Behandelter Abschnitt Neh 12
Im 12. Kapitel ist aufs Neue von der Mauer die Rede, von der Jerusalem jetzt ganz umgeben ist. Und dass die Mauer, wenn einmal vorhanden, auch eingeweiht wird, ist durchaus am Platz. Schon oft war bei ähnlichen Anlässen ein öffentliches Fest gefeiert worden. Denken wir nur an das Hinaufbringen der Bundeslade in den Tagen Davids, an die Einweihung des Tempels zur Zeit Salomos, an die Grundsteinlegung des Tempels in den Tagen Serubbabels, sowie endlich an die Vollendung dieses zweiten Hauses. Und nun, in den Zeiten Nehemias, feiert das Volk mit Freuden die Einweihung der Mauer, die die Stadt umschließt.
Aber während das sich so verhält und so weit auch ganz in Ordnung ist, möchte ich doch fragen: Was ist eigentlich diese Mauer? Ist sie nicht ein weiteres Zeugnis von der Erniedrigung Jerusalems? In den kommenden Tagen ihrer Macht und Schönheit, wenn Jerusalem die Stadt des Reiches, der Mittelpunkt der Welt, das Heiligtum und der Palast des großen Königs von Israel und der Erde ist, dann wird „Rettung“ ihre Mauer sein. Gott wird dann Rettung zu Mauern und zum Bollwerk setzen (Jes 26,1). Der Herr selbst wird, ihren Bergen gleich, rings um sie her sein (Ps 125,2). Ihre Mauern werden Rettung und ihre Tore Ruhm genannt werden (Jes 60,18). Die Stimme des Geistes in dem Propheten Sacharja, die um jene Zeit kaum verhallt sein konnte, hatte den schönen Ausspruch getan: „Als offene Stadt wird Jerusalem bewohnt werden wegen der Menge von Menschen und Vieh in seiner Mitte. Und ich, spricht der Herr, werde ihm ringsum eine feurige Mauer sein und werde zur
Herrlichkeit sein in seiner Mitte“ (Sach 2,8.9).
Wie unendlich groß ist doch der Unterschied! Unter Nehemias Augen trägt Jerusalem die Zeichen seiner Schande, während wir in den Propheten lesen, dass es zur höchsten Ehre und Auszeichnung auf Erden bestimmt ist. Was muss ein Mann wie Nehemia hierbei gefühlt haben! Und doch setzt er seinen Dienst fort, aufrichtig, unverzagt und geduldig. Ein schöner Geist der Hingebung drückt sich darin aus. Nehemia arbeitet, und er arbeitet in würdiger Weise, wenn auch von äußeren Feinden bedrängt und im Inneren von einem niedrigen Zustand umgeben. Als einen solchen Diener Christi sehen wir Paulus in seinem zweiten Brief an Timotheus.
Auch wir sollten solche Diener sein. Die Christenheit, in deren Mitte wir leben, ist so weit entfernt von der Kirche, wie wir sie in den Briefen dargestellt finden, wie das Jerusalem, das Nehemia sah, von der in den Propheten beschriebenen Stadt. Aber Nehemia diente in seiner Mitte, und das sollten auch wir tun vor den Augen und inmitten der Christenheit. Denn für den treuen Diener ist nicht der Schauplatz des Dienstes, sondern der Wille des Herrn maßgebend.
Obwohl wir also Israel wiederhergestellt, das Land bevölkert und die Stadt wieder bewohnt finden, ist das doch nicht das Reich. Die Kinder Israel müssen noch ernster Prüfung und Sichtung unterzogen werden, und der Tag der Gnade, des Heils und der Herrlichkeit, der verheißene Tag des Reichs, ist noch fern. Aber der Glaube muss in Übung sein, und der Gehorsam hat seine Aufgabe zu lernen und auszuführen.