Behandelter Abschnitt 1. Mose 4,1-2
Kain und Abel
Der Religiöse und der Gläubige
Je mehr man die einzelnen Abschnitte des ersten Buches Mose betrachtet, umso stärker wird der Eindruck, dass hier im Keim die ganze Bibel, ja die Geschichte der Menschheit verborgen liegt.
So zeigt uns das 4. Kapitel in Kain und Abel die ersten Beispiele eines religiösen Weltmenschen und eines wahren Gläubigen. Da sie außerhalb Edens geboren und Söhne des gefallenen Adam waren, konnten sie nichts besitzen, was sie in ihrer Natur voneinander unterschieden hätte. Beide waren Sünder. Beide hatten eine gefallene Natur. Keiner war schuldlos. Wenn der Unterschied zwischen Kain und Abel in ihrer Natur gelegen hätte, so wäre das ein Beweis davon gewesen, dass sie weder die gefallene Natur ihres Vaters in sich trugen noch an seinen Umständen teilhatten, so dass für die Gnade und für den Glauben kein Raum geblieben wäre.
Manche lehren, dass jeder Mensch mit Eigenschaften und Fähigkeiten geboren wird, die ihn bei richtiger Benutzung befähigen, zu Gott zurückzukehren. Damit wird jedoch die uns hier gezeigte Tatsache geleugnet. Kain und Abel waren nicht innerhalb, sondern außerhalb des Paradieses geboren. Sie waren nicht Söhne eines unschuldigen, sondern eines gefallenen Adam. Sie traten in die Welt mit der Natur ihres Vaters, und in welcher Entwicklungsstufe diese Natur sich auch zeigen mochte, sie blieb doch immer die gefallene, verdorbene und unheilbare Natur. „Was aus dem Fleisch geboren ist, ist (nicht nur „fleischlich“, sondern) Fleisch, und was aus dem Geist geboren ist, ist (nicht nur „geistlich“, sondern) Geist“ (Joh 3,6).
Wenn es jemals für die verschiedenen Eigenschaften, Fähigkeiten, und Neigungen der Natur eine schöne Gelegenheit gab, sich zu offenbaren, so war es die Lebenszeit Kains und Abels. Wenn noch irgendetwas in der Natur vorhanden war, wodurch sie ihre verlorene Reinheit wiedererlangen und sich den Rücktritt in das verlorene Paradies erkaufen konnte, dann war jetzt der Augenblick dafür gekommen. Aber es gab nichts Derartiges. Beide Männer waren verloren. Sie waren „Fleisch“. Sie waren nicht rein. Adam verlor seine Reinheit, und er hat sie nie wiedererlangt. Er kann nur als das gefallene Haupt eines gefallenen Geschlechts betrachtet werden, das durch seinen „Ungehorsam in die Stellung von Sündern“ versetzt worden ist (Röm 5,19). Er wurde die verdorbene Quelle, aus der die verdorbenen Ströme einer ruinierten und schuldigen Menschheit ausgeflossen sind, der abgestorbene Stamm, aus dem die Zweige einer sittlich und geistlich toten Menschheit hervorgesprosst sind.
Freilich sehen wir, wie bereits bemerkt, dass er ein Gegenstand der Gnade war, der einen lebendigen Glauben an den verheißenen Erretter besaß, aber das war nichts Natürliches, sondern etwas von Gott Gewirktes. Da es nichts Natürliches war, konnte es auch nicht durch Fähigkeiten der Natur weitergegeben werden. Es war durchaus nicht erblich. Adam konnte seinen Glauben dem Kain oder Abel nicht vermachen. Dass er ihn besaß, war einfach die Frucht göttlicher Liebe. Er war durch göttliche Macht in seine Seele eingepflanzt worden, und Adam besaß keine göttliche Macht, ihn einem anderen zu geben. Alles Natürliche konnte Adam auf natürlichem Weg weitergeben, aber weiter nichts. Und da der Vater in einem Zustand des Verfalls war, so konnten die Söhne sich nur in demselben Zustand befinden. Sie müssen die Natur dessen teilen, aus dem sie hervorgegangen sind „wie der von Staub ist, so sind auch die, die von Staub sind“ (1Kor 15,48).
Adam und Christus - zwei „Stammväter“ der Menschheit
In Römer 5,12-21 finden wir, dass der Apostel das ganze menschliche Geschlecht unter zwei Häuptern zusammengefasst betrachtet. Ich möchte bei dieser Stelle nicht länger stehen bleiben, sondern führe sie nur an in Verbindung mit dem vorliegenden Thema. Auch das 15. Kapitel des 1. Korintherbriefes gibt uns eine ähnliche Unterweisung. In dem ersten Menschen haben wir Sünde, Ungehorsam und Tod, in dem zweiten Menschen Gerechtigkeit, Gehorsam und Leben. Wie wir von dem ersten Menschen eine Natur empfangen, so auch von dem zweiten Menschen. Ohne Zweifel entfaltet jede Natur ihre eigenen besonderen Tätigkeiten. Sie offenbart bei jedem Menschen ihre eigenen besonderen Kräfte. Dennoch hat jeder Mensch teil an der wirklichen, deutlich in Erscheinung tretenden, wenn auch abstrakten, Natur.
So wie wir durch die Geburt eine Natur von dem ersten Menschen empfangen, werden wir auch durch die neue Geburt der Natur des zweiten Menschen teilhaftig. Als Geborene besitzen wir die Natur des ersten, als Wiedergeborene die des letzten Adam. Ein neugeborenes Kind hat teil an Adams Natur, obwohl es völlig unfähig ist, die Handlung auszuführen, die Adam in die Stellung eines verlorenen Wesens brachte. Ebenso ist ein neugeborenes Kind Gottes, eine eben erst bekehrte Seele seiner Natur teilhaftig, obwohl sie mit der Ausübung des vollkommenen Gehorsams „des Menschen Christus Jesus“ nicht das Geringste zu tun gehabt hat.
Tatsächlich ist mit der ersten Natur Sünde, mit der zweiten Gerechtigkeit verbunden, und zwar im ersten Fall die Sünde des Menschen, im zweiten die Gerechtigkeit Gottes. Aber mögen auch die Eigenschaften sein wie sie wollen, das Teilhaben an einer wirklichen Natur ist vorhanden. Das Kind Adams hat teil an der menschlichen Natur und ihren Eigenschaften, und das Kind Gottes besitzt die göttliche Natur und ihre Eigenschaften. Die erste Natur ist „nach dem Willen des Mannes“ (Joh 1,13), die zweite nach dem Willen Gottes, wie Jakobus uns durch den Heiligen Geist belehrt: „Nach seinem eigenen Willen hat er uns durch das Wort der Wahrheit gezeugt“ (Jak 1,18).