Behandelter Abschnitt Lk 10,1-42
Dieses Kapitel beginnt mit der Aussendung der Siebzig, die wir nur hier finden, weil der Herr Jesus in diesem Evangelium nach Menschen jenseits der jüdischen Grenzen Ausschau hält. Deshalb haben wir hier einen Dienst, der in seinem Charakter ausgedehnter ist, als er den jüdischen Vorstellungen entsprach. Dieser Dienst kündigte eine Abkehr von der strengen ursprünglichen Ordnung in Israel an, ähnlich wie bei der Berufung der siebzig Ältesten in den Tagen Moses (4Mo 11). Das alles entspricht ganz dem Lukas-Evangelium.
Die Siebzig werden mit einer Botschaft des Friedens vonseiten Gottes an jede Stadt und jedes Haus ausgesandt, wobei aber niemand auf dem Weg gegrüßt werden sollte. Das ist von großer Bedeutung. Der Herr Jesus beabsichtigte nicht, die rein gesellschaftlichen Beziehungen der Menschen untereinander zu regeln, sondern die Verbindung zwischen Gott und Sündern herzustellen. Das ist das große Ziel, das der Herr im Auge hatte. So war es auch später bei dem Apostel Paulus. Ihn kümmerte es nicht, ob die Gläubigen gebunden oder frei waren. Waren sie gebunden, so waren sie doch Freigelassene des Herrn, waren sie aber frei, so doch Sklaven Christi (l. Kor 7). Ihre Verbindung mit dem Herrn war für ihn die Hauptsache, wie es hier beim Herrn ist. Niemand sollte gegrüßt werden, weil jeder Stadt und jedem Haus der Friede verkündigt werden sollte. Nicht menschliche Höflichkeit sollten die Boten auf ihren Lippen haben, sondern eine frohe, aber heilige und gewichtige Botschaft Gottes an Sünder.
Das waren die Gedanken des Herrn bei dieser Aussendung Seiner Boten. Als sie mit einem Bericht über ihre Tätigkeit zurückkehren, gehen Seine Gedanken, offenbar angeregt von jenem kleinen Beispiel von Macht in ihren Händen, weit voraus in die Zukunft, und Er sieht Satan aus dem Himmel hinausgeworfen. Aber dann wendet der Herr sich wieder Seinen Jüngern zu, um ihr Trachten nach Macht zu zügeln, indem Er ihnen sagt, dass es etwas viel Besseres als das gebe, nämlich einen Namen im Himmel und ein Gedächtnis beim Vater zu haben. So groß es auch sein mag, Gewalt über Dämonen und Macht auf der Erde zu haben, es ist doch viel herrlicher, im Buch des Lebens eingeschrieben zu sein. Der Herr unterschätzt keineswegs eine solche Macht und will die Jünger auch nicht an ihrer Ausübung hindern, im Gegenteil, Er freut sich darüber und bestätigt sie in ihren Händen, indem Er sagt: „Ich gebe euch die Gewalt, auf Schlangen und Skorpionen zu treten.“ Aber die Heimat der Kinder im Himmel ist viel köstlicher als die Macht der Erben Gottes auf der Erde.
Es ist interessant zu beobachten, dass die Gedanken des Herrn gerade hier - und in der entsprechenden Stelle in Matthäus 11 - dem sehr nahekommen, was wir später im Johannes-Evangelium finden. Dort sehen wir den Herrn Jesus in Verbindung mit dem Vater und der himmlischen Familie, und an dieser Stelle unseres Evangeliums blickt Er über alles, was Ihn inmitten der abtrünnigen Städte Israels umgibt, hinweg auf jene Gegenstände. Der Vater, der Sohn und die, deren Namen im Himmel angeschrieben sind (Heb 12,23), beschäftigen die Gedanken des Herrn, als Er auf zukünftige Dinge schaut, die nur Er sah. Im Geist frohlockt Er darüber und hat von Neuem Wohlgefallen an der Person und dem Ratschluss des Vaters, des Herrn des Himmels und der Erde, und auch an Seinem eigenen Platz in diesem gesegneten Geheimnis. Dann wendet Er sich wieder mit herzlicher Vertraulichkeit Seinen Jüngern zu und verbindet sie mit dieser Glückseligkeit, die an Seinen Blicken vorüberzieht und die Propheten und Könige vor alters nicht erlangt hatten.
Während der Herr noch mit diesen glückseligen Gedanken über himmlische Dinge beschäftigt ist, versucht Ihn ein Gesetzgelehrter mit einer Frage, die aus ganz anderen Quellen kam. Doch Er weist diese Zudringlichkeit nicht zurück, sondern steigt herab auf den menschlichen Boden. Hier, wie bei vielen anderen Gelegenheiten, bewundern wir die Langmut und Geduld, mit welcher der Herr sich stets den Menschen zuwendet. Wir sahen schon früher, dass Er gelegentlich auf das Verlangen des Glaubens Seine göttliche Herrlichkeit schauen ließ (Kap. 7), aber Seine Langmut als Lehrer und Heiland, die durch menschliche Unwissenheit oder Not hervorgerufen wird, ist an ihrem Platz ebenso lieblich. Es gab für Jesus keine Herrlichkeit in Gott, die Er nicht offenbarte, wenn der Glaube sie beanspruchte, aber nichts im Menschen war auch für Ihn zu klein, als dass Er es nicht beachtete, wenn Not oder Unkenntnis sich an Ihn wandten. Und in allem war Er niemals hastig, als fühlte Er einer Schwierigkeit zu begegnen, sondern immer bewegte Er sich mit der gnadenreichen Ruhe bewusster Macht, die jedem Bedürfnis gewachsen war, welches es auch sein mochte.
Die Frage des Gesetzgelehrten gibt dem Herrn Anlass, das Gleichnis vom barmherzigen Samariter mitzuteilen, das bezeichnend für unser Evangelium ist. Der Zweck war, dem Gesetzgelehrten zu zeigen, wer sein Nächster war, aber diese Unterweisung wird vom Herrn, wie Er es gewöhnlich tut, in das Gewand einer weit größeren Belehrung gekleidet, sodass wir nicht nur die Antwort auf die Frage, sondern andere Grundsätze der Wahrheit zu hören bekommen. Die späteren Belehrungen der Apostel tragen den gleichen Charakter. Das ist immer die Weise Gottes in allen Haushaltungen. Er stellt nicht nur das wieder her, was wir verloren haben, sondern Er führt andere Herrlichkeiten und Segnungen ein, die zugleich die völlige Wiederherstellung mit sich bringen. Der Geist der Offenbarung antwortet nicht nur der Wissbegierde des Fragenden, sondern kleidet die Antwort in Wahrheiten und Grundsätze, die weit erhabenere Gedanken mitteilen. So ist es auch hier. Das Gesetz der Nächstenliebe wird durch eine wundervolle Darstellung der Gnade des Evangeliums des Sohnes Gottes illustriert, und zwar auf dem Hintergrund der Unzulänglichkeit aller anderen Dinge hinsichtlich der Bedürfnisse des Sünders.
Der Fall, der hier zugrunde liegt, war eine Schande für das Land. Alles, was das Gesetz tun konnte, war, den Übeltäter ausfindig zu machen und „Auge um Auge, Zahn um Zahn, Hand um Hand, Fuß um Fuß“ zu fordern. Auch die Diener des Altars unter dem Gesetz konnten in diesem Fall nichts tun, denn sie hatten ihren Dienst anderswo. Aber ein Fremder konnte, wenn es ihm gefiel, in der Freiheit seiner Liebe sich des Falles annehmen.
So ist es mit uns Sündern. Gott muss mit der Tätigkeit Seiner Liebe unserem traurigen Zustand begegnen, der jeder anderen Hilfe unzugänglich ist. Die Dienste des Tempels können nichts für solche tun, die keine dem Tempel geziemende Reinheit besitzen. Der Mensch von Natur hat dort keinen Platz, sein Herz ist kein Heiligtum für Gott. Er liegt blutbefleckt an einem unreinen Ort; was er nötig hat, ist, gesucht und heimgebracht zu werden. Der Mensch ist die Beute eines mächtigen, grausamen Feindes geworden und bedarf jener Liebe, die bereit ist, ihm um einen hohen Preis das zu geben, was er bedarf. Die Liebe kam in der Person des Sohnes Gottes. Unter dem Gesetz war Gott im Heiligtum, von dem der Unreine ferngehalten werden musste; nur der Priester und der Levit hatten Zutritt. Im Evangelium dagegen kommt Gott auf den unreinen Platz, um die Verlorenen zu suchen. Jesus ging, Gutes tuend, umher, der Fremdling vom Himmel kam dorthin, wo der Mensch in seinem Blut lag. Er blickte voller Mitleid auf ihn, beschäftigte sich mit seinem Schmutz, ohne sich selbst zu beflecken, wusch ihn von seinem Blut und salbte ihn mit Öl (Hes 16,6-14).
Dies alles tat Er für ihn, indem Er den Platz mit dem verwundeten Sünder tauschte. Obwohl Er reich war, wurde Er arm, damit wir durch Seine Armut reich würden; obgleich Er ohne Sünde war, wurde Er zur Sünde gemacht, damit wir Gottes Gerechtigkeit würden in Ihm. Als der barmherzige Samariter wechselte Er den Platz mit dem verwundeten Reisenden, Er stieg von Seinem eigenen Tier und setzte jenen darauf. Und Er tat noch mehr als das: Er hat uns verheißen, stets Sein Auge auf uns zu richten und an uns zu denken, mag Er nun gegenwärtig oder abwesend sein, so wie der Fremdling den Wirt beauftragte, für den armen, hilflosen Mann Sorge zu tragen bis zu seiner sicheren Rückkehr.
Diese wunderbare Liebe finden wir in dem Sohn Gottes, dem Fremdling vom Himmel, dem wahren barmherzigen Samariter. Er und nur Er allein erfüllte das Gesetz der Liebe zum Nächsten, und wir dürfen von Ihm lernen, müssen unser Herz an Seinem Herzen erwärmen, um hinzugehen und „desgleichen“ zu tun. Dieser Gesetzgelehrte rühmte sich des Gesetzes, aber er hatte es ohne Frage herabgesetzt und entwürdigt, wie es jeder tut, der durch das Gesetz gerechtfertigt zu werden sucht. „Wer ist mein Nächster?“ fragt er, nicht ahnend, welch eine Geschichte der Nächstenliebe er hören sollte. Das Gesetz war für die Gedanken dieses Mannes zu groß und zu erhaben, und es ist es für uns alle. Wir sehen niemand, der diesem Wort entsprochen hätte: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben aus deinem ganzen Herzen . . . und deinen Nächsten wie dich selbst“, es sei denn, wir blicken auf den Herrn Jesus und Sein Gott geweihtes Leben.
Der Gesetzgelehrte wollte auf dem Boden des Gesetzes stehen bleiben, und daher wies er den Herrn Jesus ab, aber er musste erfahren, wenn er es überhaupt verstanden hat, dass Jesus allein das Gesetz hielt, ihm aber Kraft und Wirksamkeit auf die Gewissen anderer verlieh. Unser ganzes Heil beruht darauf, dass wir den Herrn Jesus als den wahren Fremdling kennenlernen, der uns in unseren Wunden mit Seinem Öl und Seinem Wein begegnete. Lukas allein berichtet uns dieses Gleichnis, und das entspricht völlig dem Geist der Gnade, der sein Evangelium durchweht.
Die kleine Szene, die dann dieses Kapitel abschließt, ist ebenso bezeichnend für Lukas, weil sie seinem allgemeinen Zweck dient, uns große grundsätzliche Wahrheiten zu vermitteln.
Das Haus, in welches wir jetzt eintreten, ist das Haus der Martha, was der Heilige Geist zur Charakterisierung der Martha ausdrücklich erwähnt. Sie empfängt den Herrn in ihrem Haus mit der ganzen Bereitwilligkeit ihres Herzens und versorgt Ihn; denn Sein Dienst und die damit verbundenen Strapazen machten dies notwendig. Martha wusste sehr wohl, dass Sein Weg im Land der Weg des barmherzigen Samariters war, der selbst lieber zu Fuß ging, um andere reiten zu lassen, und sie liebte den Herrn viel zu sehr, als dass sie Seine Ermüdung nicht bemerkt und Vorsorge dafür getroffen hätte. Maria jedoch hatte kein Haus für Ihn, denn sie war, wie Er, im Geist ein Fremdling, aber sie öffnet Ihm ein Heiligtum und lässt Ihn, den Herrn dieses demütigen Tempels, darin Platz nehmen. Sie sitzt zu Seinen Füßen und lauscht Seinen Worten. Wohl weiß sie, ebenso wie Martha, dass der Herr auf der Reise ist, aber sie weiß auch, dass in Ihm eine Kraft und Fülle ist, die nie erschöpft werden kann. Ihr Ohr und ihr Herz nehmen Ihn in Anspruch, während Marthas Hände und Füße Ihm dienen.
Hierin liegt der große Unterschied zwischen den beiden Schwestern. Marthas Augen sahen nur Seine äußere Müdigkeit, und daher wollte sie Ihm etwas geben, während Marias Glaube darüber hinaus Seine Fülle gewahrte, von der sie nehmen wollte.
Das ruft die Zuneigung des Sohnes Gottes hervor. Der Herr nimmt die Fürsorge Marthas an, solange es lediglich Sorge um Seine gegenwärtigen Bedürfnisse ist; sobald sie aber ihre Gesinnung mit derjenigen Marias in Vergleich stellt, muss sie Sein Urteil hören und belehrt werden, dass Maria durch ihren Glauben den Herrn mit einer weit köstlicheren Speise erquickte, als Marthas Fürsorge und alle Vorräte ihres Hauses es zu tun vermochten. Sie saß zu Seinen Füßen und hörte Seinen Worten zu. Da war kein Tempel und keine Sonne (Off 21,22-23), aber der Sohn Gottes war da, und Er war alles für sie. Am Jakobsbrunnen vergaß Er Durst und Müdigkeit und spendete ein Wasser, das kein Krug und kein Brunnen enthalten konnte. Hier kommt Maria zu der gleichen Quelle in dem Bewusstsein, dass sie trotz aller Müdigkeit voll ist wie je zu ihrem Genuss.
Welche Grundsätze tun sich uns hier auf! Unser Gott beansprucht für sich selbst den Platz größter Kraft und vollkommener Güte, und Er möchte, dass wir Seine Schuldner sind. Unser Bewusstsein von Seiner Fülle ist für Ihn kostbarer als aller Dienst, den wir für Ihn tun könnten. Er hat Anspruch auf mehr, als die ganze Schöpfung Ihm geben könnte, und doch wünscht Er vor allem, dass wir Seine Liebe in Anspruch nehmen und uns Seiner Schätze bedienen. Wir ehren Ihn, wenn wir unser Vertrauen auf Ihn setzen; denn die göttliche Herrlichkeit will stets geben, segnen und ihre unerschöpfliche Fülle ausschütten. Unter dem Gesetz hatte Er von uns zu empfangen, aber unter der Gnade ist Er der Gebende. „Geben ist seliger als Nehmen“ sind die eigenen Worte unseres Herrn. Diesen Platz will Er in alle Ewigkeit einnehmen, denn „ohne allen Widerspruch wird das Geringere von dem Besseren gesegnet“. Sicherlich soll Lob und Dank zu Ihm aufsteigen von allem, was Odem hat, aber von Ihm selbst und dem Thron Seiner Herrlichkeit werden der ständige Strom des Segens, die Wasser der Erquickung und Heilung ausgehen. Unser Gott wird zu Seinem eigenen Ruhm Seine Freude daran haben, für ewig der Geber zu sein.