Behandelter Abschnitt 3. Mose 10,8-11
Weder Wein noch starkes Getränk in der Gegenwart Gottes
„Und der Herr redete zu Aaron und sprach: Wein und starkes Getränk sollst du nicht trinken, du und deine Söhne mit dir, wenn ihr in das Zelt der Zusammenkunft hineingeht, damit ihr nicht sterbt – eine ewige Satzung bei euren Geschlechtern – und damit ihr unterscheidet zwischen dem Heiligen und dem Unheiligen und zwischen dem Unreinen und dem Reinen und damit ihr die Kinder Israel alle Satzungen lehrt, die der Herr durch Mose zu euch geredet hat“ (V. 8–11).
Der Wein hat die Wirkung, die Natur zu erregen, und jede Aufregung verhindert jenes ruhige, seelische Gleichgewicht, das zur angemessenen Erfüllung des priesterlichen Dienstes nötig ist. Weit davon entfernt, uns irgendeines Mittels zur Erregung der Natur zu bedienen, sollten wir sie vielmehr als eine Sache betrachten, die keine Daseinsberechtigung hat. Nur dann werden wir uns in dem Zustand befinden, der uns befähigt, im Heiligtum dienen, uns ein unbefangenes Urteil über das Reine und das Unreine bilden und den Willen Gottes erklären und mitteilen zu können. Es muss natürlich jedem Einzelnen überlassen bleiben, zu beurteilen, was in seinem besonderen Fall wie „Wein oder starkes Getränk“ auf ihn wirken könnte15. Die Dinge, die die Natur erregen, sind in der Tat zahlreich. Da sind Reichtum, Ehrgeiz, Politik, neben tausend anderen Dingen des Wetteifers rings um uns her. Alle diese Dinge wirken aufregend auf unsere Natur und machen uns ungeschickt zu jeder Art priesterlichen Dienstes.
Wenn das Herz mit Gefühlen des Hochmuts, der Habsucht oder des Wetteifers erfüllt ist, kann es unmöglich die reine Luft des Heiligtums einatmen oder die heiligen Pflichten des priesterlichen Dienstes erfüllen. Man spricht wohl von geistiger Gewandtheit oder von der Fähigkeit, schnell von einer Sache zu einer anderen übergehen zu können. Aber der gewandteste Geist wird niemals einen Menschen in den Stand setzen, von dem Kampfplatz wissenschaftlichen, geschäftlichen oder politischen Wetteifers auf einmal in die Zurückgezogenheit des Heiligtums der göttlichen Gegenwart zu treten. Und ebenso wenig wird ein Auge, das durch die Einflüsse dieser Dinge verdunkelt worden ist, imstande sein, zwischen dem „Heiligen und Unheiligen“ und dem „Unreinen und Reinen“ zu unterscheiden.
Nein, lieber Leser, die Priester Gottes müssen sich von „Wein und starkem Getränk“ fernhalten. Sie haben einen Pfad heiliger Absonderung und Abgeschiedenheit zu wandern. Sie müssen sowohl über die Einflüsse irdischer Freude wie irdischer Traurigkeit erhaben sein. Von „starkem Getränk“ darf unter ihnen nur dann die Rede sein, wenn von ihm „im Heiligtum ein Trankopfer dem Herrn“ gespendet werden soll (4Mo 28,7). Mit anderen Worten, die Freude der Priester ist nicht die Freude der Erde, sondern die Freude des Himmels, die Freude des Heiligtums. „Die Freude an dem Herrn ist eure Stärke“ (Neh 8,10).
Möchten doch alle diese Belehrungen tiefer in unsere Herzen dringen! Wir haben das wirklich sehr nötig. Kommen wir den verschiedenen Seiten unserer priesterlichen Verantwortlichkeit nicht treu nach, so gerät alles in Verwirrung. Wenn wir das Lager Israels betrachten, so bemerken wir drei Kreise, deren innerster seinen Mittelpunkt im Heiligtum hatte. Der erste dieser Kreise bestand aus Kriegsleuten (4Mo 1 und 2), der zweite aus Leviten, die rings um das Zelt lagerten (4Mo 3 und 4), und der letzte, der innerste, aus Priestern, die an heiliger Stätte dienten. Nun, der Gläubige ist berufen, sich in allen diesen Kreisen zu bewegen. Er zieht als Kriegsmann zum Kampf aus (Eph 6,11-17; 1Tim 1,18; 6,12; 2Tim 4,7). Er dient nach seinem Maß und in seinem Wirkungskreis als Levit in der Mitte seiner Brüder (Mt 25,14.15; Lk 19,12.13). Und schließlich opfert und betet er an als Priester an heiliger Stätte (Heb 13,15.16; 1Pet 2,5.9).
Dieser letzte Dienst wird ewig fortdauern. Und in dem Maß, wie wir geschickt sind, uns in diesem heiligen Kreis richtig zu bewegen, werden wir auch allen anderen Beziehungen und Verpflichtungen nachkommen. Alles, was uns daher für unseren priesterlichen Beruf untüchtig macht, alles, was uns von dem Mittelpunkt des innersten Kreises abzieht, in dem wir uns aufhalten dürfen, kurz, alles, was geeignet ist, uns in unserem priesterlichen Beruf zu stören und unser priesterliches Auge zu trüben, muss uns notwendigerweise auch ungeschickt machen für den Dienst, den wir zu erfüllen, und für den Streit, den wir zu streiten haben. Der Priester muss sein Herz mit allem Fleiß bewahren, sonst kann der Levit nicht dienen, und der Kämpfer wird überwunden.
Üben wir uns daher im Selbstgericht, und seien wir wachsam über unsere Gewohnheiten, unsere Wege und unsere Verbindungen mit anderen, und wenn wir durch die Gnade etwas entdecken, was uns für unseren erhabenen Beruf im Heiligtum unfähig zu machen droht, so lasst es uns hinwegtun, koste es, was es wolle. Lasst uns nicht zu Sklaven dieser oder jener Gewohnheit werden. Die Gemeinschaft mit Gott sollte unseren Herzen kostbarer sein als alles andere, und in dem Maß, wie wir diese Gemeinschaft schätzen, in demselben Maß werden wir auch wachen und beten, um vor allem, was sie uns rauben könnte, bewahrt zu bleiben.16
15 Manche haben wegen der auffallenden Erwähnung dieses Verbots gerade an dieser Stelle gedacht, Nadab und Abihu könnten beim Opfern des „fremden Feuers“ unter dem Einfluss starker Getränke gestanden haben. Wie dem auch sein mag, jedenfalls haben wir Ursache, für einen äußerst wertvollen Grundsatz hinsichtlich unseres Verhaltens als geistliche Priester dankbar zu sein. Wir sollten uns von allem enthalten, was auf unseren geistlichen Menschen dieselbe Wirkung ausübt, wie starkes Getränk auf den leiblichen Menschen. Es ist wohl kaum nötig, darauf aufmerksam zu machen, dass der Christ sehr wachsam sein sollte im Blick auf den Genuss von Wein und starken Getränken. Timotheus bedurfte, wie wir wissen, eines apostolischen Gebotes, um ihn zu veranlassen, seiner Gesundheit wegen etwas Wein zu trinken (1Tim 5) – ein schöner Beweis von seiner Enthaltsamkeit und von der fürsorglichen Liebe des Apostels!
Ich muss gestehen, dass es mein Gefühl verletzt, wenn ich Christen starkes Getränk genießen sehe in Fällen, wo es augenscheinlich nicht als Heilmittel erforderlich ist. Ich sehe selten oder nie, dass sich ein geistlich gesinnter Mensch solchen Dingen hingibt. Es ist überhaupt sehr betrübend, wenn ein Christ der Sklave einer Gewohnheit wird, welcher Art sie auch sein mag. Es beweist, dass er seinen Leib nicht in Knechtschaft hält, und dass er in großer Gefahr ist, „verwerflich“ zu werden (1Kor 9,27).↩︎
16 Vielleicht könnte der eine oder andere denken, dass der Wortlaut von 3. Mose 10,9 doch wohl Raum lasse für eine gelegentliche Nachgiebigkeit jenen Dingen gegenüber, die die Natur erregen können, weil es dort heißt: „Wein und starkes Getränk sollt ihr nicht trinken, wenn ihr in das Zelt der Zusammenkunft hineingeht.“ Hierauf möchte ich erwidern, dass das Heiligtum nicht eine Stätte ist, die der Christ nur bei gewissen Gelegenheiten besuchen sollte. Nein, es sollte seine Gewohnheit sein, dort zu dienen und anzubeten. Das Heiligtum ist der Bereich, in welchem er „leben und weben und sein“ (Apg 17,28) sollte. Je mehr wir in der Gegenwart Gottes leben, umso unerträglicher ist es uns, seine Nähe zu entbehren, und jeder, der die hohe Freude, dort zu sein, kennen gelernt hat, kann sich keiner Sache hingeben, die ihn aus dieser Gemeinschaft zu verdrängen sucht. Es gibt in der Tat auf dem ganzen Erdboden nichts, was nach dem Urteil eines geistlichen Gemüts auch nur für eine Stunde der Gemeinschaft mit Gott genügenden Ersatz bieten könnte.↩︎