Behandelter Abschnitt 4. Mose 6,1-4
Der Nasir
Die Einführung des Nasiräertums
Die Verordnungen bezüglich des Nasirs sind interessant und lehrreich. Sie zeigen, wie sich jemand auf besondere Weise absondert, und zwar von Dingen, die, obwohl sie an und für sich nicht böse sind, dennoch einer von ganzem Herzen praktizierten Absonderung, die in dem Stand des Nasirs ihren Ausdruck findet, schaden konnten.
Vor allem sollte der Nasir keinen Wein trinken. Die Frucht des Weinstocks in jeder Form war ihm verboten. Nun ist der Wein, wie wir wissen, das Sinnbild irdischer Freude, der Ausdruck derjenigen gesellschaftlichen Genüsse, zu denen wir von Natur aus eine so starke Neigung haben. Der Nasir in der Wüste sollte sich davon enthalten. Er musste sich buchstäblich nach den Verordnungen richten. Er sollte sich nicht durch starke Getränke aufreizen. Während der ganzen Zeit seiner Absonderung war er berufen, sich streng von Wein zu enthalten. Die Verordnungen bezüglich des Nasirs stehen in Einklang mit dem Charakter des vierten Buches Mose, das, wie schon bemerkt worden ist, alles enthält, was mit dem Wüstenleben in Verbindung steht. Wir wollen deshalb untersuchen, welche Belehrung für uns darin liegt, dass sich der Nasir von allem, was zum Weinstock gehörte, „von den Kernen bis zur Hülse“ (Kap. 6,4), enthalten sollte.
Der vollkommene Nasir
Es hat in dieser Welt nur einen wahren und vollkommenen Nasir gegeben, nur Einen, der vom Anfang bis zum Ende seines Weges sich vollständig von jeder rein irdischen Freude getrennt hielt. Von dem Augenblick an, da Er sein öffentliches Werk begann, hielt Er sich von allem fern, was von dieser Welt war. Sein Herz war mit einer Hingabe, die nichts erschüttern konnte, auf Gott und sein Werk gerichtet. Niemals erlaubte Er irgendwelchen Ansprüchen der Erde oder der Natur, zwischen sein Herz und das Werk zu treten, das zu vollenden Er gekommen war. „Wusstet ihr nicht, dass ich in dem sein muss, was meines Vaters ist?“ (Lk 2,49), und: „Was habe ich mit dir zu schaffen, Frau?“ (Joh 2,4).
Mit solchen Worten wies der wahre Nasir die Ansprüche der Natur zurück an ihren wahren Platz. Er hatte eine Aufgabe zu erfüllen, und für diese Aufgabe sonderte Er sich vollkommen ab. Sein Auge war einfältig und sein Herz ungeteilt. Das wird in seinem ganzen Leben deutlich. Er konnte zu seinen Jüngern sagen: „Ich habe eine Speise zu essen, die ihr nicht kennt“, und als sie dann, weil sie die tiefe Bedeutung seiner Worte nicht verstanden, fragten: „Hat ihm wohl jemand zu essen gebracht?,“ antwortete Er: „Meine Speise ist, dass ich den Willen dessen tue, der mich gesandt hat, und sein Werk vollbringe“ (Joh 4,32-34). So hören wir ihn auch am Ende seiner Laufbahn hier auf der Erde, als Er den Kelch, des Passahmahles in seine Hand nahm, die Worte sprechen: „Nehmt diesen und teilt ihn unter euch. Denn ich sage euch, dass ich von jetzt an nicht von dem Gewächs des Weinstocks trinken werde, bis das Reich Gottes kommt“ (Lk 22,17.18).
Wir sehen hier den Verhaltensgrundsatz des vollkommenen Nasirs. Er konnte weder an der Erde noch am Volk Israel Freude haben. Die Zeit dafür war noch nicht gekommen, und darum trennte Er sich von allem, was eine rein menschliche Liebe in der Verbindung mit den Kindern Gottes finden konnte, um sich dem einen großen Ziel zu widmen, das immer vor seiner Seele stand. Die Zeit, in der Er sich als der Messias an seinem Volk und an der Erde erfreuen wird, wird kommen; aber bis zu diesem segensreichen Augenblick bleibt Er als der wahre Nasir abgesondert, und sein Volk ist mit ihm verbunden. „Sie sind nicht von der Welt, wie ich nicht von der Welt bin. Heilige sie durch die Wahrheit: Dein Wort ist Wahrheit. Wie du mich in die Welt gesandt hast, so habe auch ich sie in die Welt gesandt; und ich heilige mich selbst für sie, damit auch sie Geheiligte seien durch Wahrheit“ (Joh 17,16-19).
Absonderung von weltlichen Freuden
Dieser auffallendste Charakterzug des Nasirs ist es wert, dass wir gründlich über ihn nachdenken. Es ist wichtig für uns, dass wir uns in seinem Licht aufrichtig prüfen. Die Frage ist, bis zu welchem Grad wir als Christen die Bedeutung und Kraft der völligen Absonderung von den Wünschen der Natur und rein irdischen Freuden verstehen. Es handelt sich hierbei nicht darum, ob dies oder jenes schaden könnte. Der Wein an sich schadete nichts, und in der Frucht des Weinstocks war an und für sich nichts Schlechtes. Doch entscheidend war: Wenn jemand sich vornahm, ein Nasir zu sein, wenn er nach dieser heiligen Absonderung für den Herrn strebte, dann musste er gänzlich dem Genuss von Wein und starken Getränken entsagen. Andere mochten Wein trinken, aber der Nasir durfte ihn nicht anrühren.
Auch uns stellt sich die Frage: Streben wir danach, Nasire zu sein? Sehnen wir uns nach einer völligen Absonderung und Hingabe unserer ganzen Person, d. h. nach einer Absonderung nach Leib, Seele und Geist für Gott? Wenn dies der Fall ist, dann müssen wir allem fernbleiben, was lediglich unserer Natur Freude macht. Das ist der Angelpunkt, um den sich die ganze Frage dreht. Die Frage ist nicht etwa: „Sollen wir Mönche werden?“, sondern: „Möchten wir Nasire sein?“ Ist es der Wunsch unseres Herzens, uns aller rein irdischen Freuden zu enthalten – wie Christus unser Herr –, uns für Gott von all den Dingen zu trennen, die, wenn sie auch nicht gerade böse sind, dennoch die völlige Hingabe des Herzens, in der das wahre Geheimnis alles geistlichen Nasirtums besteht, verhindern? Es gibt viele Dinge, die einen zerstreuenden und schwächenden Einfluss auf den Geist des Gläubigen ausüben, die aber, wenn sie nach dem Maßstab der gewöhnlichen Sittenlehre gemessen würden, als harmlos bezeichnet werden könnten.
Vergessen wir nie, dass die Nasire Gottes die Dinge nicht nach einem solchen Maßstab messen! Sie betrachten die Dinge von einem göttlichen und himmlischen Standpunkt aus, und deshalb können sie nichts als harmlos hinnehmen, was in irgendeiner Weise ihre Hingabe an Gott beeinträchtigt, nach der ihre Seele verlangt.
Der Herr gebe uns Gnade, dass wir diese Dinge erwägen und dass wir gegen jeden schädlichen Einfluss wachen. Jeder muss wissen, was in seiner Umwelt auf ihn wie Wein und starkes Getränk wirken würde. Man mag diese Überlegungen für kleinlich halten; aber könnte etwas kleinlich sein, was die innige Gemeinschaft unserer Seele mit Gott unterbricht, die zu kennen unser Vorrecht ist?