Behandelter Abschnitt 3Mo 4,2
Die Sünde aus Versehen oder aus Unwissenheit
Nach diesen allgemeinen Bemerkungen über die drei Arten des Sündopfers kommen wir zu den einzelnen Grundsätzen, die in der ersten Art entfaltet werden. Auf diesem Weg können wir uns ein Urteil über die Grundsätze bilden, die alle drei Arten kennzeichnen. Vorher möchte ich jedoch die Aufmerksamkeit des Lesers auf einen wichtigen Punkt in Kapitel 4,2 lenken. Ich meine die Worte: „Wenn jemand aus Versehen sündigt“. Hier wird uns in Verbindung mit dem Sühnopfer des Herrn Jesus Christus eine gesegnete Wahrheit gezeigt. Wenn wir dieses Sühnopfer betrachten, so entdecken wir weit mehr als die bloße Befriedigung selbst des zartesten, empfindlichsten Gewissens. Es ist unser Vorrecht, das darin zu erblicken, was alle Anforderungen der göttlichen Heiligkeit, Gerechtigkeit und Majestät völlig befriedigt hat.
Für die Heiligkeit der Wohnung Gottes sowie für die Grundlage seiner Verbindung mit seinem Volk kann das Gewissen des Menschen, so zart es auch sein mag, nie zum Maßstab dienen. Es gibt viele Dinge, die von dem Gewissen des Menschen übersehen werden, viele Dinge, die der Kenntnis des Menschen entgehen, viele Dinge, die von seinem Herzen für ganz richtig gehalten werden mögen, während Gott sie nicht dulden kann, und die infolgedessen das Hinzunahen des Menschen zu Gott sowie seine Anbetung und seinen Umgang mit ihm verhindern. Hätte daher das Sühnungswerk Christi nur für solche Sünden vorgesorgt, die der Mensch selbst zu erkennen vermag, so würden wir noch sehr weit von dem wahren Grund des Friedens entfernt sein.
Wir müssen verstehen, dass die Sünde, so wie Gott sie gemessen hat, gesühnt worden und dass den Ansprüchen seines Thrones vollkommen Genüge geschehen ist – dass die Sünde, wie sie im Licht seiner unwandelbaren Heiligkeit geschaut wird, auf göttliche Weise ihr Gericht gefunden hat. Das verleiht der Seele einen tief gegründeten Frieden. Sowohl für die Sünden des Gläubigen, die er aus Versehen als auch für die, die er wissentlich begangen hat, ist Sühnung geschehen. Das Opfer Christi legte den Grund zu dem Verhältnis und der Gemeinschaft des Gläubigen mit Gott, und zwar gemäß der göttlichen Schätzung der an dieses Verhältnis geknüpften Ansprüche.
Es ist von großem Wert, ein klares Verständnis über diese Dinge zu haben. Wenn diese Seite des Versöhnungswerkes nicht verstanden wird, so kann weder ein fester Friede noch ein richtiges Gefühl für die Fülle des Werkes Christi oder für die wahre Natur der darauf gegründeten Beziehungen vorhanden sein. Gott wusste, was der Mensch benötigte, um ohne Furcht in seiner Gegenwart sein zu können, und auf dem Kreuz hat Er da in jeder Hinsicht Vorsorge getroffen. Eine Gemeinschaft zwischen Gott und dem Menschen wäre unmöglich gewesen, wenn nicht mit der Sünde gehandelt worden wäre gemäß den Gedanken Gottes über sie; denn wenn auch das Gewissen des Menschen Befriedigung gefunden hätte, so wäre doch immer wieder die Frage aufgetaucht: Ist Gott wirklich befriedigt worden? Und solange diese Frage nicht bejaht werden könnte, würde die Gemeinschaft unmöglich sein8. Beständig würde sich uns der Gedanke aufdrängen, dass ja im täglichen Leben Dinge zutage treten, die die göttliche Heiligkeit nicht dulden kann.
Freilich würden wir jene Dinge „aus Versehen“ tun, aber das würde vor Gott, da ihm ja alles bekannt ist, die Sache nicht ändern, und darum würde die Seele stets in Furcht und Zweifel sein. Allen diesen Dingen aber ist auf göttliche Weise durch die Tatsache, dass die Sünde gesühnt ist, begegnet worden, und zwar nicht nach dem Maßstab unseres „Versehens“, sondern nach der Kenntnis Gottes. Die Gewissheit hierüber verleiht dem Herzen und Gewissen völlige Ruhe.
Nichts kann des Menschen Unfähigkeit, der Sünde entgegenzutreten, besser beweisen als die Tatsache, dass er „aus Versehen“ sündigen kann. Wie könnte er einer Sache begegnen, deren er sich nicht bewusst ist? Wie könnte er sich von dem befreien, was nie in den Bereich seines Gewissens gekommen ist? Unmöglich! Wenn dem Menschen eine Sünde unbekannt ist, was kann er dann betreffs ihrer tun? Nichts. Er ist ebenso machtlos wie unwissend. Aber das ist nicht alles. Wenn nicht das Herz durch das Zeugnis der Heiligen Schrift zu der Gewissheit gebracht wird, dass die Forderungen der göttlichen Gerechtigkeit befriedigt sind, so muss unbedingt ein Gefühl von Unruhe vorhanden sein, und jedes Gefühl dieser Art stellt für unsere Anbetung, für unsere Gemeinschaft und unser Zeugnis ein großes Hindernis dar. Wenn ich wegen der Regelung der Sündenfrage noch beunruhigt bin, so kann ich nicht anbeten. Ich kann keine Gemeinschaft genießen, weder mit Gott noch mit seinem Volk, und ebenso wenig kann ich ein wirksamer Zeuge für Christus sein. Das Herz muss bezüglich der Vergebung der Sünde in Ruhe vor Gott sein, bevor wir ihn „in Geist und Wahrheit anbeten“ (Joh 4,23) können. Liegt noch irgendeine Schuld auf dem Gewissen, so muss Furcht im Herzen sein, und ein mit Furcht erfülltes Herz kann kein glückliches oder anbetendes Herz sein.
Nur aus einem Herzen, das mit der heiligen Ruhe, die das Blut Christi gibt, erfüllt ist, kann jene wahre Anbetung zum Vater emporsteigen. Derselbe Grundsatz gilt im Blick auf unsere Gemeinschaft mit dem Volk Gottes sowie betreffs unseres Dienstes und unseres Zeugnisses unter den Menschen.
8 Ich möchte daran erinnern, dass der vorliegende Text nur von Versöhnung redet. Der Besitz der „göttlichen Natur“ ist zur Gemeinschaft mit Gott unbedingt nötig. Ich brauche nicht nur das Recht, Gott nahen zu dürfen, sondern auch eine Natur, die fähig ist, ihn zu genießen. Jeder, der an den Namen des eingeborenen Sohnes Gottes glaubt, hat aber das eine wie das andere (siehe Joh 1,12.13; 3,36; 5,24; 20,31; 1Joh 5,11-13).↩︎