Behandelter Abschnitt Mt 15
In Kapitel 15 haben wir ein anderes Bild, und zwar in zweifacher Hinsicht. Die stolze, traditionsreiche Heuchelei Jerusalems wird herausgestellt und die geprüfte Heidin durch die Gnade gesegnet. Diese Ereignisse finden ihren passenden Platz nicht im Lukas-, sondern im Matthäusevangelium, zumal die Einzelheiten hier, anders als bei Markus, der diesmal ganz allgemein bleibt, großes Licht auf die Wege Gottes hinsichtlich der Haushaltungen wirft.
Zunächst haben wir also die falschen Gedanken der „Pharisäer und Schriftgelehrten von Jerusalem“ (V. 1), die vom Herrn gerichtet wurden. Das gab Ihm die Gelegenheit, vorzustellen, was wirklich verunreinigt. Es sind nicht die Dinge, die in den Menschen hineingelangen, sondern die aus dem Mund hervorkommen und ihren Ursprung im Herzen haben. Das Essen mit ungewaschenen Händen verunreinigt einen Menschen nicht. Diese Worte sind der Todesstreich für menschliche Tradition und Brauchtum in göttlichen Dingen. Er beruht in der Tat auf der Wahrheit von dem absoluten Verderben des Menschen - einer Wahrheit, die auch die Jünger, wie wir sehen, nur langsam erkennen konnten.
Auf der anderen Seite des Bildes sehen wir den Herrn, wie Er eine Seele dazu führte, sich in der herrlichsten Weise auf die göttliche Gnade zu stützen. Die kanaanäische Frau aus den Gegenden von Tyrus und Sidon kam zu Ihm. Sie war eine Heidin, deren Volk und Abstammung an sich schon unheilvoll und deren Lage zudem verzweifelt war; denn sie wandte sich an den Herrn wegen ihrer Tochter, die schlimm von einem Dämon besessen war. Was können wir von ihrem Verständnis sagen? War sie nicht in ihren Gedanken völlig verwirrt? Hätte der Herr ihre Worte genau beachtet, dann wäre es ihr Tod gewesen. „Erbarme dich meiner, Herr, Sohn Davids!“ (V. 22), schrie sie.
Doch was hatte sie mit dem Sohn Davids zu tun? Und was hatte der Sohn Davids mit einer kanaanäischen Frau zu tun? Wenn Er als Sohn Davids regieren wird, dann gibt es keinen Kanaaniter mehr im Haus Jahwes der Heerscharen (Sach 14,21). Das Gericht wird sie vorher ausgerottet haben. Aber der Herr konnte sie nicht ohne eine Segnung wegschicken - eine Segnung, die seiner Herrlichkeit entsprach. Anstatt ihr sofort eine Antwort zu geben, führte Er sie Schritt für Schritt weiter; denn so weit konnte Er sich herablassen. So groß war seine Gnade, so groß seine Weisheit. Zuletzt begegnete diese Frau dem Herzen und Gefühl Jesu im Bewusstsein ihrer völligen Nichtswürdigkeit vor Gott. Jetzt konnte die aufgestaute Gnade, welche die Frau bis hierhin geführt hatte, wie ein Strom fließen; und der Herr konnte ihren Glauben bewundern, obwohl er als freie Gabe Gottes von Ihm selbst kam.
Am Ende des Kapitels finden wir ein weiteres Wunder, in dem Christus eine große Volksmenge speist. Hier ist es, genau genommen, kein bildhafter Ausblick auf das, was der Herr tat oder tun wollte. Ich nehme an, es ist ein erneutes Pfand von der Wahrheit, dass Er in keiner Weise sein altes Volk vergessen würde, auch wenn Er die Ältesten von Jerusalem richten musste und die Gnade frei zu den Heiden hinausging. Was für eine besondere Barmherzigkeit und Zartheit erkennen wir nicht nur im Endergebnis der Beschäftigung des Herrn mit Israel, sondern auch schon in der Art seines Handelns mit ihm!