Behandelter Abschnitt Lk 13,1-35
Die Belehrungen des vorigen Kapitels waren von großer Wichtigkeit. Am Anfang des 13. Kapitels befinden wir uns, wie wir lesen, noch „zu derselben Zeit“ und wohl auch noch bei derselben Wahrheit. Jener Mann, der sich wegen seines Bruders an den Herrn gewandt hatte, musste von Ihm erfahren, dass er selbst mit einem Ankläger auf dem Weg zum Richter war, denn jene Worte in den Versen 58 und 59 sind, davon dürfen wir überzeugt sein, an ihn gerichtet. Jetzt kommen einige und berichten dem Herrn von den Leiden gewisser Galiläer, die nach ihrer Meinung „vor allen Galiläern Sünder waren“ (Joh 9,2). Sie schleppten sozusagen ihre Brüder vor Gericht, sodass der Herr ihnen klar machen musste, dass sie unter demselben Urteil standen und „gleicherweise umkommen“ würden, wenn sie nicht Buße täten.11
Diese Gedanken des Herrn über die Sünde Israels, das als ganze Nation reif war für das Gericht eines weit größeren Blutbades, führen Ihn zu dem Gleichnis von dem unfruchtbaren Feigenbaum.
Dieser Feigenbaum stand in einem Weinberg, wie einst Israel in Gottes Weinberg gesetzt worden war, umgeben von Vorrechten und Verordnungen, bewässert und gepflegt mit allem Fleiß und jeder Sorgfalt.
Aber er hatte keine Frucht gebracht. Israel hatte in sich selbst keine Wurzel, um Gott irgendetwas zubringen. Das hatte der Dienst des Herrn Jesus, des geduldigen Weingärtners, fast völlig erwiesen. Alles Graben und Düngen um den fruchtleeren Baum war umsonst gewesen. Durch diesen Dienst der Güte Gottes sollten sie zur Buße geleitet werden (Röm 2,4).
Aus der nächsten kleinen Szene ersehen wir dann, dass in Israel kein Gefühl über seinen wahren Zustand vorhanden war. Die Kranke war da und somit auch die Hilfe eines Arztes notwendig, doch sie waren darüber gefühllos. Eine Tochter Abrahams war schwer krank, aber die Herrscher in Abrahams Haus wiesen den Dienst des guten Arztes zurück.
So offenbarte sich vor den Augen des Herrn der verderbte Zustand des Volkes, und Seine folgenden Äußerungen über den großen Baum, auf dem die Unreinen ihren Ruheplatz gefunden hatten, und den Sauerteig, der den ganzen Teig durchsetzt hatte, scheinen darauf Bezug zu nehmen. Mit solchen Gefühlen über die offenkundige Sünde und das kommende Gericht Israels setzt der Herr nun Seinen Weg nach Jerusalem fort.
Im Johannes-Evangelium finden wir den Herrn häufig in Jerusalem. Kein anderer Ort der Erde stand bei dem Fremdling vom Himmel in größerem Ansehen. In den anderen Evangelien betritt der Herr diese Stadt, die der verordnete Sitz Seiner Regierung als Sohn Davids war, erst, als Sein Dienst als der verheißene König zu Ende ging und Er von der Tochter Zion, der Er das Reich bringen wollte, völlig und in aller Form verworfen worden war. Lukas dagegen verzeichnet Seine allmähliche, schrittweise Annäherung an die Stadt genauer und ausführlicher als Matthäus und Markus (Kap. 9,51; 13,22.33; 17,11; 18,31; 19,1.11.28).
Es sieht so aus, als zögere Er von Station zu Station, um das Schicksal des Volkes nicht zu beschleunigen; denn was Ihm dort widerfahren sollte, machte dessen Sünde voll und überlieferte es dem Gericht. Er zögerte aus Gnade, wie auch in dem jetzigen Zeitalter die Langmut Gottes, die das Kommen des Herrn verzieht, Errettung ist, da Er nicht will, dass irgendwelche verloren gehen. Diese Zurückhaltung auf Seinem Weg nach Jerusalem erinnert an die Zurückziehung der Herrlichkeit Gottes aus Jerusalem in Hesekiel 1-11. Der Abzug der Herrlichkeit vollzieht sich schrittweise, als habe sie keine Neigung, sich zurückzuziehen, obgleich die Verunreinigung der Stadt ihr Bleiben nicht mehr gestattete. So ist es auch hier. Der Herr zögert auf die gleiche Weise, um das Gericht Jerusalems hinauszuschieben, und wandert nach der Stadt noch durch das ganze Evangelium, bis Sein Dienst beendet ist.
Mit ernstem, aber klarem Blick vollzieht der Herr die Annäherung an die Stadt, indem Er sie aus der Entfernung beobachtet. In Kapitel 9,51 tritt der Herr den Weg nach Jerusalem noch an in dem Bewusstsein, dass er Ihn zur Herrlichkeit führt, während Er in Kapitel 18,31 die Stadt als den Ort Seiner Leiden vor Sich sieht.
Aber hier, in Kapitel 13,22, blickt Er nach Jerusalem in dem Bewusstsein, dass Seine Gegenwart dort für Israel das „Ende des Tages des Heils“ und das Gericht bedeutet. Dieser Gedanke lag jetzt auf Seinem Gemüt. Alle vorhergehenden Szenen dieses Kapitels, der Bericht über die Galiläer, das Gleichnis vom Feigenbaum, die Heuchelei der Obersten der Synagoge im Hinblick auf die kranke Tochter Abrahams, riefen diese Gedanken in Ihm hervor, als Er sich jetzt der Stadt näherte. Sie mögen sich Seinem ganzen Wesen aufgeprägt haben, sodass jemand, der Ihn beobachtet und in etwa verstanden haben mochte, Ihn fragte: „Herr, sind es wenige, die errettet werden?“ Dieser Augenblick ist für uns von großem Interesse, sodass wir dabei etwas verweilen möchten.
Der Herr hatte eine ganz besondere, eine vollkommene Art, Fragen zu beantworten, wie ja alles an Ihm vollkommen war. Er liebte es nicht, nur Unterhaltungen zu pflegen, sondern Er war stets bemüht, auf das Herz und das Gewissen einzuwirken. Ihn beschäftigte nicht so sehr die Frage wie der Fragende. Vielleicht jeder Fall bestätigt es, und es seien einige Beispiele angeführt.
Als Er von Seinen Jüngern gefragt wurde, wann Seine Worte über den Tempel sich erfüllen würden, beantwortet Er die Frage nicht direkt, sondern lenkt ihre Gedanken auf ernste, schwere Dinge und besiegelt Seine Unterweisungen in ihren Herzen durch die wichtigen Gleichnisse von den zehn Jungfrauen und den Talenten (Mt 24 und 25). Auf die Frage des Johannes: „Bist du der Kommende, oder sollen wir auf einen anderen warten?“ antwortet Er nicht einfach: „Ja, ich bin es; ihr braucht nach keinem anderen auszuschauen „, sondern Er zeigt den Jüngern des Johannes Dinge, die sie befähigten, ihm eine Antwort wahrer, lebendiger Kraft zu überbringen (Mt 11).
So ist es auch hier. Die Frage: „Herr, sind es wenige, die errettet werden?“ wurde nicht buchstäblich beantwortet, vielmehr wurde die Antwort moralisch in eine Form gekleidet, die für den Mann passend war und ihm Veranlassung gab, sich selbst zu prüfen und zu beurteilen.
Auch hierin offenbart sich Seine vollkommene Weisheit und Güte, in der Er sich stets mit dem Menschen beschäftigte. Er öffnet nicht die Quellen Seines eigenen, vollkommenen Wissens, sondern sucht mit gütigem Ernst die Verlorenen zu retten. Wie armselig ist dagegen die Weise der Menschen, der Weisen dieser Welt oder, wie Paulus sie nennt, der „Fürsten dieses Zeitlaufs“! Als sie gefragt wurden, wo der Christus geboren werden sollte, antworteten sie dem Buchstaben nach richtig und wahr, aber sie vermochten nicht, ihrem Wissen von dem kommenden König das moralische Gewicht zu geben, wozu sich ihnen Gelegenheit bot. Als aber der Herr gefragt wurde, von wem Er geboren sei (“Wo ist dein Vater?“), erreichte Seine Antwort nicht nur ihre Ohren, sondern mit ernster, sittlicher Kraft auch ihre Gewissen (Joh 8).
Sicherlich bedarf der Herr nicht unseres Lobes, aber es macht uns glücklich, wenn wir Seinen Vollkommenheiten nachspüren und Seine Schönheiten bewundern können. Und das ist heutzutage nötiger denn je, weil in unserer Zeit viele hin und her laufen, um ihr Wissen zu bereichern. Das sollte für uns alle eine Warnung sein, da wir Gläubige jederzeit wachsam sein müssen gegenüber allem, was Zeitgeist heißt. Wenn der Apostel Paulus für die Gläubigen betet, dass sie wachsen mögen in der Erkenntnis, wünscht er ihnen zunächst geistliches Verständnis (Eph 1,17.18; Kol 1,9).
Das rein verstandesmäßige Aufnehmen von Wahrheiten ist zumindest wertlos. Legen wir vielmehr unsere Fragen beiseite, als dass wir ihnen mit dem Scharfsinn menschlicher Tüchtigkeit nachspüren. Und ist es unangebracht, an die Worte eines Knechtes Christi, der vor uns gelebt hat, zu erinnern, „dass das Verlangen, in geistlichen Dingen mehr zu wissen, das Zeichen davon sein mag, dass Gott selbst in Wirklichkeit überhaupt nicht gekannt ist“? Denn Ihn zu erkennen ist das „ewige Leben“. Ein anderer sagt ebenso wahr: „Der natürliche Mensch nimmt Wahrheiten oft viel schneller auf als der Gläubige, weil dieser sie mit seinem vor Gott geübten Gewissen zu lernen hat.“ Solche Ermahnungen sind sehr notwendig. Wir mögen in unseren geschäftigen Tagen eifrig sein im Ansammeln von Erkenntnis, um klug zu werden, und doch kann die Seele in dieser ganzen Zeit Schaden, ja, großen Schaden nehmen.
Das „Ringen“ und das „Suchen“ in der Antwort des Herrn auf die Ihm gestellte Frage (V. 24) sind wohl nicht als verschiedene Grade von Anstrengung eines und desselben Tuns zu verstehen, sondern es handelt sich um ganz verschiedene sittliche Tätigkeiten. Das „Suchen“ beginnt erst, wenn der Hausherr bereits aufgestanden ist, und erfolgt aus erwachender Angst, während das „Ringen“ eine Tätigkeit des Herzens und Gewissens vor Gott ist, bevor der Hausherr aufgestanden ist; es wird nicht einfach von der Furcht hervorgerufen, draußen bleiben zu müssen. Wie oft haben wir diese Art des „Suchens“ unter uns schon feststellen müssen! Ein plötzliches Alarmzeichen ruft religiöse Gefühle hervor, die aber nur so lange leben, wie die Gefahr besteht. Gott sagte einst durch Seinen Propheten: „Die du auf dem Libanon wohnst und auf den Zedern nistest, wie erbarmungswürdig wirst du sein, wenn Schmerzen dich überkommen, Wehen, wie eine Gebärende! . . . Und ich werde dich in die Hand derer geben, die nach deinem Leben trachten“ (Jer 22,23.25). Der vorliegende Abschnitt unseres Kapitels ist daher eine ernste Warnung für alle.
Der Herr setzt Seinen Weg fort, aber Er denkt noch nicht an Sich selbst, weder an Seine Leiden noch an die Herrlichkeit, sondern an Jerusalem, an dessen Sünde und Gericht. Einige Pharisäer berichten Ihm von den Absichten des Herodes gegen Ihn, doch Er sagt ihnen einfach, dass weder Herodes mit seinen dunklen Absichten noch irgendetwas anderes Ihn hindern kann, Seinen Weg nach Jerusalem fortzusetzen. So hocherhoben Jerusalem durch die ihm von Gott verliehenen Vorrechte war, so außergewöhnlich groß war seine Bosheit gegen den Herrn. Es musste das Maß seiner Schuld vollmachen und den letzten und bedeutendsten der Propheten töten.
Der Herr beachtete die Wut des Herodes12 nicht, obwohl Sein Weg durch dessen Hoheitsgebiet führte. Jerusalem war das Ziel, mit dem Seine Seele sich beschäftigte, und Er gab Seinen Gedanken mit den bewegenden Worten Ausdruck: „Jerusalem, Jerusalem, die da tötet die Propheten und steinigt, die zu ihr gesandt sind! Wie oft habe ich deine Kinder versammeln wollen wie eine Henne ihre Brut unter ihre Flügel, und ihr habt nicht gewollt! Siehe, euer Haus wird euch überlassen.“
Jerusalem hat „nicht gewollt“. Die Fürsorge der Henne wurde zurückgewiesen, aber der Fuchs (vgl. V. 32) war bereits unter ihnen. Statt Sammlung gab es jetzt nur noch Zerstreuung. Herodes und Rom rühmten sich ihres Besitzes, aber Gott und Sein Christus wurden abgewiesen. „Wegen des Berges Zion, der verwüstet ist; Füchse streifen darauf umher“ (Klgl 5,18). Der Sohn Gottes musste im Augenblick Seinen Berg ihrem Besitz überlassen, bis das Volk Ihn im Geist der Buße und des Glaubens wieder willkommen heißen wird: „Gepriesen sei, der da kommt im Namen des Herrn!“
11 Manche glauben, dass dieses Ereignis in Zusammenhang gebracht werden kann mit der Partei Judas‘ des Galiläers in Apostelgeschichte 5,37, in der sich viele Galiläer befanden, die die Autorität Caesars nicht anerkannten und dadurch notwendigerweise Pilatus herausforderten. Die Galiläer waren aber Untertanen des Herodes (Lk 3,1), sodass man annehmen kann, dass diese Einmischung des Pilatus den Streit zwischen ihm und Herodes verursachte, wovon wir in Kapitel 23,12 lesen.↩︎
12 Dieser Herodes war der vierte Sohn jenes Herodes, der in Matthäus 2,3 „König Herodes“ genannt wird. Aus Lukas 3,1 wissen wir, dass Galiläa der Schauplatz seiner Herrschaft war, wie auch aus diesem Abschnitt geschlossen werden kann. Manche waren der Ansicht, dass er den Herrn aus seinem Herrschaftsbereich zu entfernen wünschte, weil der Herr an Galiläa ein großes und zunehmendes Interesse bewies und weil er Ihn Seiner Gerechtigkeit und Seines Zeugnisses wegen hasste. Um des Volkes willen wagte er es jedoch nicht, Ihn umbringen zu lassen, und so suchte er Ihn in Furcht zu versetzen und zu vertreiben. Er wollte Ihn vielleicht in die Rolle eines Furchtsamen drängen, was Seiner unwürdig gewesen wäre, wie auch die Feinde Nehemias damals jenem treuen und einfältigen Mann eine Schlinge legen wollten (siehe Neh 6,10-14).↩︎