Behandelter Abschnitt 2. Mose 15,1-19
Gott wird verherrlicht
Wenn wir jetzt den Gesang der Israeliten im Einzelnen betrachten, so finden wir in ihm keine Silbe, die auf das Ich, auf seine Handlungen, Worte oder Gefühle Bezug nimmt, sondern er handelt von Anfang bis Ende nur von dem Herrn. Das Lied beginnt mit den Worten: „Singen will ich dem Herrn, denn hoch erhaben ist er; das Pferd und seinen Reiter hat er ins Meer gestürzt“ (V. 1). Hier wird schon der Inhalt des ganzen Liedes angedeutet; vom Anfang bis zum Schluss redet es von den Eigenschaften und Taten Gottes. Im 14. Kapitel war das Volk durch den übermäßigen Druck der Umstände wie gelähmt, hier in Kapitel 15 aber ist der Druck weggenommen und sie sind frei und ungehindert, um Gott zu loben. Das Ich ist vergessen. Die Probleme liegen hinter ihnen. Nur der Herr selbst, sein Charakter und seine Wege stehen vor ihren Blicken. Sie konnten sagen: „Du, Herr, hast mich erfreut durch dein Tun; über die Werke deiner Hände will ich jubeln“ (Ps 92,5).
Das ist wahre Anbetung. Nur wenn das wertlose Ich, mit allem, was ihm angehört, nicht mehr in unserem Blickfeld existiert und Christus allein unsere Herzen ausfüllt, sind wir fähig, in der rechten Weise Gottesdienst zu üben. Dann ist keine fleischliche Frömmigkeit nötig, um Gefühle der Andacht wachzurufen. Auch die äußeren Hilfsmittel einer weltlichen Religion, die zum Gelingen eines wohlgefälligen Gottesdienstes mitwirken sollen, erübrigen sich dann völlig. Wenn ein Gläubiger nur mit der Person Christi beschäftigt ist, werden Lobgesänge die natürliche Folge sein. Man kann nicht mit aufgedecktem Angesicht den Herrn anschauen, ohne sich in Anbetung niederzubeugen. Wenn wir z. B. in der Offenbarung die Anbetung der zahllosen Erlösten betrachten, so finden wir, dass sie immer durch die Darstellung irgendeines besonderen Zuges der Wesensart Gottes hervorgerufen wird. So sollte es auch in der Versammlung sein, solange sie noch auf der Erde ist. Wenn es aber nicht so ist, dann deshalb, weil wir uns von Dingen beanspruchen lassen, die angesichts der Herrlichkeit Gottes keinen Bestand haben. Gott selbst ist das Ziel, der Gegenstand und die Kraft wahrer Anbetung.
Wir sehen in diesem Kapitel ein schönes Beispiel davon, wie Gott durch ein Lied geehrt werden kann. Es ist die Sprache eines erlösten Volkes, das seinen Erlöser lobt: „Meine Stärke und mein Gesang ist Jah, denn er ist mir zur Rettung geworden; dieser ist mein Gott, und ich will ihn verherrlichen, meines Vaters Gott, und ich will ihn erheben. Der Herr ist ein Kriegsmann, Herr ist sein Name . . . Deine Rechte, Herr, ist herrlich in Macht; deine Rechte, Herr, hat zerschmettert den Feind . . . Wer ist dir gleich unter den Göttern, Herr! Wer ist dir gleich, herrlich in Heiligkeit, furchtbar an Ruhm, Wunder tuend! . . . Du hast durch deine Güte geleitet das Volk, das du erlöst hast, hast es durch deine Stärke geführt zu deiner heiligen Wohnung . . . Der Herr wird König sein immer und ewig“ (V. 2.3.6.11.13.18).
Der Rahmen dieses Gesangs ist sehr weit gefasst. Er beginnt mit der Erlösung und endet mit der Herrlichkeit. Er beginnt mit dem Kreuz und endet mit dem Königreich, er reicht – neutestamentlich gesprochen – von den „Leiden“ bis zu den „Herrlichkeiten danach“ (1Pet 1,11). Und bei allem ist Gott allein das Thema. Ein solcher Gesang kann nur durch das Anschauen Gottes und seiner herrlichen Taten hervorgerufen werden.
Überdies wird in diesem Gesang die Erfüllung der Ratschlüsse Gottes vorweggenommen, indem wir lesen: „Du hast durch deine Güte geleitet das Volk, das du erlöst hast, hast es durch deine Stärke geführt zu deiner heiligen Wohnung“ (V. 13). Die Kinder Israel konnten so sprechen, obwohl sie eben erst die Wüste betreten hatten. Es war nicht der Ausdruck einer unbestimmten Hoffnung oder eines möglichen Zufalls. Wenn ein Gläubiger mit Gott allein beschäftigt ist, so wird er die Fülle seiner Gnade immer tiefer erkennen und sich immer mehr erfreuen an den Schätzen seiner Barmherzigkeit und Güte. Und in diesem Bewusstsein, mit dem auferstandenen Christus in die himmlischen Örter versetzt zu sein, kann nichts den Gläubigen hindern, die unergründlichen Pläne Gottes zu erforschen und seine Freude zu haben an der Herrlichkeit, die Gott nach seinem ewigen Ratschluss für alle bereitet hat, deren Kleider in dem Blut des Lammes gewaschen sind.
Dies erklärt den unvergleichlichen Charakter aller Lobgesänge, die wir in der Heiligen Schrift finden. Nicht ein Geschöpf, sondern Gott ist das Thema, von dem der Gläubige erfüllt ist. Der Mensch, seine Gefühle oder seine Erfahrungen würden das Lob Gottes nur unterbrechen; sie werden deshalb gar nicht erwähnt. Darum sind diese Gesänge so verschieden von solchen Liedern, die immer wieder Ausdrücke unserer Schwächen und Unzulänglichkeiten enthalten; und gerade solche Lieder sind so oft in christlichen Versammlungen zu hören. Tatsache ist, dass wir nie mit geistlicher Kraft und Einsicht singen können, wenn wir auf uns selbst blicken.
Denn in uns selbst werden wir immer etwas entdecken, das unser Lob und unsere Anbetung hemmt. Manche scheinen es allerdings beinahe als eine Gnade zu betrachten, wenn sie ständig in Zweifel und Ungewissheit sind; an ihren Liedern ist das allerdings auch zu erkennen. Solche Personen haben, so treu und aufrichtig sie es auch meinen, noch nicht verstanden, was Gottesdienst eigentlich ist. Sie sind noch nicht mit sich selbst zum Abschluss gekommen. Sie haben noch nicht das Rote Meer durchschritten und als ein geistlich getauftes Volk in der Kraft der Auferstehung am anderen Ufer ihren Platz eingenommen. Sie sind in der einen oder anderen Weise noch mit sich selbst beschäftigt und betrachten das Ich, mit dem Gott für immer ein Ende gemacht hat, nicht als gekreuzigt.
Möge der Heilige Geist in allen Kindern Gottes bewirken, dass sie ihren Platz und ihre Vorrechte klar verstehen und erkennen, dass sie, gewaschen von ihren Sünden in dem Blut Christi, in derselben unendlichen und vollkommenen Annehmlichkeit vor Gott stehen wie Christus selbst, das auferstandene und verherrlichte Haupt seiner Versammlung! Zweifel und Befürchtungen stehen den Kindern Gottes nicht gut an, denn ihr göttlicher Bürge hat jede nur denkbare Ursache von Zweifel und Furcht beseitigt. Ihr Platz ist innerhalb des Vorhangs. Sie haben Freimütigkeit zum Eintritt in das Heiligtum durch das Blut Jesu (Heb 10,19). Gibt es etwa Zweifel und Befürchtungen im Heiligtum? Ist es nicht deutlich, dass jeder Zweifel die Vollkommenheit des Werkes Christi infrage stellt, eines Werkes, von dem Gott angesichts aller Geschöpfe durch die Auferweckung Christi aus den Toten Zeugnis gegeben hat?
Christus hätte nicht das Grab verlassen können, wenn nicht jeder Grund zum Zweifeln und Fürchten für sein Volk weggeräumt gewesen wäre. Deswegen kann ein Christ sich ständig eines vollkommenen Heils erfreuen. Gott selbst ist sein Heil geworden und seine Aufgabe ist, die Früchte des Werkes, das Gott für ihn gewirkt hat, zu genießen und zu seiner Verherrlichung zu leben, solange er auf die Zeit wartet, da „der Herr König sein wird immer und ewig“ (V. 18).