Behandelter Abschnitt Röm 11
Genügte dies dem Apostel? Für seine damalige Absicht eigentlich schon. Die vergangene Geschichte Israels skizziert Römer 9, die gegenwärtige steht unmittelbar vor uns in Kapitel 10. Aber jetzt muss durch die Gnade Gottes noch die Zukunft vorgestellt werden. Diese schildert Paulus folglich am Ende von Kapitel 11. Zuerst erhebt er die Frage: „Hat Gott etwa sein Volk verstoßen?“ (V. 1). „Das sei ferne!“ War nicht er selbst, Paulus, ein Beweis vom Gegenteil? Dann weitet er den Gesichtskreis aus und zeigt, dass es selbst in den schlimmsten Zeiten einen Überrest der Gnade gab. Wenn Gott sein Volk völlig verworfen hätte, wo bliebe dann eine solche Barmherzigkeit? Wenn die Gerechtigkeit ihren uneingeschränkten Lauf nähme, gäbe es keinen Überrest. Der Überrest beweist also, dass selbst unter dem Gericht eine Verwerfung Israels nicht vollständig sein kann; er ist vielmehr ein Pfand von dem zukünftigen Heil. Das ist der erste Punkt.
Der zweite Einwand lautet: So wie die Verwerfung Israels nur zum Teil wenn auch sehr umfassend - erfolgt, so dauert sie auch nur eine bestimmte Zeit; sie ist nicht endgültig. Das greift zurück auf einen Grundsatz, den Paulus schon angeführt hat. Gott reizte Israel durch die Berufung der Nichtjuden zur Eifersucht. Wenn Er so handelt, dann kann Er nicht mit ihnen zu Ende sein. So zeigt das erste Argument, dass die Verwerfung nicht vollständig ist; das zweite spricht von ihrer Zeitweiligkeit.
Es gibt noch ein drittes. In der folgenden Belehrung über den Ölbaum führt Paulus dieselben Gedanken von einem Überrest weiter aus, indem er schildert, wie derselbe an seinem eigenen Wurzelstock bleiben wird. Außerdem hebt er das Wiedereinpfropfen der Nation als solcher hervor. Dabei möchte ich beiläufig bemerken, dass die Behauptung der Nichtjuden, dass kein Jude jemals das Evangelium wirklich annehme, eine Unwahrheit ist. In Wirklichkeit ist Israel das einzige Volk, von dem stets ein Teil geglaubt hat. Es gab eine Zeit, als weder ein Engländer, noch ein Franzose oder irgendein Glied einer anderen Nation an den Heiland glaubte. Demgegenüber gibt es nicht eine Stunde, seitdem Israel als Nation besteht, in der Gott nicht seinen Überrest in demselben hat. Das ist die einzigartige Frucht der Verheißung. So ist es auch inmitten ihres ganzen gegenwärtigen Elends. So wie jener kleine Überrest stets durch die Gnade Gottes aufrechterhalten wird, so ist er auch das immerwährende Pfand von Israels abschließender Segnung durch seine Barmherzigkeit.
Im Gedanken daran bricht der Apostel in anbetende Danksagung gegen Gott aus. Der Tag eilt heran, dass der Erretter nach Zion kommen wird. Das eine Testament sagt, dass der Erlöser aus Zion kommen wird, das andere Testament, dass Er nach Zion kommt. In beiden, dem Alten und dem Neuen Testament, finden wir wesensmäßig dasselbe Zeugnis. Der Erlöser sollte dorthin kommen und von dort ausgehen. Er wird jenen einstmals herrlichen Sitz des Königtums in Israel anerkennen. Zion wird bald seinen mächtigen, göttlichen, aber einst verworfenen Befreier sehen; und wenn Er auf diese Weise kommt, wird Er eine zu seiner Herrlichkeit passende Befreiung mitbringen. Ganz Israel wird errettet werden. Gott hat demnach sein Volk nicht verstoßen. Stattdessen gebraucht Er die Zwischenzeit, während sie infolge ihrer Verwerfung Christi aus ihrer eigentlichen Stellung herausgeglitten sind, um in unumschränkter Barmherzigkeit die Nichtjuden zu berufen. Danach wird Israel als Ganzes errettet werden.
„O Tiefe des Reichtums, sowohl der Weisheit als auch der Erkenntnis Gottes! Wie unausforschlich sind seine Gerichte und unausspürbar seine Wege! Denn wer hat des Herrn Sinn erkannt, oder wer ist sein Mitberater gewesen? Oder wer hat ihm zuvorgegeben, und es wird ihm vergolten werden? Denn von ihm und durch ihn und für ihn sind alle Dinge; ihm sei die Herrlichkeit in Ewigkeit!“ (V. 33-36).
Der Rest des Briefs beschäftigt sich mit den praktischen Folgen der großen Lehre von der Gerechtigkeit Gottes, welche, wie bereits gezeigt wurde, von seinen Verheißungen an Israel gestützt werden und ihnen keinesfalls widersprechen. Die ganze Geschichte Israels - in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft - stimmt mit dem überein, was Paulus bisher gelehrt hat, obwohl sie auch große Unterschiede aufweist. - Im Folgenden kann ich mich kurz fassen.