Behandekter Abschnitt 4. Mose 11,1-9
Murren – Manna und Wachteln
Der Mensch und sein Versagen
Bis jetzt haben wir uns beim Überdenken dieses Buches damit beschäftigt, wie Gott sein Volk in der Wüste leitete und versorgte. Wir haben in den ersten zehn Kapiteln die Beweise der Wahrheit, Güte und Vorsorge des Herrn, des Gottes Israels, gesehen. Doch jetzt kommen wir an einen Punkt, wo düstere Wolken sich um uns sammeln. Bis jetzt haben Gott und seine Taten vor uns gestanden; aber nun haben wir Gelegenheit, den Menschen und seine traurigen Wege zu betrachten. Das ist immer demütigend. Der Mensch ist überall derselbe. In Eden, auf der wiederhergestellten Erde, in der Wüste, im Land Kanaan, in der Versammlung, im Tausendjährigen Reich – überall zeigt es sich, dass der Mensch völlig versagt. Sobald er sich anschickt zu gehen, fällt er.
In den beiden ersten Kapiteln des ersten Buches Mose sehen wir Gott als Schöpfer handeln. Alles wird in göttlicher Vollkommenheit getan und geordnet, und der Mensch wird hineingestellt, um die Frucht der Weisheit, Güte und Macht Gottes zu genießen. Aber schon im dritten Kapitel ist es verändert. Sobald der Mensch anfängt zu wirken, erweist er sich als ungehorsam und führt Verfall und Zerstörung herbei. Ebenso ist es nach der Sintflut. Nachdem die Erde durch diese furchtbare Taufe hindurchgegangen war und der Mensch seinen Platz wieder eingenommen hatte, stellt er sich wieder als das dar, was er ist. Er beweist, dass er, weit entfernt, die Erde sich unterwerfen und beherrschen zu können, nicht einmal sich selbst beherrschen kann (1Mo 9). Kaum war dann später Israel aus Ägypten geführt, als es sich das goldene Kalb machte. Kaum war das Priestertum aufgerichtet, da brachten die Söhne Aarons fremdes Feuer. Kaum war endlich Saul zum König gesalbt, da erwies er sich als eigenwillig und ungehorsam.
Das Gleiche finden wir im Neuen Testament. Kaum ist die Versammlung errichtet und mit Pfingstgaben ausgestattet, schon hören wir von Murren und Unzufriedenheit. Die Geschichte des Menschen ist von Anfang bis Ende, zu jeder Zeit und an jedem Ort durch Fall und Verderben gekennzeichnet. Es gibt nicht eine einzige Ausnahme.
Es ist gut, wenn wir diese ernste und wichtige Tatsache beachten. Sie stellt alle falschen Vorstellungen über den Charakter und den Zustand des Menschen richtig. Vergessen wir nicht, dass der schreckliche Urteilsspruch, der das Herz des ausschweifenden Königs von Babel mit Entsetzen erfüllte, tatsächlich über das ganze menschliche Geschlecht ausgesprochen wurde: „Du bist auf der Waage gewogen und zu leicht befunden worden“ (Dan 5,27).
Ist uns das Brot aus dem Himmel genug?
„Und es geschah, als das Volk sich beklagte, dass es übel war in den Ohren des Herrn; und als der Herr es hörte, da entflammte sein Zorn, und ein Feuer des Herrn brannte unter ihnen und fraß am Ende des Lagers. Und das Volk schrie zu Mose, und Mose betete zu dem Herrn; da legte sich das Feuer. Und man gab diesem Ort den Namen Tabera, weil ein Feuer des Herrn unter ihnen gebrannt hatte. Und das Mischvolk, das in ihrer Mitte war, wurde lüstern, und auch die Kinder Israel weinten wiederum und sprachen: Wer wird uns Fleisch zu essen geben? Wir erinnern uns an die Fische, die wir in Ägypten umsonst aßen, an die Gurken und die Melonen und den Lauch und die Zwiebeln und den Knoblauch; und nun ist unsere Seele dürr; gar nichts ist da, nur auf das Man sehen unsere Augen“ (V. 1–6).
Hier offenbart sich das armselige Herz des Menschen ganz und gar. Seine Wünsche und Neigungen treten offen zutage. Das Volk trauerte dem Land Ägypten nach und warf sehnsüchtige Blicke zurück auf seine Früchte und Fleischtöpfe. Die Peitsche der Treiber und die Mühsal der Ziegelöfen waren vergessen. Das Volk erinnerte sich nur noch an die Dinge, mit denen Ägypten den Wünschen der Natur gedient hatte.
Wie oft ist dies bei uns der Fall! Wenn das Herz einmal seine Frische im göttlichen Leben verliert, wenn die himmlischen Dinge anfangen, ihren Geschmack einzubüßen, wenn die erste Liebe abnimmt, wenn Christus aufhört, für die Seele genug und kostbar zu sein, wenn das Wort Gottes und das Gebet ihren Reiz verlieren und langweilig und mechanisch werden – dann sieht man zurück in die Welt, das Herz folgt dem Auge und die Füße folgen dem Herzen. In solchen Zeiten vergessen wir, was die Welt für uns war, als wir noch in ihr waren und zu ihr gehörten. Wir vergessen, welche Mühe und Knechtschaft, welches Elend und welche Erniedrigung wir im Dienst der Sünde und Satans erlebten, und wir denken nur an die Befriedigung und das Wohlsein des Fleisches, nur daran, dass wir die schmerzlichen Übungen, Kämpfe und Unruhen nicht hatten, die auf das Volk Gottes auf seinem Weg durch die Wüste warten.
Alles das ist sehr traurig und sollte die Seele zu ernstem Selbstgericht führen. Es ist eine böse Sache, wenn diejenigen, die angefangen haben, dem Herrn nachzufolgen, des Weges und der Vorsorge Gottes müde werden. Wie schrecklich müssen die Worte in den Ohren des Herrn geklungen haben: „Nun ist unsere Seele dürr; gar nichts ist da, nur auf das Man sehen unsere Augen!“ Ach! Israel, was brauchtest du mehr? War diese himmlische Speise nicht genug für dich? Konntest du nicht leben von dem, was die Hand deines Gottes dir darreichte?
Doch ist uns unser himmlisches Manna immer genug? Was bedeutet es, wenn Christen die Frage erheben, ob dieses und jenes weltliche Streben und weltliche Vergnügen gut oder böse sei? Haben wir nicht selbst schon von solchen, die das höchste Bekenntnis abgelegt hatten, Worte wie diese gehört: „Wir können doch nicht immer an Christus und an himmlische Dinge denken. Wir müssen auch kleine Erholungen haben.“ Ist das nicht etwas ganz Ähnliches wie die Sprache Israels in 4. Mose 11? Und wie die Sprache, so ist das Betragen. Durch die Tatsache, dass wir uns zu anderen Dingen wenden, beweisen wir, dass Christus unseren Herzen nicht mehr genug ist. Wie oft liegt z. B. die Bibel stundenlang vernachlässigt da, während die leichte und wertlose Literatur der Welt zur Hand genommen wird! Reden die zerlesenen Zeitungsblätter und die fast mit Staub bedeckte Bibel nicht eine nur zu deutliche Sprache? Heißt das nicht, das Manna verachten und nach dem „Lauch und den Zwiebeln“ zu seufzen, ja sich danach zu sehnen?
Der Herr gebe uns Gnade, über diese Dinge ernstlich nachzudenken! Möchten wir so im Geist leben, dass Christus immer genug ist für unsere Herzen! Hätte Israel in der Wüste mit Gott gelebt, so hätte es niemals sagen können: „Unsere Seele ist dürr; gar nichts ist da, nur auf das Man sehen unsere Augen.“ Dieses Man wäre vollkommen genug für das Volk gewesen. So ist es auch mit uns. Wenn wir in dieser Welt, die eine Wüste ist, wirklich mit Gott leben, so werden wir mit dem Teil zufrieden sein, was Er gibt – und dieses Teil ist ein himmlischer Christus. Könnte Er jemals nicht völlig genug sein? Ist Er nicht genug für das Herz Gottes? Erfüllt Er nicht alle Himmel mit seiner Herrlichkeit? Ist Er nicht der Gegenstand des Gesanges der Engel, ihrer Anbetung, ihrer Bewunderung und ihres Dienstes? Ist Er nicht das eine große Ziel der ewigen Ratschlüsse und Pläne Gottes? Reicht nicht die Geschichte seiner Wege bis in die Ewigkeit?
Und weiter: Ist dieser hochgelobte Herr in dem tiefen Geheimnis seiner Person, in der moralischen Herrlichkeit seiner Wege, in dem Glanz und der Schönheit seines Wesens nicht genug für unser Herz? Brauchen wir noch irgendetwas anderes? Haben wir z. B. Zeitungen oder irgendwelches weltliche Schrifttum nötig, um die Leere in unseren Herzen auszufüllen?
Üble Dinge inmitten des Volkes Gottes
Und hier möchten wir den Leser fragen: Findest du wirklich, dass Christus nicht genügt, dein Herz zu befriedigen? Gibt es eine Sehnsucht, der Er nicht vollkommen entspricht? Wenn es so ist, so bist du in einem sehr bedenklichen Seelenzustand, und du solltest nicht zögern, diese ernste Sache aufmerksam zu prüfen. Wirf dich in aufrichtigem Selbstgericht vor Gott nieder! Schütte ihm dein Herz aus! Sage ihm alles! Bekenne ihm, wie du gefallen und verirrt bist; denn das muss geschehen sein, da der Christus Gottes dir nicht mehr genügt! Gönne dir keine Ruhe, bis du völlig und freudig in die Gemeinschaft mit dem Vater zurückgeführt bist – in die Gemeinschaft mit ihm hinsichtlich des Sohnes seiner Liebe. „Und das Mischvolk, das in ihrer Mitte war, wurde lüstern, und auch die Kinder Israel weinten wiederum.“ Es gibt nichts Nachteiligeres für die Sache Christi oder für sein Volk als die Verbindung mit Menschen, die gemischte Grundsätze haben. Das ist weit gefährlicher, als es mit offenen und anerkannten Feinden zu tun zu haben. Satan weiß das wohl, und daher rührt seine fortwährende Anstrengung, das Volk des Herrn mit Leuten in Verbindung zu bringen, die nur halb entschieden, nur halb für den Herrn sind, oder sogar „unechte Bestandteile“ – falsche Bekenner – zwischen diejenigen zu bringen, die, wenn auch in Schwachheit, den Weg der Trennung von der Welt zu gehen versuchen.
Wir finden im Neuen Testament öfters Anspielungen auf diese besondere Eigenart des Bösen, sowohl prophetisch in den Evangelien als auch geschichtlich in der Apostelgeschichte und in den Briefen. So hören wir z. B. von dem Unkraut und dem Sauerteig in Matthäus 13. Dann finden wir in der Apostelgeschichte Personen, die sich der Versammlung angeschlossen hatten und die dem „Mischvolk“ in 4. Mose 11 sehr ähnlich waren. Und endlich erwähnen die Apostel nicht wirklich Gläubige, die der Feind zu dem Zweck hereinbrachte, das Zeugnis zu verderben und die Seelen des Volkes Gottes zu verwirren. So spricht der Apostel Paulus von „nebeneingeführten falschen Brüdern“ (Gal 2,4), und Judas schreibt von „gewissen Menschen, die sich nebeneingeschlichen haben“ (V. 4).
Wir lernen hieraus, wie wichtig es für das Volk Gottes ist, zu wachen und vollkommen abhängig zu sein von dem Herrn, der allein sein Volk vor falschen Bestandteilen bewahren und es frei von aller Berührung mit Menschen von gemischten Grundsätzen erhalten kann. „Das Mischvolk“ wird immer „lüstern“ sein, und das Volk Gottes steht in großer Gefahr, durch die Verbindung mit ihm seine Klarheit aufzugeben und des himmlischen Mannas, seiner wahren Nahrung, überdrüssig gemacht zu werden. Was wir brauchen, ist eine einfältige Entschiedenheit für Christus, eine gänzliche Hingabe an ihn und seine Sache. Wo eine Gemeinschaft von Gläubigen mit ungeteiltem Herzen mit Christus und in entschiedener Trennung von der Welt lebt, da ist die Gefahr nicht so groß, dass Personen mit zweideutigem Wesen einen Platz unter ihnen suchen werden – obwohl Satan ohne Zweifel auch hier durch die Hereinbringung von Heuchlern das Zeugnis zu zerstören suchen wird.
Wenn solche Leute einmal da sind, so bringen sie durch ihre bösen Wege Schmach auf den Namen des Herrn. Satan wusste ganz gut, was er tat, als er das Mischvolk veranlasste, sich der Gemeinde Israel anzuschließen. Die Wirkung dieser Tatsache wurde nicht gleich offenbar. Das Volk war aus Ägypten herausgeführt worden, war durch das Rote Meer geschritten und hatte am Ufer das Siegeslied gesungen. Alles schien glänzend und hoffnungsvoll zu sein; doch das Mischvolk war da, und die Wirkung machte sich sehr bald bemerkbar.
So ist es immer in der Geschichte des Volkes Gottes. Wir können in den großen geistlichen Bewegungen, die es von Zeit zu Zeit gab, gewisse Elemente des Verfalls bemerken, die durch den reich fließenden Strom der Gnade und Kraft anfangs verborgen blieben, die aber an den Tag traten, sobald der Strom abzunehmen begann. Wie ernst sind diese Dinge! Sie erfordern heilige Wachsamkeit. Das Gesagte lässt sich ebenso bestimmt auf einzelne Personen anwenden wie auf das Volk Gottes im Ganzen. Daraus folgt, dass sowohl Versammlungen von Christen als auch einzelne Gläubige immer auf der Hut sein, immer eifrig wachen müssen, damit nicht der Feind in dieser Beziehung einen Vorteil erringt.