Behandelter Abschnitt 3. Mose 5,14 - 6,7
Verschulden Gott und Verschulden Menschen gegenüber
Vergleichen wir jetzt weiter die beiden Klassen des Schuldopfers, das Opfer für die Versündigung „an den heiligen Dingen des Herrn“ und das für die Versündigung in den gewöhnlichen Verrichtungen und Beziehungen des menschlichen Lebens. Wir werden bei dieser Gelegenheit einige beachtenswerte Punkte finden. Zunächst ist es auffallend, dass die Worte: „Wenn jemand aus Versehen sündigt“, in dem ersten Fall, nicht aber in dem zweiten vorkommen. Die Ursache für diesen Unterschied liegt auf der Hand. Die Ansprüche, die mit den heiligen Dingen des Herrn in Verbindung stehen, müssen weit über den Bereich des höchstentwickelten menschlichen Gefühls hinausgehen. Diesen Ansprüchen mag beständig Eintrag geschehen; es mag immer wieder dagegen gesündigt werden, ohne dass dem Schuldigen diese Tatsache auch nur zum Bewusstsein kommt. Deshalb kann dem menschlichen Bewusstsein im Heiligtum Gottes niemals die Rolle des Entscheidens zufallen. Das ist eine unaussprechliche Gnade. Gottes Heiligkeit allein muss den Maßstab bestimmen, wenn es sich um Gottes Rechte handelt.
Andererseits kann das menschliche Gewissen alle menschlichen Ansprüche leicht erfassen und ebenso leicht von jeder Beeinträchtigung solcher Ansprüche Kenntnis nehmen. Wie oft mögen wir gegen Gott, gegen seine heiligen Dinge gesündigt haben, ohne dass unser Gewissen uns Vorwürfe gemacht hätte. Ja, wir mögen selbst nicht die Fähigkeit besitzen, das begangene Unrecht zu entdecken (siehe Mal 3,8). Ganz anders aber ist es, wenn menschliche Rechte infrage kommen. Ein Unrecht, das das menschliche Auge zu unterscheiden und das menschliche Herz zu fühlen vermag, kann auch durch das menschliche Gewissen wahrgenommen werden.
Ein Israelit konnte sich „aus Versehen“ gegen die damals im Heiligtum herrschenden Gesetze versündigen, ohne sich dessen bewusst zu werden, bis ein höheres Licht in sein Gewissen hineinleuchtete. Aber er konnte nicht „aus Versehen“ lügen, falsch schwören, eine Gewalttat ausüben, den Nächsten betrügen oder Verlorenes finden und es nachher ableugnen. Alle diese Dinge waren einfache und handgreifliche Tatsachen, die selbst von dem trägsten Gewissen empfunden werden mussten. Das also ist der Grund, weshalb der Ausdruck „aus Versehen“, den wir bezüglich der „heiligen Dinge des Herrn“ angeführt finden, bei den gewöhnlichen Angelegenheiten des Menschen ausgelassen ist. Wie gut ist es, zu wissen, dass das kostbare Blut Christi alle Fragen, sowohl in Bezug auf Gott als auch auf den Menschen, sowohl in Bezug auf unsere wissentlichen als auch unsere unwissentlichen Sünden, beantwortet hat! Hier ist die tiefe und feste Grundlage des Friedens eines Gläubigen.
Ferner ist bei einer Versündigung „an den heiligen Dingen des Herrn“ zuerst von dem Opfer die Rede und danach erst von der „vollen Summe“ und dem „Fünftel“. Diese Ordnung aber war umgekehrt, wenn es sich um die gewöhnlichen Dinge des Lebens handelte (vgl. Vers 15.16 mit Vers 23–26). Die Ursache für diese Verschiedenheit liegt auch hier wieder klar. Wenn die Rechte Gottes verletzt worden waren, so nahm das Blut der Versöhnung den ersten Platz ein. War hingegen eine Beeinträchtigung der menschlichen Rechte geschehen, so musste naturgemäß die Wiedererstattung im Vordergrund stehen.
Aber da es in dem zweiten Fall, ebenso wie im ersten, um die Beziehung der Seele zu Gott ging, so finden wir, wenn auch zuletzt, das Opfer eingeführt. Wenn ich meinem Nächsten Unrecht tue, so wird sicherlich dadurch meine Gemeinschaft mit Gott gestört, und diese Gemeinschaft kann nur aufgrund der Versöhnung wiederhergestellt werden. Eine bloße Entschädigung würde nicht genügen. Vielleicht würde eine Entschädigung den Beleidigten zufriedenstellen, aber niemals könnte sie die Grundlage zur Wiederherstellung der Gemeinschaft mit Gott bilden. Ich könnte wer weiß wie oft die „volle Summe“ zurückerstatten und das „Fünftel“ hinzufügen, und dennoch würde meine Sünde bleiben, denn „ohne Blutvergießen ist keine Vergebung“ (Heb 9,22). Nichtsdestoweniger muss ich versuchen, wenn ich an meinem Nächsten ein Unrecht begangen habe, zunächst dieses Unrecht wiedergutzumachen. „Wenn du nun deine Gabe zum Altar bringst und dich dort erinnerst, dass dein Bruder etwas gegen dich hat, so lass deine Gabe dort vor dem Altar und geh zuvor hin, versöhne dich mit deinem Bruder; und dann komm und bring deine Gabe dar“ (Mt 5,23.24)12.
Die beim Schuldopfer vorgeschriebene göttliche Ordnung enthält weit mehr, als man auf den ersten Blick denken mag. Die Ansprüche, die aus unseren menschlichen Beziehungen entstehen, dürfen nicht gering geschätzt werden. Sie müssen stets ihren rechten Platz im Herzen einnehmen. Dies wird uns im Schuldopfer deutlich gezeigt. Wenn ein Israelit durch irgendeine Übertretung seine Beziehung zu dem Herrn verletzt hatte, so war die Reihenfolge: Opfer und Wiedererstattung. Hatte er in irgendeiner Weise seine Beziehung zu seinem Nächsten verletzt, so war die Reihenfolge: Wiedererstattung und Opfer. Ist diese Veränderung in der Reihenfolge zufällig oder ist sie von Gott angeordnet, so dass wir etwas daraus zu lernen haben?
Jeder Punkt ist bedeutungsvoll, wenn wir nur dem Heiligen Geist gestatten, diese Bedeutung unseren Herzen mitzuteilen, und sie nicht mit unseren armen, eitlen Einbildungen zu erfassen suchen. Jedes Opfer liefert uns einen besonderen Charakterzug von dem Herrn Jesus und seinem Werk. Jedes wird in seiner charakteristischen Ordnung dargestellt. Eine Nichtachtung der besonderen Ordnung eines jeden Opfers heißt auch die Darstellung einer besonderen Seite Christi in jedem Opfer beiseitesetzen und das Vorhandensein eines Unterschiedes zwischen dem Brand- und Sündopfer, zwischen dem Sünd- und Schuldopfer usw. leugnen. Hieraus aber würde folgen, dass die sieben ersten Kapitel des dritten Buches Mose nichts als Wiederholungen sind und dass jedes Kapitel dieselben Dinge behandelt. Ein Christ, der seinen Herrn kennt, verabscheut solche ungeheuerlichen, unwürdigen Gedanken.
Wer glaubt, dass „alle Schrift von Gott eingegeben ist“ (2Tim 3,16), wird die verschiedenen Bilder in ihrer eigenen Ordnung wie verschiedenartig gestaltete Schmuckkästchen betrachten, in denen der Heilige Geist „den unergründlichen Reichtum des Christus“ (Eph 3,8) für das Volk Gottes aufbewahrt hat. Hier gibt es keine ermüdende, weitschweifige Wiederholung, sondern nur reiche, göttliche Mannigfaltigkeit, und wir brauchen nur mit dem großen Gegenbild bekannt zu sein, um die Schönheiten und die feinen, zarten Züge eines jeden Bildes erfassen zu können. Sobald das Herz sich bewusst wird, dass wir in jedem Bild Christus haben, kann es mit geistlichem Interesse bei jeder Einzelheit verweilen. Es findet dann in allem Bedeutsamkeit und Schönheit, denn es findet in allem Christus. Wie das Fernrohr und das Vergrößerungsglas die Wunder im Reich der Natur in ihren Besonderheiten dem Auge darstellen, so ist es auch mit dem Wort Gottes. Mögen wir es als ein Ganzes betrachten oder jedes Satzglied genau prüfen – alles ruft die Anbetung und Danksagung unserer Herzen wach.
12 Vergleichen wir Matthäus 5,23.24 und Matthäus 18,21.22, so können wir hinsichtlich der Art und Weise, wie Unrecht und Beleidigungen zwischen zwei Brüdern geregelt werden sollen, einen schönen Grundsatz kennenlernen. Der Beleidiger wird vom Altar zurückgeschickt, um seine Angelegenheiten mit dem Beleidigten zu ordnen. Wie aber soll der Beleidigte den Beleidiger empfangen? „Herr, wie oft soll ich meinem Bruder, der gegen mich sündigt, vergeben? Bis siebenmal?“ – Antwort: „Nicht bis siebenmal, sage ich dir, sondern bis siebzig mal sieben.“ Das ist die göttliche Weise, alle Fragen zwischen Brüdern zu ordnen. „Einander ertragend und euch gegenseitig vergebend, wenn einer Klage hat gegen den anderen; wie auch der Christus euch vergeben hat, so auch ihr“ (Kol 3,13).↩︎