Behandelter Abschnitt 3. Mose 10,6-7
Das Verhalten der Priester gegenüber dem Gericht
Er hatte sie soeben erst mit ihren herrlichen Gewändern bekleidet, gewaschen und gesalbt gesehen. Sie hatten mit ihm vor dem Herrn gestanden, um feierlich in das Priesteramt eingeführt zu werden.
Sie hatten in Gemeinschaft mit ihm die verordneten Opfer dargebracht. Sie hatten die Strahlen der göttlichen Herrlichkeit aus der Wolke hervorbrechen und das Feuer des Herrn auf das Opfer herniederfallen sehen. Auch hatten sie das Jauchzen einer anbetenden Gemeinde vernommen. Alles das war eben erst geschehen. Und jetzt? Ach! Jetzt lagen seine beiden Söhne tot zu seinen Füßen. Das Feuer des Herrn, das soeben ein annehmliches Opfer verzehrt hatte, war im Gericht über sie gekommen, und was konnte er sagen? Nichts. „Aaron schwieg.“ – „Ich bin verstummt, ich öffne meinen Mund nicht; denn du hast es getan“ (Ps 39,10). Es war die Hand Gottes, und obwohl sie nach dem Urteil von Fleisch und Blut als eine schwere Hand erscheinen mochte, blieb Aaron dennoch nichts anderes übrig, als in stiller Ehrfurcht und Ergebung sein Haupt zu beugen. „Ich bin verstummt . . . denn du hast es getan.“ Das war die angemessene Stellung gegenüber der göttlichen Heimsuchung.
Aaron fühlte ohne Zweifel die Grundpfeiler seines Hauses unter dem Schlag des göttlichen Gerichts wanken. Als Vater in einer solchen Weise und unter solchen Umständen seiner beiden Söhne beraubt zu werden, das war in der Tat kein gewöhnlicher Fall. Es war eine erschütternde Erläuterung des Wortes des Psalmisten: „Er ist ein Gott, schrecklich in der Versammlung der Heiligen und furchtbar über alle, die rings um ihn her sind“ (Ps 89,8). „Wer sollte nicht dich, Herr, fürchten und deinen Namen verherrlichen?“ (Off 15,4). Möchten wir lernen, in der Gegenwart Gottes unseren Weg vorsichtig zu gehen und die Vorhöfe des Herrn mit unbeschuhten Füßen und in einem ehrerbietigen Geist zu betreten! Möchte unsere priesterliche Räucherpfanne immer nur das eine Material, den fein zerstoßenen Weihrauch der mannigfaltigen Vollkommenheiten Christi, enthalten, und möchte die Kraft des Heiligen Geistes die geweihte Flamme entzünden! Alles andere ist wertlos und unrein. Alles, was aus der Kraft der Natur hervorkommt, alles, was seinen Ursprung in dem menschlichen Willen hat, selbst das wohlriechendste Räucherwerk menschlicher Erfindung, die glühendste Hingebung der Natur – alles wird sich als „fremdes Feuer“ erweisen und das ernste Gericht des Herrn, des allmächtigen Gottes, auf sich herabziehen.
Das Gesagte soll nicht dazu dienen, ein schüchternes, aber aufrichtiges Herz zu entmutigen. Es ist nur zu oft der Fall, dass solche, die Grund haben, sich zu fürchten, höchst sorglos sind, während die, für die der Geist der Gnade nur Worte des Trostes und der Ermunterung hat, die ernsten Warnungen der Heiligen Schrift in verkehrter Weise auf sich anwenden. Ein demütiges und bußfertiges Herz, das vor dem Wort des Herrn zittert, befindet sich ohne Zweifel in einem sicheren Zustand. Auch dürfen wir nicht vergessen, dass ein Vater sein Kind warnt, nicht weil er es nicht als sein Kind betrachtet, sondern gerade weil er es so betrachtet, und einer der lieblichsten Beweise für die Verwandtschaft ist die Neigung, die Warnung anzunehmen und Nutzen aus ihr zu ziehen.
Die väterliche Stimme will, wenn auch im Ton einer ernsten Ermahnung, das Herz des Kindes erreichen, aber ganz sicher nicht zu dem Zweck, um in diesem Herzen Zweifel bezüglich seiner Verwandtschaft mit dem Vater wachzurufen. So ließ auch das Gericht, durch welches das Haus Aarons heimgesucht wurde, diesen nicht daran zweifeln, dass er wirklich Priester sei. Es hatte einzig und allein die Wirkung, ihn fühlen zu lassen, wie er sich in dieser hohen und heiligen Stellung zu verhalten habe. „Und Mose sprach zu Aaron und zu Eleasar und zu Ithamar, seinen Söhnen: Eure Häupter sollt ihr nicht entblößen und eure Kleider nicht zerreißen, damit ihr nicht sterbt und er nicht erzürne über die ganze Gemeinde; aber eure Brüder, das ganze Haus Israel, sollen diesen Brand beweinen, den der Herr angerichtet hat. Und vom Eingang des Zeltes der Zusammenkunft sollt ihr nicht weggehen, damit ihr nicht sterbt; denn das Öl der Salbung des Herrn ist auf euch. Und sie taten nach dem Wort Moses“ (V. 6.7).
Aaron, Eleasar und Ithamar mussten auf ihrem erhabenen Platz in heiliger Würde und in ihrer Stellung priesterlicher Herrlichkeit verharren. Weder die Sünde noch das dadurch heraufbeschworene Gericht durfte jene störend beeinflussen, die die priesterlichen Gewänder trugen und mit dem „Öl des Herrn“ gesalbt waren. Dieses Öl hatte sie in einen geweihten Bereich versetzt, wo sie von den Einflüssen der Sünde, des Todes und des Gerichts nicht erreicht werden konnten. Alle, die sich draußen, in einiger Entfernung von dem Heiligtum, befanden und nicht Priester waren, mochten den „Brand beweinen“, aber Aaron und seine Söhne mussten in der Verrichtung ihres heiligen Dienstes fortfahren, als wenn nichts geschehen wäre. Die Priester im Heiligtum waren nicht da, um zu wehklagen, sondern um anzubeten. Das Feuer des Herrn mochte das Gericht ausführen, aber für einen wahren Priester tat es nichts zur Sache, zu welchem Zweck das „Feuer“ gekommen war. Mochte durch das Verzehren eines Opfers dem göttlichen Wohlgefallen, oder durch das Verzehren derer, die „fremdes Feuer“ opferten, dem göttlichen Missfallen Ausdruck gegeben werden – er hatte nur anzubeten. Dieses „Feuer“ war in Israel eine wohlbekannte Offenbarung der Gegenwart Gottes, und mochte es nun in „Gnade“ oder in „Gericht“ handeln, der Dienst aller wahren Priester war anzubeten. „Von Güte und Recht will ich singen; dir, Herr, will ich Psalmen singen“ (Ps 101,1).
In diesem allem liegt für die Seele eine tiefe Unterweisung. Diejenigen, die durch die Kraft des Blutes und durch die Salbung des Heiligen Geistes Gott nahe gebracht sind, haben sich in einem Bereich zu bewegen, der außerhalb der Einflüsse der menschlichen Natur liegt. Als Priester in der Nähe Gottes zu sein, verleiht der Seele eine solche Einsicht in alle seine Wege und ein solches Gefühl von der Richtigkeit aller seiner Handlungen, dass man fähig ist, in seiner Gegenwart anzubeten, selbst wenn seine Hand den Gegenstand unserer zärtlichsten Zuneigung von unserer Seite genommen hat. Aber sollen wir denn kalte, gefühllose Menschen sein? Nun, waren Aaron und seine Söhne kalt und gefühllos? Nein, sie hatten Gefühle wie Menschen, aber sie beteten an als Priester. Um in die Tiefe und Bedeutung solch heiliger Geheimnisse eindringen zu können, müssen wir in priesterlicher Energie das Heiligtum Gottes betreten.
Der Prophet Hesekiel wurde später berufen, diese schwierige Lektion zu lernen. „Und das Wort des Herrn erging an mich, indem er sprach: Menschensohn, siehe, ich nehme die Lust deiner Augen von dir weg durch einen Schlag; und du sollst nicht klagen und nicht weinen, und keine Träne soll dir kommen. Seufze schweigend, Totenklage stelle nicht an; binde dir deinen Kopfbund um und zieh deine Schuhe an deine Füße, und deinen Lippenbart sollst du nicht verhüllen und Brot der Leute nicht essen. Und ich redete zu dem Volk am Morgen, und am Abend starb meine Frau. Und ich tat am Morgen, wie mir geboten war“ (Hes 24,15-18). Die Söhne Aarons und die Frau Hesekiels wurden weggenommen durch einen Schlag. Dennoch durften weder die Priester noch der Prophet das Haupt entblößen oder eine Träne vergießen.