Behandelter Abschnitt Lk 12,1-59
Der Herr zieht sich aus dem Kreis der Schriftgelehrten, Gesetzeslehrer und Pharisäer zurück, jedoch um Seinen Weg als Lehrer an anderen Orten fortzusetzen. Er begibt sich mitten unter eine Volksmenge. Dort nimmt Er Seine Belehrungen sofort wieder auf, und zwar über den gleichen Gegenstand, der Ihn bereits im Haus des Pharisäers beschäftigt hatte: Heuchelei und Verfolgung, womit ein treuer Überrest zu rechnen hatte. So sehen wir auch in diesem Kapitel, wie im vorigen, das Licht sein Werk tun.
Den Gegenstand dieses Kapitels finden wir auch bei Matthäus, allerdings in anderer Darstellung. Dort ist es eine zusammenhängende Rede, hier sind es vielfach Antworten auf Fragen. Dieser Unterschied ist wieder bezeichnend für unser Evangelium, weil der Herr sich hier mit dem Menschen beschäftigt, dessen Gewissen und Gefühle Er in Tätigkeit zu bringen sucht. Deshalb wird in Lukas vieles bei Tisch gesprochen und in die Form von Antworten auf Fragen anderer gekleidet, was uns Matthäus in Form einer Predigt von einem erhöhten Platz aus erzählt (Mt 5-7). In unserem Kapitel finden wir den Herrn wieder, wie Er inmitten einer Ihn drängenden Volksmenge lehrt.
Wie im vorigen Kapitel haben wir auch hier ein Zeugnis von der Gewalt und Kraft Seiner Worte, denn „einer aus der Volksmenge“, offensichtlich von den Worten des Herrn beeindruckt, bittet Ihn, sich für seine Interessen gegenüber seinem ungerechten Bruder einzusetzen. Dieser Mann glaubte, in dem Herrn einen Gegner der Bedrückung und der Anmaßung der Reichen gefunden zu haben. Aber der Herr musste sein Ansinnen zurückweisen, denn Er war lediglich das Licht, das die Finsternis richtete, wo immer sie sich fand. So richtete Er hier die Habsucht, wie Er kurz vorher unter den Obersten den religiösen Stolz und die Heuchelei verurteilt hatte.
Bei diesem Gegenstand wollen wir ein wenig verweilen. Das ist hier auch besonders angebracht, weil die Gedanken unseres Herrn sich nach dieser Unterbrechung auf das nahe Ende Seines gegenwärtigen Redens zu richten scheinen. Die Sucht nach dem „Haben“, die Liebe zum Erwerb und Besitz, was ja Habsucht ist, ist einer der großen Grundsätze, die den Lauf dieser bösen Welt beherrschen. Johannes nennt ihn in seinem ersten Brief „die Lust der Augen“. Das völlige Gegenteil von diesem - wie überhaupt von jedem anderen - Grundsatz, der den „alten Menschen“ beseelt, wird in dem Leben und in den Lehren unseres Herrn dargestellt. Was Paulus den gläubigen Mazedoniern nachrühmte, nämlich dass bei großer Drangsalsprüfung die Überströmung ihrer Freude und ihre tiefe Armut übergeströmt ist in den Reichtum ihrer Freigebigkeit“ (2Kor 8,2), war bei dem Herrn Jesus in Vollkommenheit zu finden.
Seine Armut war wirklich tief. Er hatte nicht, wohin Er Sein Haupt legen konnte, und als Er einmal einen Denar brauchte, um ein Wort über dessen Bild und Unterschrift zu sagen, musste man Ihm einen zeigen. Aber Seine Freigebigkeit war ebenso groß, wie Seine Armut tief war. Er hatte gewissermaßen eine gefüllte Börse, aber Er öffnete sie nie, es sei denn für andere. Ihm standen die Reichtümer der ganzen Schöpfung zur Verfügung. Er machte aus wenigen Broten Nahrung für Tausende, sammelte danach aber die Reste in Handkörben wieder ein. Er konnte Wasser in Wein verwandeln, ein Geldstück aus dem See heraufholen und als der Herr der Erde über das Tier eines Fremden verfügen. Das war in der Tat eine reich gefüllte Börse. Aber Er machte für sich Selbst davon keinen Gebrauch, Er wollte lieber hungern und dürsten. Und selbst von Seinen geringen Vorräten, wenige Brote und Fische für sich und die Seinen, erübrigte Er noch etwas für andere (Joh 13,29).
Wo gibt es einen ähnlichen Reichtum an Freigebigkeit? Was war dieses ganze Verhalten unseres Herrn in Seinem täglichen Leben anderes als Widerspruch gegen die Habsucht dieser Welt? Man hätte Ihn nicht loben können, wenn Er sich selbst Gutes tat (vgl. Ps 49,19). Mit welcher Herzensenergie vergaß Er allezeit Sich selbst! Deshalb konnte Er auch mit wahrer und überzeugender Autorität dem Ansinnen jenes Menschen in unserem Kapitel widerstehen, der nach dem Anteil des Erbes seines Bruders begehrte. Diese Unterbrechung scheint den Herrn zu einem neuen Thema angeregt zu haben, das Ihm zu wichtig war, um gleich wieder beiseite gelegt zu werden. Er spricht darüber in Gegenwart Seiner Jünger und zeigt ihnen, dass die Habsucht, das Streben nach Besitz und Erwerb, uns unpassend machen muss für Sein Kommen. Diesen Gegenstand, der die Seele aufrechtzuerhalten geeignet ist, behandelt Er nun ausführlich in einer zu Herzen und Gewissen gehenden Weise. Die große Wahrheit von Seinem Kommen10 wird uns hier in drei verschiedenen Bildern vorgestellt: ein Dieb in der Nacht, der das Haus überrascht, ein Herr, der seinen treuen Verwalter belohnt, und ein geliebter Herr, der seine wachsamen Knechte durch seine Wiederkehr glücklich macht.
Matthäus deutet dasselbe in den Kapiteln 24 und 25 an, nur mit dem Unterschied, dass dort das Bild der wachenden Knechte durch die auf den Bräutigam wartenden Jungfrauen ersetzt ist. Die moralische Belehrung ist aber die gleiche. Gerade die Verschiedenheit dieser Bilder enthält für uns eine wichtige Unterweisung, weil uns darin gesagt wird, dass der Herr Jesus in unseren Herzen den überragenden Platz einnehmen will. Indem Er uns Seine Wiederkehr in unterschiedlichen Bildern vorstellt, beansprucht Er in all den verschiedenen Gefühlen unserer Herzen für Sich selbst den höchsten Platz. Furcht, Hoffnung oder Freude, je nachdem, sind im Herzen des Hausherrn, der Verwalter und der wachenden Knechte oder wartenden Jungfrauen die alles beherrschende Kraft: die Furcht vor dem Dieb, die Hoffnung auf die Austeilung der Belohnung oder die Freude über die Gegenwart des Bräutigams. Es ist ein beglückender Gedanke zu wissen, dass der Herr auf unsere Zuneigungen wartet, aber Er weiß auch, daß Er Anspruch darauf hat, der höchste Gegenstand für uns zu sein. Ein Gefühl, das Ihm diesen höchsten Platz nicht einräumt, ist keine wahre Liebe.
Dieser Gedanke ist ernst, denn wir müssen uns fragen: Ist es so bei uns? Ist der Sitz unserer Zuneigungen ein Platz der Verehrung für Ihn? Ist der Herr dort der Hauptgegenstand? Er sagt: „Wer Vater oder Mutter mehr liebt als mich, ist meiner nicht würdig“, und in unserem Kapitel: „Fürchtet euch nicht vor denen, die den Leib töten . . . Ich will euch aber zeigen, wen ihr fürchten sollt: Fürchtet den, der nach dem Töten Gewalt hat, in die Hölle zu werfen.“ Beides, die Wachsamkeit der Furcht und die Wachsamkeit eines wartenden Verlangens, wird hervorgerufen. Jede Regung im Herzen ist nur dann völlig richtig, wenn sie die Herrschaft oder die Vorrangstellung Jesu zum Gegenstand hat.
So strahlte das göttliche Licht in die Welt der Finsternis des Menschen, und überall, wohin es fiel, war es ein bloßstellendes Licht (Eph 5,13). Die Reichen wie die Armen, die Obersten wie die Volksmengen waren ihm in gleicher Weise ausgesetzt und von ihm bloßgestellt, wie einst Jeremia in seinen Tagen „die Geringen“ und auch „die Großen“ aufsuchte; aber er musste feststellen, daß sie alle zusammen „die Bande zerrissen „ hatten (Jer 5,1-5). So erging es jetzt dem Herrn Jeremias‘. Er war bei den gebildeten Schriftgelehrten und inmitten der Volksmenge gewesen, aber alles war vergeblich. Jetzt erfüllten Ihn die ernstesten Gedanken (V. 49-59). Er hatte die Menschen geheilt, denn Er kam und verkündigte Frieden. Er hatte auch die Zwölf und die Siebzig mit einer Botschaft des Friedens für jede Stadt und jedes Haus ausgesandt. Aber der Friede musste zu Ihm und zu ihnen zurückkehren. So blieb für die Gegenwart nur Entzweiung und bald das Feuer des Gerichts. Wohl war Verständnis und Zufriedenheit über die gegenwärtigen Dinge vorhanden, aber das Zeugnis Gottes wurde nicht verstanden. Man war mit sich selbst zufrieden.
10 Das Kommen des Herrn ist die eigentliche Hoffnung der Gläubigen. Für die ungläubige Welt kommt Er wie ein Dieb.↩︎