Behandelter Abschnitt Lk 14,1 - 16,31
In diesen Kapiteln kommen die dem Evangelium nach Lukas eigentümlichen Wege des Herrn besonders deutlich zum Ausdruck. Er wendet sich als der Lehrer und der allen zugängliche Sohn des Menschen an die Ihm begegnenden Menschen, und zwar in der Kraft, die die Gewissen überführt, und auch in Gnade, die die Herzen mit Ihm verbindet. Der Inhalt dieser Kapitel ist ganz besonders typisch für dieses Evangelium. Hier werden uns einige Gleichnisse berichtet, die wir bei keinem der anderen Evangelisten finden. Überhaupt enthält das Lukas-Evangelium mehr Gleichnisse als irgendeines der anderen, was die besondere Stellung des Herrn und Seinen Dienst als Sohn des Menschen in diesem Buch unterstreicht.
Wenn wir die Berichte der Evangelien über die Wege unseres Herrn Jesus Christus in dieser Welt an uns vorüberziehen lassen - welch eine Person wird davon Schritt für Schritt vor unseren Blicken enthüllt, und in welcher Schlichtheit werden uns große Wahrheiten mitgeteilt! Auf jedem Blatt der Evangelien sind wir immer wieder betroffen von der Offenheit, Einfachheit und Natürlichkeit der Erzählungen, wie wir es ähnlich in keinem anderen Buch der Welt finden. Und was ihren großen Gegenstand, den Herrn Jesus, betrifft, wie könnte man die Tatsache erklären, dass ein paar einfache Fischer solche erhabene und übereinstimmende Vorstellung von einem so vollkommenen Charakter gehabt haben, es sei denn durch die Inspiration? Kein Schreiber, selbst nicht in dem erleuchtetsten Land oder Zeitalter, kann sich mit ihnen messen. Das ganze Evangelium trägt einen so deutlichen, eindrucksvollen und unnachahmlichen Stempel der Wahrheit, dass sein Verfasser fast so wunderbar zu sein scheint wie sein Gegenstand. Mit dem Verstand ist das nicht zu begreifen, sondern allein durch den Glauben; denn die Existenz der Bibel ist nicht zu erklären, wenn man nicht Gott hineinbringt.
Es gibt keinen Augenblick und kein Ereignis in der Geschichte unseres Herrn, bei dem wir nicht stehen bleiben möchten, um darüber nachzusinnen. Wir erwähnen das gerade hier, weil wir zu einem Abschnitt unseres Evangeliums kommen, der unseren teuren Herrn im Umgang mit Menschen ganz unterschiedlichen Charakters zeigt. Indem der Evangelist Ihn durch die buntgewürfelten Szenen dieser Kapitel begleitet, können wir mit Leichtigkeit die Natürlichkeit der Erzählungen und die Vollkommenheit ihres großen Gegenstandes beobachten.
Die erste Szene des 14. Kapitels spielt sich im Haus eines Pharisäers ab, in das der Herr Seiner Gewohnheit nach eintrat, weil Er zum Essen eingeladen war. Die Großen der Gesellschaft, wie wir sie nennen können, lauern schon auf Ihn, kaum dass Er das Haus betritt, um Ihm ein Netz vor die Füße zu legen. Er begegnet ihren Gedanken kurz und bündig damit, dass Er sie zu ihren eigenen Richtern und Zeugen macht.
Nachdem sich der Herr auf diese Weise sozusagen aus der Ihm gelegten Schlinge befreit hat und sich im Haus umschauen kann, sieht Er als Erstes die Gäste ihre Plätze an der Tafel einnehmen. Sie wählten die ersten Plätze, was dem Herrn missfiel, und sie offenbarten damit die alte Gesinnung Adams, nicht die Gesinnung des Herrn. Adams Wunsch war es, etwas zu sein, ein Wunsch, der von jeher das menschliche Herz erfüllt. Der Herr Jesus stand während Seines ganzen Lebens bis zum Tod am Kreuz in völligem Widerspruch zu einer solchen Gesinnung. Musste Er daher nicht betrübt sein? Adam war nichts, ein Geschöpf von Staub, wollte aber alles sein. Der Herr Jesus war alles und gab alles auf, Er wurde Mensch. In dieser Gestalt erniedrigte Er sich auf jede Weise und verhüllte Seine Herrlichkeit unter einem Schleier; in allem nahm Er den niedrigsten Platz ein. Aber hier, im Haus des Pharisäers, befand Er sich unter Menschen, die den ersten Platz wählten. Solche Gäste waren nicht nach Seinem Sinn.
Dann wendet Er sich dem Gastgeber zu, der Ihn zu Tisch geladen hat, aber auch bei ihm entdeckt Er keinen anderen Charakter als Selbstsucht, wenn auch in anderer Form. Die Tafel des Wirtes entsprach in keiner Weise dem Tisch, den der Herr den Menschen auf dieser Erde bereitete. Er speiste Volksmengen, die nichts hatten, um Ihm vergelten zu können. Jetzt betrübte Ihn die Selbstsucht des „alten Menschen“, wie vorher sein Hochmut. Der Gastgeber entsprach noch weniger den Gedanken des vollkommenen Zeugen von der Gesinnung Gottes als die Gäste.
Nachdem die Gäste nun alle sitzen und das Mahl seinen Anfang genommen hat, bringt die Unterhaltung bei Tisch dem Herrn neuen Schmerz. Es mag eine huldvolle Geste gewesen sein, die einen aus der Gesellschaft zu dem Ausruf veranlasste: „Glückselig, wer Brot essen wird im Reich Gottes!“ Ohne Zweifel war das Herz dieses Menschen vom Herrn angezogen worden, aber eine bloße Gefühlsregung konnte den Herrn nicht befriedigen. Daher rief dieser Ausspruch in Ihm neue, ebenso betrübende Gedanken hervor über das Schauspiel, das sich Seinem Auge bot. Er sah einen reich gedeckten Tisch und Gäste in großer Zahl, so viele, wie eingeladen waren, und in Seinem Geist schien der Gedanke aufzusteigen: Wenn Gott dieses Mahl bereitet hätte, würde Er Seine Gäste nicht so leicht zusammenbekommen haben. Diese Überlegungen veranlassten den Herrn, das Gleichnis von dem großen Abendmahl zu erzählen.
Es war ein schmerzlicher Gedanke für Ihn - und er ist es auch für alle, die des Herrn Sinn haben -, dass, sobald der Mensch ein Fest veranstaltet, alle eingeladenen Gäste kommen, dass aber, wenn der lebendige Gott ein Mahl bereitet, nicht einer der Geladenen es schmecken wird. Welch ein Trost ist es jedoch zu wissen, dass „der feste Grund Gottes steht“ und der Unglaube des Menschen die Ratschlüsse Gottes niemals aufheben kann! Die Menschen ziehen ein Gericht aus ihrem eigenen Topf vor. Ein Stück Ackerland, ein Joch Ochsen oder eine Frau töten die Regungen der Besten unter uns, und der Herr des Lebens und der Herrlichkeit würde für Sein kostbares Mahl nicht einen Gast finden, wenn nicht Er selbst sie nötigen und herzubringen würde. Bloße Bitten reichen nicht aus, wie wir hier sehen. Der, welcher die Kosten des Mahls zu tragen hat, muss sich auch noch der Mühe unterziehen, die Gäste zu suchen und einzusammeln. Seine Ochsen und Sein Mastvieh füllen den Tisch, und Seine Knechte müssen auf die Straßen und Gassen, an die Zäune und Hecken gehen, um einige wenige zu suchen und zu finden, die davon zu essen bereit sind! Ist ein Gastgeber jemals so behandelt und ein Festmahl so verachtet worden?
Sicher kam der Herr in diese Welt, um für nichts Seine Kraft zu verzehren, wie der Prophet es ausdrückt. Konnte Er in einer Welt, deren ganzer Zustand von dem Hochmut des Lebens und der Lust der Augen gekennzeichnet war, etwas anderes sein als ein „Mann der Schmerzen“? Um „mit Leiden vertraut“ zu werden, brauchte Er nicht bis zu jener dunkelsten Stunde am Kreuz zu warten.
Dieses Gleichnis zeigt uns, dass Ihm selbst die verheißungsvollsten Augenblicke und die Stunden menschlicher Freundlichkeit in Seinem Fremdlingsleben nur Leiden und Schmerzen einbrachten.13
Wir wollen unserem teuren Herrn jedoch noch weiter auf Seinem Weg folgen. Sahen wir Ihn bisher bekümmert und leidend beim Eintritt in das Haus und während Seines Weilens dort, so wollen wir Ihn jetzt noch beim Verlassen begleiten.
Große Volksmengen folgten dem Herrn, aber das bedeutete nichts, weil es alltäglich geschah. Tausende begleiteten Ihn ständig, drückten und drängten Ihn auf den Straßen und Plätzen, aber das erreichte nicht das Herz Christi (siehe Kap. 8,45), weil es, wie auch bei dieser Menge, nicht der Ausdruck eines Bedürfnisses ihres Herzens nach einem Heiland war. Sie sahen in Ihm mehr einen Lehrer oder ein Vorbild, doch das genügte nicht. Daher wandte Er sich mit ernsten, warnenden Worten an sie. Er konnte in ihrer Mitte nicht mit jener Befriedigung weilen, die allein ein aufrichtiges Verlangen hätte hervorrufen können, aber sie waren nicht in diesem Ihm angemessenen Herzenszustand zu Ihm gekommen. Nikodemus verehrte den Herrn als Rabbi und Lehrer, das Volk am See von Galiläa als König und diese Volksmenge hier als Muster und Vorbild, aber in einer solchen Gesellschaft war Er nicht zu Hause, dort konnte Er sich nicht wahrhaft wohlfühlen. Vielleicht war Seine Seele hier nicht in dem gleichen Maß beschwert wie in dem Haus, das Er gerade verlassen hatte, aber auch hier fand Er weder Ruhe noch Freude.
Wenn wir über dieses alles ein wenig nachdenken, können wir Gott nicht genug danken. Ihn befriedigt es nicht, wenn wir Ihm etwas geben, in welcher Form es auch sein mag, denn Er will, dass wir von Ihm nehmen. Der Pharisäer machte dem Herrn in seinem Haus ein Mahl, und die Volksmenge außerhalb des Hauses zollte Ihm Achtung und Bewunderung, doch in dem einen Fall war Er beschwert und im anderen unbefriedigt.
So ging Er Seinen Weg weiter durch alles dieses hindurch, bis „Zöllner und Sünder“ Ihm nahten, um Ihn zu hören. Sie hatten nichts, was sie Ihm hätten geben können, sondern sie kamen, um von Ihm etwas zu empfangen (Kap. 15,1). Da frohlockte Er im Geist, denn Er genoss die ersehnten Früchte Seines Weges und war befriedigt.
Kann irgendetwas köstlicher für uns sein? Diese armen Zöllner, diese Verachteten, hatten im Haus des Pharisäers keinen Platz, sie wagten auch nicht, dem Herrn in der Volksmenge zu folgen. Sie waren dessen unwürdig, und sie wussten es auch. Aber sie konnten von hinten den Saum Seines Kleides anrühren oder ihre Krüge zu der Quelle bringen und sich dort in ihrer Armut und Beschämung niedersetzen. Das taten sie, und so waren sie Ihm willkommen. Der Herr war glücklicher, dass Er ihnen etwas geben konnte, als sie es waren, die von Ihm empfingen. Er hatte im Geist einen weiten Weg zurückgelegt: zum Haus des Pharisäers, durch das ganze Haus hindurch und von dort den langen Weg mit der Ihn bewundernden Volksmenge. Es war für Ihn ein ermüdender Weg, auf dem Er keine Ruhe fand, bis nun die Sünder kamen, die Ihn brauchten und etwas von Ihm empfangen wollten.
Darum ist in dem ganzen fünfzehnten Kapitel von Freude die Rede. Das wiedergefundene verirrte Schaf, die wiedergefundene Drachme und der heimgekehrte verlorene Sohn erzählen in Bildern von der Freude des Heilandes in der Mitte der Zöllner und Sünder. Das ist über die Maßen wunderbar. Für den Herrn Jesus war es das Haus Gottes, die Pforte des Himmels.
Die Pharisäer hatten den Herrn beschuldigt, dass Er die Gerechtigkeit aufgäbe und dem Bösen freien Lauf ließe, indem Er Sünder aufnahm. Der Herr hätte diese Vorwürfe mit mancherlei Begründungen entkräften und Seine Gnade den Sündern gegenüber mit der vorliegenden Not oder auch mit der Verherrlichung Gottes rechtfertigen können. Aber in diesem ganzen Kapitel, in jedem der lieblichen Gleichnisse, verteidigt Er Sein Handeln in Gnade einfach mit der Freude, die Er und der Vater, ja, der ganze Himmel, darin fanden.
Wie kostbar ist das! Wenn der Herr nach dem Grund Seiner Heilswege mit dir und mir gefragt würde, wäre Seine Antwort, dass sie Ihm und allen Bewohnern des Himmels Freude machten. Welche Sicherheit und welchen Trost verleiht uns dieses Bewusstsein! Könntest du dir vorstellen, dass die Nachbarn des Hirten über seine Freude, das verlorene Schaf wiedergefunden zu haben, gemurrt hätten? Oder dass die Freundinnen der Frau, die die Drachme wieder aufgekehrt hatte, ihr das Glück geneidet hätten? So ist es bei Gott. Seine eigene Freude am Heil verlorener Sünder ist die Rechtfertigung des Herrn. Darf der Mensch daher murren oder zweifeln? Kann der Herr Jesus nicht sich selbst die gleiche Freude bereiten, wie sie der Schafhirte hatte? Niemand vermag uns diesen Trost und diese Sicherheit zu rauben. Es ist in der Tat ein erquickender Gedanke, dass das Evangelium unseres Friedens eine Quelle der Freude ist für Gott, der alles geplant und vollbracht hat, und dass unsere Errettung zu Seiner eigenen Glückseligkeit beiträgt. Diese Gleichnisse bezeugen es uns.
So ist dieses Kapitel nicht nur für uns, sondern auch für den Herrn Jesus selbst eine Tür des Himmels. Sein Weg führte Ihn, wie wir sahen, über Pharisäer zu den Gästen, dem Gastgeber und einer Schar von Begleitern, und nun saß Er inmitten von Sündern, die zu Ihm gekommen waren, um von Ihm zu empfangen, was sie nötig hatten. Ein so ausgedehnter Ort ist in einem Sinn der Himmel: die Wohnung erretteter Sünder und eines sich freuenden Heilands.
Wenn wir nun mit dem Herrn weitergehen, sehen wir, dass Er noch andere hat, mit denen Er sich unterhalten muss, und Er tut es. Nach diesen vielseitigen Begegnungen beschäftigt Er sich zu Beginn des 16. Kapitels auch mit Seinen Jüngern. Er redet zu ihnen ein Gleichnis, das ihren Fleiß anspornen und ihre Hoffnungen stärken soll. Ihre Erwartungen sollten nach oben gerichtet sein und ihre Kräfte in sicheren und ewigen Gewinnen angelegt werden. Da sie Jünger waren, also bereits zurückgekehrte verlorene Söhne, war es jetzt ihre Aufgabe, die Hoffnungen hochzuachten, welche die Gnade ihnen vorstellte, und sich Freunde zu machen mit jeder ihrer Fähigkeiten und bei allen Gelegenheiten in dem Bewusstsein, dass ihre Mühe „nicht vergeblich ist im Herrn“.
Das Gleichnis vom ungerechten Verwalter war für die Jünger „ein Wort zu seiner Zeit“. Der Herr redete Worte, die „siebenmal gereinigt“ waren, und Er teilte sie recht unter alle, wie wir noch sehen werden. Die Pharisäer, die diese Szenen eröffnet hatten, beendeten sie auch. Diese Menschen verachteten die himmlischen Grundsätze, die der Herr Seinen Jüngern soeben vorgestellt hatte, denn sie waren habsüchtig. Sie verkörperten alles, was die Welt hochschätzte; diese Achtung suchten sie, und ihr dienten sie. Daher konnten sie auch die himmlischen Grundsätze des Sohnes Gottes nur verspotten.
Der Herr stellt ihren moralischen Zustand bloß, und in dem nun folgenden Gleichnis zeigt Er das verhängnisvolle Ende eines solchen Zustandes. Er überführt sie der Treulosigkeit gerade dem Gesetz gegenüber, auf das sie so stolz waren, und auch der Ablehnung des Wortes vom Reich, das der Gott des Gesetzes gegeben hatte, damit sie es annehmen sollten. Ihr ganzer moralischer Zustand wurde in zwei Sätzen aufgedeckt, aber das machte auf sie keinen Eindruck, weil sie in der Welt ihr Genüge fanden. Ihre Grundsätze ernährten sie prunkvoll und kleideten sie „in Purpur und feine Leinwand“. Damit waren sie zufrieden, obwohl das Gericht Gottes darauf lag.
Das war das abschließende, ernste Wort des Herrn an die Pharisäer, die Religiösen jener Tage. Er hatte sich mit Gästen und Gastgebern, mit Volksmengen, Jüngern und Pharisäern beschäftigt und das Wort der Wahrheit unter alle recht geteilt. Und wenn wir die Gedanken Gottes über alles, was wir um uns her sehen, kennen und achten, werden wir uns auch mit solchen Übungen des Geistes Christi beschäftigen, wie wir sie hier vor uns haben. Möge Sein Licht uns bescheinen, damit wir in diesem Seinem Licht durch die Finsternis wandeln, die uns oft so undurchdringlich umgibt!
Es gibt wohl keine größere Entfaltung göttlicher sittlicher Vollkommenheit als diese, und wir sollten beim Lesen dieser Kapitel von Bewunderung erfüllt sein. Alle Reden des Herrn haben göttliches Gepräge. Er wartete Seine Gelegenheit zur Belehrung ab, und dann erfolgte sie im geeigneten Augenblick. Es ist von großer Wichtigkeit, nicht nur genau auf den Inhalt der Reden zu achten, sondern auch auf die Art und Weise, wie sie gehalten wurden, nicht bloß auf den Umstand, der sie veranlasste, sondern auch auf den Zweck, den sie verfolgten.
Aber noch etwas anderes ist zu unserer Belehrung und Ermahnung zu bemerken. Der Herr übte allezeit ein gerechtes Gericht, Ihm konnte man nicht schmeicheln. Er beurteilte Personen und Umstände niemals nach ihrem Verhältnis zu Ihm selbst. Hieran mangelt es im Allgemeinen bei unseren Urteilen, weil wir die Personen oder Dinge meist nur in unserem Licht sehen. In welchem Maß haben diese Umstände uns selbst berührt, und wie haben diese Menschen uns behandelt? Das sind häufig die Überlegungen unserer Herzen, die dann gewöhnlich unser Urteil formen. Wir fühlen uns von guten Meinungen der Menschen über uns geschmeichelt und von schlechten gekränkt und beleidigt.
Beim Herrn war das nicht so. Des Pharisäers Höflichkeit und Gastfreundschaft vermochten Sein Urteil nicht zu beeinflussen, und die freundliche Atmosphäre des Mahls in seinem Haus konnte Seine Gedanken über die Ihn umgebenden Dinge nicht verändern. Das hohe Bekenntnis des Petrus bei einer Gelegenheit hinderte den Herrn nicht, ihn bei einer anderen Gelegenheit zu strafen, wie in früheren Tagen der Gott Israels sich nicht dadurch günstig stimmen ließ, dass die Lade des Bundes, deren sich das Volk rühmte, mit großem Jauchzen in die Schlacht getragen wurde (1Sam 4).
Welche Belehrung für uns! Haben wir nicht alle Ursache, wachsam zu sein gegen die Urteile der Selbstliebe bei der Prüfung von Dingen und Personen, die uns persönlich berühren? Die unwandelbare, unbestechliche Gesinnung Jesu sollte uns Beispiel und Ermutigung sein. Möge es unser ständiges Gebet sein, dass weder die Schmeichelei noch die Bosheit der Welt uns davon abhalten, unser Urteil stets in Übereinstimmung mit dem Seinen zu bringen!
Indessen soll das Bewusstsein, dass die Weise Gottes viel erhabener ist als die unsere und dass die Vollkommenheiten Jesu unsere mannigfachen Fehler umso klarer hervortreten lassen, nicht dazu verleiten, dass wir „durch übermäßige Traurigkeit verschlungen“ werden. Wir neigen häufig zu solchen Überlegungen und sind betrübt über Erfahrungen, die uns einen niedrigeren Platz einnehmen lassen als den, auf welchen der Glaube uns stellen will. Das sollte nicht so sein. Der Glaube muss vorherrschen. Beides, der Glaube und das Schuldbewusstsein, haben eine absondernde Kraft. Das Bewusstsein von Sünde führt in die Einsamkeit, auf einen Platz der Traurigkeit, wie Nathanael unter den Feigenbaum und später den gläubigen Überrest - „jede Familie für sich und ihre Frauen für sich“ (Sach 12,14). So ist es auch mit dem Glauben. Er öffnet das Ohr des verlorenen Sohnes für die Musik, die der Vater angeordnet hat, und verschließt es sogar vor der Erinnerung an die vergangenen Torheiten und vor dem Murren eines gegenwärtigen, kaltherzigen Bruders.
Kostbarer Glaube! Er beschäftigt sich mit Gott. Der verlorene Sohn war schweigsam. Er hemmte nicht die Hand des Vaters, obwohl dieser so viel für ihn tat. Seine Schweigsamkeit an der Tafel mochte nach Bescheidenheit und Demut aussehen, denn wahre Demut vergisst sich selbst; aber es war der Glaube, der ein reiches Festmahl vor sich hatte. Vielleicht war es auch der Ausdruck jener bekannten Wahrheit, dass die Gefühle eines Niedrigeren gegenüber einem Höhergestellten niemals die gleichen sind wie die des Größeren zu einem Untergeordneten. Ein Kind liebt die Eltern niemals mit der gleichen Stärke, wie sie das Kind lieben, und sie sind glücklich, dass es so ist. Ein Vater ist zufrieden mit dem Bewusstsein, dass seine Liebe vonseiten des Kindes nicht mit Gleichem vergolten wird.
Solche Gedanken mögen den verlorenen Sohn beschäftigt haben, als er schweigsam und in Ruhe vor dem gemästeten Kalb saß, und diese Gefühle sollten wir auch unserem himmlischen Vater gegenüber haben. Sicher ist Ihm unser Herzenszustand nicht gleichgültig, denn das gereichte weder zu Seiner Verherrlichung noch zu unserer Freude. Aber Er weiß, dass Seine Liebe stets größer sein wird als unsere. Er will immer der Auszeichnende sein, wie es David gegenüber Jonathan war; denn Er nimmt den höheren Platz ein, dessen Rechte und Vorrechte gewahrt bleiben müssen. Zu diesen Eigenschaften herablassender Liebe, die sich aus der höheren Stellung ergibt, gehört, wie gesagt, dasss sie sich reiner und stärker offenbart. Alles, was der Glaube zu tun hat, ist, es sich gefallen zu lassen und sich zu freuen, dass es so und nicht anders ist. Der Glaube erhebt sich zu Gott und schweigt voller Anbetung. Wir hören keine einzige Selbstanklage, keine Äußerung eines sicher vorhandenen und auch angebrachten Selbstgerichts. Nichts, außer dem „unzugänglichen Licht“, vermag die Erhabenheit dieser Ruhestätte zu übertreffen, zu der das Herz im Triumph emporgetragen wird. „Herr, vermehre uns den Glauben!“
13 Bei Matthäus finden wir dieses Gleichnis in einem anderen Zusammenhang, und zwar in direkter Beziehung zum Judentum (Mt 22).↩︎