Einsicht in die Zeiten
Paulus spricht nun über den Charakter des Tages, an dem Timotheus zum Dienst berufen wurde. Wenn sein Dienst für den Herrn wirksam sein sollte, musste Timotheus „Einsicht in die Zeiten“ haben (1Chr 12,33). Paulus erinnert ihn unmissverständlich an die Abweichung, die im christlichen Zeugnis im Gange ist. Er sagt:
2Tim 1,15: Du weißt dies, dass alle, die in Asien sind, sich von mir abgewandt haben, unter welchen Phygelus ist und Hermogenes.“
Asien war das Gebiet, wo Paulus den größten Teil seines Wirkens verbracht hatte. In der Tat war der Versammlung in Ephesus, der Hauptstadt Asiens, die höchste Wahrheit geschenkt worden. Der Apostel hatte ihnen die Einzelheiten des großen Geheimnisses von Christus und der Gemeinde offenbart. Dennoch wandten sie sich nun von ihm ab! Das muss schmerzhaft gewesen sein für Paulus.
Das Problem war, dass die Gläubigen sich für ihn und für die Wahrheit, die er lehrte, schämten. Sie waren nicht bereit, die Schande zu tragen, die damit verbunden war, dass sie sich mit dem verworfenen Diener des Herrn identifizierten. Das sie sich von Paulus abgewandt hatten, bedeutet nicht, dass sie Christus aufgegeben hatten und Abtrünnige waren. Sie bekannten sich weiterhin als Christen, versuchten aber, sich von den Extremen zu distanzieren, die er ihrer Meinung nach in seinen Lehren angenommen hatte. Vielleicht rechtfertigten sie ihr Handeln damit, dass sie glaubten, ihre Vorstellung vom Christentum sei ausgewogener. „Phygelus und Hermogenes“ werden besonders genannt, weil sie wahrscheinlich die Führer dieser Bewegung in Asien waren. Paulus hatte die Ältesten in Ephesus genau davor gewarnt: „Aus euch selbst werden Männer aufstehen, die verkehrte Dinge reden, um die Jünger abzuziehen hinter sich her“ (Apg 20,30). Timotheus musste genau wissen, wer die einflussreichen Männer dieser Bewegung waren; deshalb nennt Paulus sie beim Namen. Wenn Namen in der Heiligen Schrift den Charakter einer Person bezeichnen sollen, dann bedeutet Phygelus so viel wie „kleiner Flüchtling“ und legt vielleicht nahe, dass er versuchte, dem unliebsamen Stigma, mit Paulus identifiziert zu werden, zu entkommen. Hermogenes bedeutet „glücklich geboren“ und legt vielleicht nahe, dass er keinen echten Sinn für göttliche Leitung in seiner Seele hatte. Ebenso müssen auch wir Einsicht in die Zeiten haben. Wir müssen die „Lage“ der christlichen Landschaft kennen – wir müssen wissen, welche Aspekte der Wahrheit untergraben und angegriffen werden, und wir müssen uns entsprechend vorbereiten. Wir müssen wissen, wo wir uns in der Kirchengeschichte befinden: Wir befinden uns nicht in den Pfingsttagen, als die Wahrheit von den Christen wohlwollend aufgenommen wurde. Wir befinden uns in den letzten Tagen der Kirchengeschichte, in denen man sich weitgehend von Paulus „abgewandt“ hat. Es ist wahr, dass die meisten christlichen Gemeinschaften Paulus’ Briefe regelmäßig in ihren Gottesdiensten und Bibelstunden betrachten. Aber vieles von dem, was Paulus über die Lehre und die Praxis der Versammlung gelehrt hat, wird übergangen und nicht praktiziert. Was Paulus über Liebe und Ehe, christliche Moral usw. geschrieben hat, wird gerne angenommen, aber was er über Fragen der Absonderung geschrieben hat, wird oft wegdiskutiert.
Die meisten Christen legen die Schriften des Paulus durch die Brille ihrer kirchlichen und konfessionellen Voreingenommenheit aus und denken, dass Paulus die heute vorherrschenden klerikalen Prinzipien der kirchlichen Ordnung befürwortet. Da ihre Meinung durch ihre Kirchenzugehörigkeit gefärbt ist, verpassen sie unbeabsichtigt vieles von dem, was er gelehrt hat – obwohl sie seine Briefe regelmäßig lesen! Einiges von dem, was er geschrieben hat, wird rundheraus abgelehnt: die Kopfbedeckung (1Kor 11); das Verbot für die Schwestern, in der Versammlung das Wort zu verkündigen (1Kor 14,34.35); die Unterscheidung zwischen Israel und der Kirche und ihre jeweiligen Berufungen und Bestimmungen (Röm 9-11); die jederzeit mögliche Entrückung der Versammlung (1Thes 4,15-18) usw. Diese Dinge zu lehren und zu praktizieren wird heute im modernen Christentum als extrem und radikal angesehen, in Wirklichkeit ist es aber eine Abkehr von der Lehre des Paulus.
Das traurige Ergebnis: Vieles von dem, was Paulus gelehrt hat, ist verlorengegangen und im Mainstream-Christentum heute unbekannt. Zahlreiche Punkte in seinen Briefen sind den Christen weitgehend unbekannt: Sie berühren die Soteriologie (die Lehre von der Erlösung), die Ekklesiologie (die Lehre von der Kirche [Lehre und Praxis]), die Eschatologie (die Lehre von den zukünftigen Dingen) und noch viele andere Punkte, zu viele um sie hier aufzulisten. Leider hat sich die Kirche insgesamt von dem entfernt, was Paulus über viele dieser Dinge wirklich gelehrt hat.