einen Ginsterstrauch setzte und den Herrn bat, Er möchte seine Seele von ihm nehmen. Wie wunderbar, dass wir diese beiden Männer miteinander auf dem Berg der Verklärung sehen! Welch ein schlagender Beweis dafür, dass die Gedanken Gottes nicht unsere Gedanken und seine Wege nicht unsere Wege sind! Er hatte für Mose und Elia etwas Besseres vorgesehen, als alles, was sie erdenken konnten. Gepriesen sei sein Name! Er bringt unsere Befürchtungen durch den Reichtum seiner Gnade zum Schweigen, und wenn unsere armen Herzen sich auf Tod und Unglück gefasst machen, so gibt Er Leben, Sieg und Herrlichkeit.