Behandelter Abschnitt Heb 11,39-40
Bei den beiden Schlußversen unseres Kapitels müssen wir noch einen Augenblick verweilen. Sie sind sehr wichtig, kostbar und inhaltsreich. Jene Alten erlangten ein gutes Zeugnis, aber mit dem guten Zeugnis erlangten sie nicht die Verheißung. Das erinnert mich an den Propheten Maleachi. Dort heißt es in Kapitel 3,16.17: „Ein Gedenkbuch ward vor ihm geschrieben für die, welche Jehova fürchten und welche seinen Namen achten. Und sie werden mir, spricht Jehova der Heerscharen, zum Eigentum sein an dem Tage, den ich machen werde”. Jener Tag war noch nicht erschienen, sie waren noch nicht Seine „funkelnden Kronensteine”; aber ihre Namen sind alle in Seinem Buch aufgezeichnet, und Er wird sie bald verherrlichen und als kostbare Steine, als „ein königliches Diadem”, vor aller Augen darstellen. Gerade so ist es mit diesen Alten, den Glaubenshelden. Weshalb haben sie die Verheißung noch nicht erlangt? Weil wir zuvor eingehen mußten, und zwar in den reichen Vorkehrungen, die der gegenwärtige Zeitabschnitt des Evangeliums in sich schließt; denn alles, was sie in jenem armseligen Zeitalter als Schatten zukünftiger Dinge besaßen, hätte nie für sie genügt. (Gott hat uns für etwas Besseres vorgesehen, die himmlischen Dinge, die die alttestamentlichen Heiligen wohl aus der Ferne begrüßten, aber nie besaßen. Wir besitzen jetzt dieses „Bessere” durch unsere Vereinigung mit Christus droben und durch den Zugang in die Gegenwart Gottes, der uns auf Grund des vollbrachten Werkes Christi geöffnet ist. Wie gesegnet auch der Pfad eines Abraham, des Freundes Gottes, gewesen sein mag, so war Abraham doch niemals mit dem Himmel verbunden vermittelst des verherrlichten Menschen, der jetzt dort sitzt. Es war unmöglich, weil Christus zu der Zeit Sich nicht in dieser Eigenschaft im Himmel befand. Auch hatte Abraham keinen Zutritt in das Allerheiligste durch einen zerrissenen Vorhang. Obgleich also die alttestamentlichen Heiligen Anteil an der himmlischen Berufung haben, besaßen sie doch nicht das, was uns zuteil geworden ist. Sie werden mit uns vollkommen gemacht werden in der Auferstehung. Aber auch dann werden wir, als der Leib und die Braut Christi, ein besseres und höheres Teil haben als sie. Jetzt ist es unser hohes Vorrecht, Genossen des Christus in Seiner Verwerfung zu sein, zu Ihm hinauszugehen außerhalb des Lagers, Seine Schmach tragend, mit Ihm zu leiden, damit wir auch mit Ihm verherrlicht werden. — Das also ist es, was der Apostel als „etwas Besseres” bezeichnet; doch behandelt unser Kapitel dieses Thema nicht weiter.)
Das Wort „besser” begegnet uns immer wieder in diesem Brief: „Eine bessere Hoffnung” - „ein besserer Bund” — „bessere Verheißungen” - „bessere Schlachtopfer” „Gott hat für uns etwas Besseres vorgesehen” - „das Blut der Besprengung, das besser redet als Abel”. Auch wird das Wort „vollkommen” beständig gebraucht, eben weil jetzt alles vollkommen gemacht worden ist. Alles ist vollendet, was für die Ruhe Gottes nötig war, wie wir dies bereits gesehen haben; alle Forderungen Gottes sind erfüllt. Die Befriedigung, die Gott in Christus und Seinem Werk gefunden hat, ist vollkommen. Allen Anforderungen Seiner Gerechtigkeit ist Genüge geschehen; da wo der Mensch Ihn verunehrt hatte, ist Er vollkommen verherrlicht worden; alle Seine Eigenschaften sind zur Entfaltung gelangt - und zwar alles das in Christus. Auf diesem Weg ist das „Bessere” gekommen. Die Einführung Christi hat alles verändert. In Verbindung mit Ihm gelangen auch die Gläubigen des Alten Testaments, die die Verheißung nicht empfangen haben, zur Vollkommenheit.
Von einem Gesichtspunkt aus betrachtet, könnten wir unseren Brief eine Abhandlung über Vollkommenheit nennen. In Kapitel 2 lesen wir, daß es der Herrlichkeit Gottes geziemte, uns einen vollkommenen Heiland zu geben; nicht nur die Befriedigung meiner Bedürfnisse, sondern Gottes Herrlichkeit erforderte es, daß mein Heiland durch Leiden zur Vollkommenheit geführt wurde. „Es geziemte Ihm”, hören wir; Gottes Herrlichkeit verlangte es. Der Sünder sollte einen Anfänger haben zum Beginn des Errettungswerkes, und einen Vollender zum Abschluß des Werkes. Den Unterschied zwischen einem Anfänger (Urheber) und einem Vollender sehen wir in den beiden Männern Mose und Josua dargestellt. Mose war ein Anfänger (Urheber) des Heils, als er sich der armen, geknechteten Israeliten in Ägypten annahm. Josua war der Vollender des Heils oder der Errettung, indem er sie über den Jordan führte, geradewegs in das gelobte Land hinein. Christus nun führt uns sowohl durch das Rote Meer wie auch durch den Jordan. Er hat sowohl das grundlegende Werk Moses, als auch das vollendende Werk Josuas getan.
In Kapitel 5 hieß es: „und vollendet worden, ist er allen, die Ihm gehorchen, der Urheber ewigen Heils geworden”. Hier handelt es sich selbstverständlich nicht um die moralische Vollkommenheit Christi als Mensch hienieden, - wir alle wissen, daß Er vollkommen rein und fleckenlos war, - sondern um Sein Vollendetsein als „der Urheber des Heils”. Er wäre in dieser Weise nie vollendet worden, wenn Er nicht in den Tod gegangen wäre. Doch wie es Gott geziemte, uns einen vollkommenen Heiland zu geben, so geziemte es Christus, ein vollkommener Heiland zu werden. Ferner heißt es in Kapitel 6: „Laßt uns fortfahren zum vollen Wüchse” (oder: zur Vollkommenheit), das heißt: Laßt uns genau acht haben auf die Belehrungen des Geistes Gottes über dieses Thema. Einige fassen diese Stelle so auf, als ob wir fortfahren sollten, bis keine Sünde mehr in uns wäre. Das aber ist nicht gemeint. Nein, es ist, als ob der Apostel sagen wollte: „Hört gut zu! Ich möchte euch eine Belehrung über die Vollkommenheit geben; seid nun bereit, diese Belehrung von mir anzunehmen!” Dann setzt er dieses Thema in Kapitel 7 fort. Er sagt uns, daß wir diese Vollkommenheit nicht im Gesetz finden können. „Das Gesetz hat nichts zur Vollendung gebracht.” Wir müssen dieselbe also anderswo suchen. Mit dem Ausdruck „Gesetz” sind hier nicht die zehn Gebote, sondern die ganzen levitischen Verordnungen gemeint. Inmitten dieser armseligen Elemente ist also keine Vollkommenheit zu finden. Wohin sollten wir denn unseren Blick richten? Kapitel 9 zeigt uns, daß die Vollkommenheit in Christus ist und sagt uns zugleich, daß in dem Augenblick, wo der Glaube mit dem Blut in Berührung tritt, das Gewissen gereinigt wird; und Kapitel 10 belehrt uns, daß in dem Augenblick, wo Christus mich anrührt, ich auf immerdar vollkommen gemacht werde. Nicht als ob mein Fleisch fleckenlos würde; ach nein, davon ist keine Rede. Aber so wie Christus allem, womit Er in Berührung kommt: Aposteltum, Priestertum, Altar, Thron u.s.w., Vollkommenheit verleiht, so macht Er auch den armen Sünder hinsichtlich seines Gewissens und seiner Stellung vor Gott vollkommen.
Dieser Brief bildet also, von einem Gesichtspunkt aus betrachtet, eine Abhandlung über Vollkommenheit. Wir haben einen vollkommenen Heiland; und wir sollen fortfahren zum vollen Wuchs, zur Vollkommenheit. Suchen wir sie im Gesetz, so befinden wir uns in einer Welt von Schatten und Vorbildern. Kommen wir aber zu Christus, so befinden wir uns mitten unter lauter Vollkommenheiten. Ein Dichter sagt: „Hier stehe ich, ich armer Wurm”.
Die alttestamentlichen Gläubigen konnten also das Erbteil nicht erlangen, bis wir eingegangen waren, überhäuft, sozusagen, mit all den Herrlichkeiten der gegenwärtigen Zeitverwaltung. Jetzt aber können sie das Erbteil mit uns teilen, wenn die Zeit dazu gekommen sein wird. Noch einmal: Welche Herrlichkeiten strahlen uns aus diesem Brief entgegen! Welche Herrlichkeiten erfüllen den Himmel, weil Christus droben ist! Mit welchen Herrlichkeiten sind wir in Verbindung gebracht, weil Christus uns angerührt hat! Ein gereinigtes Gewissen zu haben, in das Heiligtum mit Freimütigkeit eintreten zu können, zu Satan sagen zu können: „Wer bist du, daß du Gottes Kleinod antasten dürftest?” - sind das nicht lauter Herrlichkeiten? Ach, wie oft kriechen wir im Staub dieser Erde herum, anstatt uns in diese Herrlichkeiten emporzuschwingen und so unsere Herzen zu ermuntern!