Der gerechte Lohn des Arbeiters
Wenden wir uns zu einer anderen Verordnung unseres Abschnitts: „Du sollst deinen Nächsten nicht bedrücken und sollst ihn nicht berauben. Der Lohn des Tagelöhners soll nicht über Nacht bei dir bleiben bis an den Morgen“ (Kap. 19,13). Hier haben wir die gleiche zärtliche Fürsorge. Der „Hohe und Erhabene, der in Ewigkeit wohnt“ (Jes 57,15), nimmt Kenntnis von den Gedanken und Gefühlen, die in dem Herzen eines armen Tagelöhners aufsteigen. Der Arbeiter rechnet auf seinen Lohn. Der Lebensunterhalt seiner Familie hängt davon ab. Und Gott sagt gleichsam: „Enthalte ihm seinen Lohn nicht vor! Sende den Arbeiter nicht mit einem beschwerten Herzen heim, damit nicht das Herz seiner Frau und seiner Kinder ebenfalls beschwert wird. Gib ihm in jedem Fall den Lohn, auf den er ein Recht hat und nach dem er verlangt. Täusche ihn nicht in seinen Erwartungen. Gib ihm, was ihm zukommt.“ So nimmt Gott Notiz von den Gedanken des Arbeiters und trägt Sorge für die von ihm gehegten Erwartungen. Welch eine Gnade! Welch eine zärtliche, herablassende Liebe! Könnte jemand solche Stellen lesen, ohne davon berührt zu werden? Könnte jemand sie lesen und einen Arbeiter gedankenlos abweisen, ohne zu wissen, ob dieser mit seiner Familie ausreichend versorgt ist?
Der „Herr Zebaoth“ hört den Schrei des bekümmerten und in seinen Erwartungen getäuschten Arbeiters (vgl. Jak 5,4). Seine Liebe leuchtet aus den Verordnungen seiner Regierung hervor, und sollte unser Herz nicht durch die Gnade, die sich in diesen Verordnungen zeigt, erweicht werden, so sollten wir doch wenigstens empfinden, wie gerecht sie sind und uns dementsprechend verhalten. Gott wird nicht zulassen, dass der Arme um seine rechtmäßigen Forderungen betrogen wird durch solche, deren Herzen durch den Reichtum gefühllos geworden sind und die nicht bedenken, wie es einem Mann zumute ist, der seine Tage unter schwerer Arbeit oder gar in tatsächlicher Not zubringen muss.
Die Armen sind besondere Gegenstände der Fürsorge Gottes. Immer und immer wieder denkt Er an sie in den Anordnungen seiner Regierung, und von ihm, der bald in der offenbarten Herrlichkeit die Zügel des Regiments in die Hand nehmen wird, wird mit Bestimmtheit angekündigt: „Denn erretten wird er den Armen, der um Hilfe ruft, und den Elenden, der keinen Helfer hat; er wird sich des Geringen und des Armen erbarmen, und die Seelen der Armen wird er retten. Von Bedrückung und Gewalttat wird er ihre Seele erlösen, und ihr Blut wird teuer sein in seinen Augen“ (Ps 72,12-14).
Möchten wir doch Nutzen ziehen aus der Betrachtung dieser so praktischen Wahrheiten! Möchte unser Leben unter ihrem Einfluss stehen! Wir leben in einer herzlosen Welt, und in unseren eigenen Herzen gibt es viel Selbstsucht. Der Gedanke an die Not anderer bewegt unser Herz oft wenig. Wenn aber schon die Juden durch die Gesetze und Verordnungen der mosaischen Haushaltung belehrt wurden, freundliche Gefühle gegen die Armen zu haben und gütig und liebreich zu sein gegen alle, die schwere Arbeiten zu verrichten hatten, wie viel mehr sollte die erhabenere und geistlichere Sittenlehre des Evangeliums in jedem Christen ein weitherziges Wohlwollen gegen alles menschliche Elend hervorrufen! Jeder Arbeitgeber sollte auch, so viel an ihm ist, Sorge tragen, dass das verdiente Brot ausreicht.
Der Mensch sorgt für seine Pferde und hält sie gut instand. Wie viel mehr sollte er für seinen Mitmenschen besorgt sein, der vom Montag bis zum Samstag für ihn arbeitet. „Aber“, wird vielleicht jemand einwenden, „jedes Ding hat seine zwei Seiten.“ Das stimmt zweifellos, und sicher findet sich unter den Armen manches, was den Wert der Wohltätigkeit und des wahren Mitgefühls fragwürdig erscheinen lässt – manches, was das Herz verhärten und die Hand verschließen will. Aber eins steht fest: Es ist besser, in neunundneunzig von hundert Fällen getäuscht zu werden, als einem einzigen wirklich Bedürftigen gegenüber das Herz zu verschließen. Unser himmlischer Vater lässt seine Sonne aufgehen über Gute und Böse und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte. Dieselben Sonnenstrahlen, die das Herz eines treuen Dieners Christi erfreuen, fallen auch auf den Pfad eines gottlosen Sünders, und derselbe Regenschauer, der auf das Feld eines wahren Gläubigen fällt, tränkt auch die Furchen des Gotteslästerers. Das sollte uns stets als Vorbild dienen. „Ihr nun sollt vollkommen sein, wie euer himmlischer Vater vollkommen ist“ (Mt 5,48).
Nur dann, wenn wir den Herrn stets vor uns stellen und in der Kraft seiner Gnade leben, werden wir fähig sein, allem menschlichen Elend mit einem wohlwollenden Herzen und einer offenen Hand zu begegnen. Nur insofern wir aus der nie versiegenden Quelle der Liebe und Güte Gottes trinken, werden wir imstande sein, die menschliche Not zu lindern, ohne uns durch die immer wiederkehrende Erfahrung menschlicher Verdorbenheit ermüden zu lassen. Unser winziges Bächlein wird bald austrocknen, wenn es nicht in ununterbrochener Verbindung mit der ewig sprudelnden Quelle bleibt.