Behandelter Abschnitt Neh 13
Demgemäß finden wir zu Beginn des 13. Kapitels das Buch Gottes immer noch offen. Denn wie schon einmal erwähnt, ist ein Tag der Erweckung sicher auch ein Tag der „geöffneten Bibel“. Doch das Volk muss jetzt etwas Neues lernen. Es nimmt zu an Verständnis und an Einsicht in die göttlichen Grundsätze. Ein anderes Blatt des Buches liegt jetzt vor ihm aufgeschlagen. Bis dahin hatte die Schrift „Trost“ für die Zurückgekehrten, von jetzt an wird sie von „Ausharren“ zu ihnen reden. Bisher hatte sie ihnen „auf der Flöte gespielt“, von jetzt an wird sie ihnen „Klagelieder singen“ (Mt 11,17). Die Freude des Festes des Posaunenhalls und die noch reichere Freude des Laubhüttenfestes war ihnen offenbart worden, und sie hatten im Gehorsam darauf geantwortet. Sie hatten zu dem Flötenspiel „getanzt“. Jetzt aber wartet auf sie eine schmerzliche Übung durch das Buch. Sie lesen darin, „dass kein Ammoniter und Moabiter in die Versammlung Gottes kommen sollte in Ewigkeit“.
Das war erschreckend. Alle hatten bis dahin friedlich nebeneinander gelebt. Nicht nur bei den Festesfreuden, sondern auch bei dem Bekenntnis waren sie zusammen gewesen. Die „Kinder der Fremde“ waren entfernt worden, aber das „Mischvolk“ scheint nicht beachtet worden zu sein. Nun aber musste auf das in 5. Mose 23 gefundene Gebot hin diese ernste Trennung vollzogen werden, geradeso wie man nach 3. Mose 23 die Freude des Laubhüttenfestes genossen hatte.
Doch war dies umso mehr geeignet, den Geist des Gehorsams in jenen schönen Tagen des Wiederauflebens auf die Probe zu stellen. Und das Volk besteht die Probe und antwortet auf die Forderung des Wortes Gottes in gesegneter Weise. Wir lesen: „Und es geschah, als sie das Gesetz hörten, da sonderten sie alles Mischvolk von Israel ab“ (Kap. 13,3). Das war in der Tat Gehorsam: Sie taten, was die Schrift vorschrieb, was das Wort lehrte – was für einen Dienst oder was für eine Pflicht es auch immer auferlegte oder was für Opfer es auch immer erforderte.
Dann aber findet sich Böses, und zwar an so hoher Stelle, dass das Volk es anscheinend nicht erreichen kann. Doch es muss selbst da erreicht werden, denn ein Tag der Erweckung und der neuen Kraft von Gott muss ein Tag des Gehorsams sein. Während der ganzen Zeit hatte ein Ammoniter im Haus des
Herrn gewohnt. Das ging über alles Maß hinaus. Nicht nur befand sich der Mann, wie das Mischvolk, in der Versammlung – nein, er wohnte im Tempel, und das durch Vermittlung des Hohenpriesters selbst.
Nehemia hielt sich zu der Zeit, da dieses Böse geschehen war, nicht in Jerusalem auf. Aber bei seiner Rückkehr musste er mit demselben handeln, so wie das Volk in seinem Maß bereits mit dem Mischvolk gehandelt hatte. Denn die Forderungen von 5. Mose 23 sollen Beachtung finden, selbst wenn der höchste Beamte in der Gemeinde bestraft werden muss. Eljaschib ist bedeutungslos für Nehemia, wenn Moses spricht. Denn dieser besitzt die Autorität Gottes, während jener sie nur über sich anzuerkennen hat. Das ist durchaus ein Mahnungswort auch für die Christenheit, die ihren Eljaschib über Moses gesetzt hat. Wenn sie nur Ohren hätte, zu hören!
Aber so stand es nicht mit dem treuen Mann Nehemia. Bei ihm war „der Stuhl Moses“ der oberste Stuhl. Die Schrift beurteilt jeden, während sie selbst von niemandem beurteilt werden darf. Weder der Hohepriester in Israel, noch die kirchliche Überlieferung, noch das sogenannte geistliche Amt, noch irgend etwas anderes in der Christenheit, so althergebracht und liebgewonnen es auch sein mag, darf ein Jota oder ein Pünktchen von dem Wort beiseite setzen. Der Herr sagt selbst: „Die Schrift kann nicht aufgelöst werden“ (Joh 10,35). Wer darf ihr also widersprechen? Gott wird sein Wort erfüllen. An uns ist es, sein Wort zu beobachten. Der Herr wolle dies allen seinen Heiligen tief ins Herz schreiben.
In den Kapiteln 11 und 12 haben wir Zeichen des Niedergangs in Jerusalem wahrgenommen. Wir begegnen ihnen auch noch im 13. Kapitel, und zwar in der Entheiligung des Sabbats und in den Verbindungen mit den Töchtern der Unbeschnittenen. Das ist mehr als Niedrigkeit in den äußeren Umständen; es ist sittlicher Niedergang. Die Befreiung aus der Gefangenschaft und die Wiederbevölkerung der Stadt haben das Volk nicht berechtigt, den Gruß zu empfangen, der in den
Tagen des kommenden Reiches von den Lippen einer bewundernden Welt ertönen wird: „Der Herr segne dich, du Wohnung der Gerechtigkeit, du heiliger Berg!“ (Jer 31,23).
Aber ich wiederhole: Trotz diesem allen sehen wir Nehemia im Dienst. Und das ist ein ermunternder Anblick. Es liegt eine große sittliche Würde in dieser Treue im Dienst, mögen wir Proben davon finden, wo und in wem wir wollen.
Auch das Volk ist, mit dem noch immer geöffneten Buch vor sich, ein erbaulicher Anblick, den wir uns nicht entgehen lassen sollten. Sie waren nicht wählerisch im Blick auf das Gesetz. Sie wollten ein Volk sein, für das es kein vernachlässigtes Gebot, keine unbeachtete Seite im Buch Gottes gab. Nicht ein Laut sollte dem Ohr verloren gehen, und wenn er auch nur aus der Ferne gehört wurde.
Wer von uns kommt ihnen darin gleich? Wie sehr neigen wir dazu, uns unsere Abschnitte der Belehrung selbst zu wählen, anstatt zu leben „von jedem Wort, das durch den Mund Gottes ausgeht“!
Ist es nicht so? Hören wir nicht lieber von dem Laubhüttenfest und seiner Freude, oder von dem Schall der Posaunen am Tag des Neumondes, als von den ernsten Belehrungen des Wortes, wenn es über Reinigung und Selbstgericht, oder über die Trennung von ungerechtfertigten Verbindungen zu uns redet? Wählen wir gern solche Abschnitte? Oder schlagen wir die Seite des Buches, die von derartigen Dingen redet, lieber um? Ich glaube, wir kennen alle die Versuchung, mit dem römischen Landpfleger zu sagen: „Für jetzt geh hin; wenn ich aber gelegene Zeit habe, werde ich dich rufen lassen“ (Apg 24,25). Der Kreis ist so gesellig, das Herz fühlt sich so behaglich; ach, nein! Gebote wie die in 5. Mose 23,4 sind für den Augenblick unausführbar. Vielleicht später einmal!
Wir dürfen in der Tat sagen, dass alle diese Teile der Schrift, diese treuen Männer Esra und Nehemia, samt den zurückgekehrten Gefangenen, der eingehenden Aufmerksamkeit und der Bewunderung unserer Seelen wert sind. Wie hat der Geist Gottes in den Auserwählten jener Tage gewirkt, und wie belehrt Er uns in unseren Tagen durch das, was Er von ihnen aufgezeichnet hat!
Wir sahen ferner, dass die Tage unter Serubbabel, Esra und Nehemia Zeiten der Erweckung waren. Solche Zeiten waren schon früher da gewesen in Israel, so unter Samuel, David, Josaphat, Hiskia und Jesaja. Und sie sind wieder und wieder in den Tagen der Christenheit vorgekommen. Sie mögen manchmal auch eine unerwartete und vielleicht nie da gewesene Gestalt annehmen. Es ist die Eigentümlichkeit des Lebens, zuzeiten außergewöhnliche Züge anzunehmen und über seine gewöhnlichen Regeln und Maße hinaus zu wirken. Denn Leben ist gewissermaßen eine freie Sache mit einer ihm innewohnenden, eigentümlichen Kraft. Aber obwohl das so ist, müssen wir doch alle Kundgebungen desselben an dem Wort Gottes prüfen. „Zum Gesetz und zum Zeugnis!“ (Jes 8,20). Wenn etwas diese Probe nicht aushält, so ist es nicht das Überquellen des Lebens, mag es auch noch so schön und hinreißend erscheinen. Es muss verworfen werden mit all seinen einnehmenden Begleiterscheinungen. „Jedem, der hat, wird gegeben werden“ (Lk 19,26). Gehorsam einer Belehrung gegenüber ist der gewisse und sichere Weg zur Aufdeckung einer anderen. „Wenn jemand seinen Willen tun will, so wird er von der Lehre wissen . . . “ (Joh 7,17). Hierbei liegt uns jedoch die Versuchung nahe, zurückhaltend zu sein – aus Furcht, das, was wir noch zu lernen haben, möchte sich als beschämend für uns erweisen, wie geschrieben steht: „Wer Erkenntnis mehrt, mehrt Kummer“ (Pred 1,18). Daher zeigen manche von uns eine große Neigung, auf halbem Weg stehen zu bleiben. Aber das ist ebenso gut Ungehorsam, wie das Nichtbeachten eines gelesenen und verstandenen Wortes. Das Buch Gottes aus Furcht vor dem schließen, was es uns etwa noch lehren könnte, ist sicherlich deutlicher Ungehorsam.