Behandelter Abschnitt Mk 7,17-23
„Und als er von der Volksmenge weg in ein Haus eintrat, befragten ihn seine Jünger über das Gleichnis. Und er spricht zu ihnen: Seid auch ihr so unverständig? Begreift ihr nicht, dass alles, was von außerhalb in den Menschen eingeht, ihn nicht verunreinigen kann? Denn es geht nicht in sein Herz hinein, sondern in den Bauch, und es geht aus in den Abort – indem er so alle Speisen für rein erklärte. Er sagte aber: Was aus dem Menschen ausgeht, das verunreinigt den Menschen. Denn von innen aus dem Herzen der Menschen gehen hervor die schlechten Gedanken: Hurerei, Dieberei, Mord, Ehebruch, Habsucht, Bosheit, List, Ausschweifung, böses Auge, Lästerung, Hochmut, Torheit; alle diese bösen Dinge gehen von innen aus und verunreinigen den Menschen“ (V. 17–23).
Es gibt nichts im Herzen des Menschen, was seinen Verstand so hemmt wie der Einfluss einer religiösen Überlieferung. Und nicht allein das, sondern die Überlieferung verfinstert auch die Gesinnung eines Jüngers, wo immer er arbeitet.
Und eine Folge und unfehlbare Begleiterscheinung von ihr ist der Nachweis – insbesondere für den, der sich dieser demütigenden Wahrheit beugt –, dass es nichts Gutes im Menschen gibt. Ich leugne nicht, dass Gott jedes Gute in das menschliche Herz hineinlegen kann. Denn Er gibt seinen Sohn und in Ihm ewiges Leben. Er wäscht den Gläubigen in dem kostbaren Blut Christi und gibt ihm den Heiligen Geist, damit Er in ihm wohnt. Ich spreche auch nicht von der Frucht der göttlichen Gnade, die im Menschen wirkt. Ich halte jedoch fest, dass das, was aus dem Menschen als solchen kommt, unveränderlich böse ist. Das verstanden die Jünger nur schwer. Dabei war doch jedes Wort, das Christus ausgesprochen hatte, völlig klar.
Warum scheint die göttliche Wahrheit so schwer verständlich zu sein? Das Hindernis liegt kaum in unserem Kopf, sondern vor allem im Herzen und Gewissen. Nicht der glänzende oder kraftvolle Verstand versteht das Wort Gottes am besten, sondern der Mensch, dessen Herzensentschluss es ist, dem Herrn zu dienen. Wo immer es das Verlangen eines aufrichtigen Herzens ist, seinen Willen zu tun, „so wird er von der Lehre wissen, ob sie aus Gott ist“ (Joh 7,17). „Wenn dein Auge einfältig ist, so ist auch dein ganzer Leib licht“ (Lk 11,34). Es heißt nicht: „Wenn dein Auge scharf oder weitsichtig ist“, sondern: „Wenn dein Auge einfältig ist“. Was für ein Trost für eine schlichte Seele, die weiß, wie schwach sie ist! Dabei mag sie noch so unwissend und töricht erscheinen. Ein solcher Mensch kann nichtsdestoweniger ein einfältiges Auge haben und folglich in geistlicher Hinsicht weiter sehen als der glänzendste Verstand eines Menschen, dessen Herz dem Herrn nicht rückhaltlos zur Verfügung steht. Was hinderte in diesem Fall die Einfalt des Auges? Warum waren die Jünger so wenig scharfsinnig? Weil ihnen ein solch schreckliches Urteil über den Menschen nicht gefiel! Sie waren es gewohnt, die üblichen Unterschiede zu machen.
Die Pharisäer und Schriftgelehrten, die großen Männer aus Jerusalem, hatten immer noch einen gewissen Wert in ihren Augen. Genauso findet man es auch heute, dass das gewöhnliche Volk die hochtönenden Titel der religiösen Welt ehrfurchtsvoll bewundert. Wie wenig hat sich die Mehrheit der Kinder Gottes von der Verblendung frei gemacht, dass diese Titel etwas enthalten, was wahres
Verständnis in ihren Trägern voraussetzt oder für dieses bürgt. Es war niemals so, und heute noch viel weniger als früher. Kann man auf eine Zeit, seitdem das Christentum begann, verweisen, in der man die Gesinnung Gottes an den Plätzen höchster geistlicher Ansprüche so vollständig aufgegeben hat wie heute? Es gab Zeiten, in der die Welt feindlicher und die Art des Hasses, soweit es sich um Verfolgungen handelt, schrecklicher gewesen ist. Doch niemals gab es eine Stunde, in der die Christenheit, ja, die protestantische Christenheit, so voller Moraste der Gleichgültigkeit gegen die Autorität Gottes war und sogar hier und dort ein Banner der Rebellion gegen die Wahrheit Christi aufgerichtet hat. Das mag sich zweifellos hart anhören. Meine Darlegung stützt sich jedoch auf Gottes Wort. Außerdem habe ich, so weit möglich, das Christentum in seinen verschiedenen Entwicklungsstadien intensiver studiert als mancher andere.
Ich scheue mich also nicht, noch einmal meine Überzeugung auszudrücken, dass sich das böse menschliche Herz des Unglaubens niemals so enthüllt hat in Gestalt von Gleichgültigkeit auf der einen Seite und Feindschaft gegen die Wahrheit auf der anderen, wie es sich gegenwärtig zeigt. Sogar damals, als die Christenheit von ihrer Hingabe faselte und bis oben hin mit religiösen Fabeln angefüllt und gänzlich einer gerissenen und unwissenden Priesterschaft unterworfen war, wurde das Wort Gottes weniger missachtet – weil es weniger bekannt war – als heute. Die „Kerkerwände“ des Aberglaubens sind teilweise zerbrochen und das Licht des Zeugnisses Gottes ist ausreichend sichtbar geworden, um die Bosheit des Menschen herauszufordern.
Das Volk ist in unseren Tagen voller Energie, aber ihre Energie richtet sich gegen das Evangelium. Gott sei Dank, ist es nicht bei allen so! Aber ein besonderes Kennzeichen der gegenwärtigen Zeit liegt darin, dass man einen aktiven Angriff gegen die Bibel macht. Man sieht eine organisierte Rebellion gegen das Wort Gottes von Professoren auf den hohen Lehrstühlen der menschlichen Gelehrsamkeit. Es sind keine dreisten Einzelpersonen, die hier oder dort die Schrift angreifen. Die eingesetzten Lehrer und Häupter der Geistlichkeit (Klerus) haben sich zusammengeschlossen, um diesen Angriff mit relativer Straflosigkeit ausführen zu können, als seien sie dazu bestimmt, das ganze Gewicht ihres persönlichen und amtlichen Einflusses auf diese Aufgabe zu konzentrieren.6
Das hat auch uns etwas zu sagen. Wenn wir die Zeiten verstehen, sollten wir dafür Sorge tragen, dass wir fest, gewissenhaft und kompromisslos, wenn auch demütig, auf der Grundlage der göttlichen Wahrheit stehen bleiben und uns um nichts anderes kümmern. Man mag uns hart nennen. Das ist immer das Teil der Treue. Doch der Name des Herrn ist unsere Burg der Kraft, für die letzten Tage genauso wie am Anfang. So warnt auch Paulus den Timotheus in seinem letzten Brief (Kap. 3), als er auf die Gefahren jener Tage blickte, die heute noch auffälliger zutreffen als damals. Und was war damals das Hilfsmittel? Nicht die Überlieferung, sondern das geschriebene Wort Gottes. „Alle Schrift ist von Gott eingegeben und nützlich . . . “ (2Tim 3,16). Es werden keine Lehrer, es werden keine gottesfürchtigen Menschen, so wertvoll sie auch sein mögen, zum Maßstab erhoben. Nichts als die Schrift kann ein dauerhafter Standard für die Wahrheit sein.
Die Dinge, die verunreinigen, kommen also aus dem Menschen hervor. Das gilt grundsätzlich, sowie für alle Taten des Bösen. Sie kommen ausnahmslos aus dem Inneren, aus dem verderbten Willen des Menschen. So ist zum Beispiel klar, dass es sich nicht um Mord handelt, wenn das Gesetz das höchste
Urteil über ein Verbrechen ausspricht, sondern im Gegenteil die Verteidigung der Autorität Gottes auf der Erde. Es geht nicht um böse Empfindungen gegen den Übeltäter; und darum wird man nicht verunreinigt. Aber wenn man einem Menschen einfach in Taten, Worten oder Gedanken Unrecht tut, dann verunreinigt man sich. In dem Augenblick, wenn etwas aus deinem Eigenwillen ohne Gott hervorkommt und du dich diesem hingibst, befleckst du dich mit Unreinigkeit.
6 Was würde Kelly erst geschrieben haben, wenn er den heutigen Zustand der protestantischen Kirchen gekannt hätte? (Übs.).↩︎