Behandelter Abschnitt 2Mo 15,22
Der Weg durch die Wüste
„Und Mose ließ Israel vom Schilfmeer aufbrechen, und sie zogen aus in die Wüste Sur; und sie wanderten drei Tage in der Wüste und fanden kein Wasser“ (V. 22). Wenn unser Erfahrungsleben in der Wüste begonnen hat, dann erweist es sich, inwieweit wir Gott und unsere eigenen Herzen kennen. Am Anfang unserer christlichen Laufbahn haben wir gewöhnlich noch sehr viel Frische und ein Übermaß von Freude, die aber sehr bald durch den schneidenden Wind der Wüste beeinträchtigt werden; und wenn dann nicht das tiefe Bewusstsein dessen, was Gott für uns ist, alles andere beherrscht, so besteht die Gefahr, dass wir zusammenbrechen und uns in unseren Herzen „nach Ägypten zurückwenden“ (Apg 7,39). Die Zucht der Wüste ist nötig, allerdings nicht, damit wir ein Anrecht auf das Land Kanaan erhalten, sondern damit wir Gott und unsere eigenen Herzen besser kennenlernen. Auch die Kraft unseres Verhältnisses zu Gott erleben wir nur in der Wüste, und schließlich – wenn wir Kanaan erreicht haben – wird aufgrund unserer Erfahrungen in der Wüste auch unsere Freude an dem Land vermehrt werden (vgl. 5Mo 8,2-5).
Die Frische und der Zauber des Frühlings verschwinden bald vor der Hitze des Sommers; aber gerade diese Hitze bringt die gereiften Früchte des Herbstes hervor. So ist es auch im Leben des Christen. Überhaupt gibt es eine auffallende Übereinstimmung zwischen den Grundsätzen der Natur und denen des Reiches Gottes; wie könnte es auch anders sein, da die einen wie die anderen das Werk desselben Gottes sind?
Es gibt drei verschiedene Bereiche, in denen wir die Israeliten betrachten können: Ägypten, die Wüste und das Land Kanaan. In jedem dieser Bereiche sind sie ein Bild von uns; nur befinden wir uns in allen dreien gleichzeitig. Das mag seltsam klingen, aber es ist die Wahrheit. Tatsächlich sind wir in Ägypten, und zwar umringt von natürlichen Dingen, die dem natürlichen Herzen ganz und gar entsprechen. Aber weil Gott uns durch seine Gnade in die Gemeinschaft seines Sohnes Jesus Christus berufen hat, haben wir eine neue Natur mit neuen Neigungen und Wünschen bekommen und damit zugleich auch einen Platz außerhalb Ägyptens5, d. h. der Welt in ihrem natürlichen Zustand. Und für unsere praktische Erfahrung bedeutet das ein Leben in der Wüste. Die göttliche Natur in uns verlangt nach einer anderen Ordnung der Dinge, nach einer reineren Atmosphäre als die, von der wir umgeben sind, und dadurch lässt sie uns fühlen, dass Ägypten seinem Wesen nach eine Wüste ist.
Schließlich aber sind wir in den Augen Gottes auch auf ewig mit Christus vereinigt, der in die Himmel eingegangen ist und dort zur Rechten der Majestät Platz genommen hat, und deshalb dürfen wir durch den Glauben wissen, dass Er auch uns in ihm hat mitsitzen lassen in den himmlischen Örtern (Eph 2,6). So sind wir nun dem Leib nach in Ägypten, hinsichtlich unserer Erfahrungen in der Wüste und können doch gleichzeitig durch den Glauben in Kanaan eintreten und uns von „dem Getreide des Landes“, d. h. von Christus nähren; nicht nur von Christus, der auf die Erde herabgestiegen ist, sondern von Christus, der in den Himmel zurückgekehrt ist und jetzt dort in Herrlichkeit thront (vgl. 1Tim 3,16).
Die letzten Verse des Kapitels zeigen uns die Kinder Israel in der Wüste. Bis dahin war es glücklich gelaufen. Schreckliche Gerichte waren über Ägypten hereingebrochen, Israel aber war völlig verschont geblieben; das ägyptische Heer lag tot am Ufer, Israel aber triumphierte. Alles war nach Wunsch gegangen. Aber wie schnell änderte sich die Lage. Die Lobgesänge verstummten und Murren trat an ihre Stelle.
5 Zwischen Ägypten und Babylon besteht ein wichtiger moralischer Unterschied. Ägypten war der Ort, von dem die Israeliten auszogen, und Babylon das Land, in das sie später geführt wurden (vgl. Amos 5,25-27 mit Apg 7,42.43). Ägypten ist der Ausdruck dessen, was der Mensch aus der Welt gemacht hat; Babylon der Ausdruck dessen, was Satan aus der bekennenden Christenheit gemacht hat oder noch machen wird. Wir sind deshalb nicht nur von den Verhältnissen Ägyptens, sondern auch von den moralischen Grundsätzen Babylons umgeben. Das macht unsere Tage zu „schweren Zeiten“, wie der Heilige Geist sich ausdrückt (2Tim 3,1). Man braucht die Energie des Geistes Gottes und vorbehaltlose Unterwerfung unter die Autorität der Heiligen Schrift, um den Verlockungen Ägyptens und zugleich dem Geist und den Grundsätzen Babylons widerstehen zu können. Das Erste entspricht den Wünschen des natürlichen Herzens, während das Zweite sich an die natürliche Religiosität richtet und einen großen Einfluss auf das Herz erlangt.
Der Mensch ist ein religiöses Wesen und besonders empfänglich für die Eindrücke der Musik, der Baukunst, der Malerei und der Prachtentfaltung religiöser Gebräuche und Zeremonien. Wenn diese Dinge auch noch die Erfüllung seiner natürlichen Wünsche und äußeres Wohlleben mit sich bringen, dann kann nur die Kraft des Wortes und Geistes Gottes jemanden in der Treue für Christus bewahren. Beachten wir auch, dass es zwischen dem Endschicksal Ägyptens und Babylons einen großen Unterschied gibt. In Jesaja 19 werden uns die Segnungen vor Augen gestellt, die für Ägypten aufbewahrt sind. Wir lesen am Schluss des Kapitels: „Und der Herr wird die Ägypter schlagen, schlagen und heilen; und sie werden sich zu dem Herrn wenden, und er wird sich von ihnen erbitten lassen und sie heilen . . . An jenem Tag wird Israel das Dritte sein mit Ägypten und mit Assyrien, ein Segen inmitten der Erde; denn der Herr der Heerscharen segnet es und spricht: Gesegnet sei mein Volk Ägypten, und Assyrien, meiner Hände Werk, Israel, mein Erbteil“ (Jes 19,22-25).
Ganz anders ist das Ende der Geschichte Babylons, mag man nun buchstäblich an eine Stadt oder an ein geistliches System denken. „Und ich werde es zum Besitztum der Igel machen und zu Wassersümpfen, und ich werde es ausfegen mit dem Besen der Vertilgung, spricht der Herr der Heerscharen“(Jes 14,23). „Es wird niemals bewohnt werden und keine Niederlassung mehr sein von Geschlecht zu Geschlecht“ (Jes 13,20). Das ist das Schicksal Babylons, wenn wir es als Stadt betrachten. Sehen wir es aber in seiner geistlichen Bedeutung, so finden wir in Offenbarung 18 sein Endurteil; das ganze Kapitel handelt von Babylon und schließt mit den Worten: „Und ein starker Engel hob einen Stein auf wie einen großen Mühlstein und warf ihn ins Meer und sprach: So wird Babylon, die große Stadt, mit Wucht niedergeworfen werden und nie mehr gefunden werden . . . “ Wie sollte sich jeder von diesen Worten getroffen fühlen, der irgendwie mit Babylon und seinen Grundsätzen verbunden ist! „Geht aus ihr hinaus, mein Volk, damit ihr nicht ihrer Sünden teilhaftig werdet, und damit ihr nicht empfangt von ihren Plagen!“ (Off 18,4).
Die „Kraft“ des Heiligen Geistes kann sich nur in einer bestimmten „Form“ äußern aber es ist immer das Ziel des Feindes gewesen, die bekennende Christenheit der Kraft zu berauben, gleichzeitig aber zu bewirken, dass sie die Form beibehielt, auch wenn der Geist und das Leben längst verschwunden waren. In dieser Weise baut er das geistliche Babylon auf. Die Steine, aus denen diese Stadt besteht, sind leblose Bekenner; und der Mörtel, wodurch Satan die Steine verbindet, ist „eine Form der Gottseligkeit ohne Kraft“ (2Tim 3,5).↩︎