Behandelter Abschnitt 3. Mose 19,9-10
Rücksicht auf den Armen und den Fremden
Und nun noch ein Wort über die Anordnungen, in denen die Zärtlichkeit und Fürsorge Gottes so rührend ans Licht tritt. Lesen wir z. B. folgende Worte: „Und wenn ihr die Ernte eures Landes erntet, so sollst du den Rand deines Feldes nicht vollständig abernten und sollst keine Nachlese deiner Ernte halten. Und in deinem Weinberg sollst du nicht nachlesen, und die abgefallenen Beeren deines Weinbergs sollst du nicht auflesen: Für den Armen und für den Fremden sollst du sie lassen. Ich bin der Herr, euer Gott“ (Kap. 19,9.10)
Dieser Verordnung werden wir im 23. Kapitel noch einmal begegnen, und zwar dort in ihrer prophetischen Bedeutung. Hier betrachten wir sie von einem moralischen Gesichtspunkt aus, als eine Entfaltung der großen Gnade des Gottes Israels. Er gedachte des „Armen“ und des „Fremden“, und Er wollte, dass sein Volk diese Gedanken mit ihm teilt. Wenn die goldenen Garben eingeerntet und die reifen Trauben gesammelt wurden, musste Israel auch des Armen und des Fremden gedenken, weil der Herr der Gott Israels war. Der Schnitter und der Winzer sollten nicht von einem Geist gieriger Habsucht beseelt sein, die die Ränder des Feldes kahl macht und den Weinstock bis auf die letzte Beere aberntet, sondern vielmehr von dem Geist jenes weitherzigen Wohlwollens, das für den Armen und den Fremden eine Garbe oder eine Traube übrig lässt, damit auch sie sich der unumschränkten Güte des Gebers erfreuen können, „dessen Spuren von Fett triefen“ (Ps 65,12) und auf dessen geöffnete Hand jedes bedürftige Menschenkind mit Zuversicht vertrauen darf.
Das Buch Ruth liefert uns ein schönes Beispiel von einem Mann, der ganz in dem Geist dieser wohlwollenden Anordnung handelte (Rt 2,14-16). Es ist heilsam für unsere armen, selbstsüchtigen Herzen, mit solch einer Güte in Berührung zu kommen. Welch ein Zartgefühl spricht aus den Worten: „Ihr sollt sogar aus den Bündeln Ähren für sie herausziehen!“ Es war offensichtlich der Wunsch dieses edelmütigen Israeliten, dass die „Fremde“ Überfluss haben sollte, und dies mehr als ein Ergebnis ihres Sammelns, als seiner Wohltätigkeit. Es hieß, die arme Moabitin in unmittelbare Verbindung mit dem Gott Israels zu bringen, der so reichlich für den „Nachleser“ gesorgt hatte. Dieselbe Gnade, die Boas das Feld gegeben hatte, schenkte Ruth die Nachlese. Beide waren Schuldner der Gnade. Sie war die glückliche Nutznießerin der Güte des Herrn, und er der bevorzugte Ausführende seines gnadenreichen Gebots. Alles zeigte sich in wunderbarer Ordnung. Das Geschöpf war gesegnet und Gott wurde verherrlicht. Wer wollte leugnen, dass es heilsam für uns ist, eine solch reine Luft einzuatmen?