Behandelter Abschnitt 1Joh 3,11-17
Denn dies ist die Botschaft, die ihr von Anfang an gehört habt, dass wir einander lieben sollen; nicht wie Kain aus dem Bösen war und seinen Bruder ermordete; und weshalb ermordete er ihn? Weil seine Werke böse waren, die seines Bruders aber gerecht. Wundert euch nicht, Brüder, wenn die Welt euch hasst. Wir wissen, dass wir aus dem Tod in das Leben hinübergegangen sind, weil wir die Brüder lieben; wer [den Bruder] nicht liebt, bleibt in dem Tod. Jeder, der seinen Bruder hasst, ist ein Menschenmörder, und ihr wisst, dass kein Menschenmörder ewiges Leben in sich bleibend hat. Hieran haben wir die Liebe erkannt, dass er für uns sein Leben hingegeben hat; auch wir sind schuldig, für die Brüder das Leben hinzugeben. Wer aber irgend irdischen Besitz hat und sieht seinen Bruder Mangel leiden und verschließt sein Herz vor ihm, wie bleibt die Liebe Gottes in ihm?
Der letzte Satz von Vers 10 ist, wie schon erwähnt, das Bindeglied, mit dem der Apostel von der Gerechtigkeit zur Liebe überleitet. Die Menschen haben diese beiden Wesensarten in Gegensatz zueinander gebracht. Aber in Christus, der die Gerechtigkeit und die Liebe in Vollkommenheit ist, sind sie völlig miteinander vereinigt und gelten gleicherweise voll und ganz auch für den Christen, da ja Christus sein Leben ist. Durch den Glauben haben wir das Leben empfangen, das in Ihm selbst war. Es ist nicht das Leben Adams, das alle Menschen haben, sondern ein neues Leben, das niemand von uns besaß, ehe wir an den Herrn Jesus glaubten. Da es Leben an sich ist, hat es keine äußerlich wahrnehmbaren Merkmale; es ist auch für uns unsichtbar. Wir können aber anhand seiner Handlungen und Auswirkungen erkennen, wo es vorhanden ist. Wenn das schon bei dem natürlichen Leben der Fall ist, sollte es bei dem übernatürlichen oder geistlichen Leben nicht erst recht so sein? Wir brauchen nicht um dieses Leben bitten, denn damit würden wir nur beweisen, dass wir gar nicht wissen, was Leben ist. Wenn es auch schwierig sein mag, das Leben zu definieren, so weiß doch jeder, dass der Tod eintritt sobald das Leben entflieht. Die Wirksamkeit des Todes macht sich bereits bemerkbar, ehe wir sterben, sie ist seit dem Sündenfall vorhanden.
Die Sterblichkeit ist eine Wirklichkeit, sie kommt aber erst im Tod sichtbar zum Ausdruck. Im Allgemeinen kann jeder Mensch feststellen, wenn bei einem anderen Menschen oder bei einem Tier der Tod eingetreten ist. Allerdings wissen wir, dass hin und wieder Ausnahmen vorkommen. Es gibt wohl keine Regel ohne Ausnahme, und bei jeder Wirklichkeit stoßen wir auf Schwierigkeiten. Doch hinsichtlich des Wortes Gottes gibt es keine derartigen Schwierigkeiten, die dem geistlichen Verständnis Hindernisse bereiten könnten. Für die, die keine Kenntnis Gottes haben, besteht zweifellos eine unüberwindliche Schwierigkeit; doch durch den Glauben an Christus empfangen wir diese Kenntnis. „Dies aber ist das ewige Leben, dass sie dich, den allein wahren Gott, und den du gesandt hast, Jesus Christus, erkennen“ (Joh 17,3).
Wer besitzt nun diese neue Natur? Jeder Gläubige hat sie von Anfang seines Glaubenslebens an, sie ist jetzt in ihrer ganzen Fülle für jeden Gläubigen vorhanden. Denn als der Herr auf der Erde war, sprach Er davon, dass wir Leben in Überfluss haben würden: „Ich bin gekommen, damit sie Leben haben und es in Überfluss haben“ (Joh 10,10). Der Ausdruck „Überfluss“ kann nicht gesteigert werden. Wie ist doch durch dieses Leben alles anders geworden! Das Leben, das die Jünger besaßen, als der Herr auf der Erde war, hielt sie beharrlich davon ab, öffentlich mit dem Tempel und dem jüdischen System zu brechen. Was hatte dagegen unser Herr, der sich in herablassender Gnade bezüglich des Gesetzes dem jüdischen System unterworfen hatte, noch mit dem Gesetz zu tun, nachdem Er gestorben und auferstanden war? Es wäre widersinnig, davon zu sprechen, dass der auferstandene Christus zum Tempel hinaufgegangen wäre oder an den jüdischen Zeremonien, an ihren Festen und so weiter teilgenommen hätte. Die Jünger aber mussten durch die Lehre erst darüber unterwiesen Werden. Sie erfassten nicht alles auf einmal. Auch wir neigen dazu, diese großen Veränderungen nur zögernd zu begreifen. Doch das Auferstehungsleben war in diesen Gläubigen vorhanden, und so waren sie auch allen diesen Dingen gestorben. Christus ist nicht nur für unsere Sünden gestorben. Er ist auch der Sünde gestorben; sie war niemals in Ihm, wir aber waren tief in sie verstrickt. Er ist ihr ein für allemal gestorben und hatte dann nichts mehr mit der Sünde zu tun. Stets war Er für ihre Wirkungen völlig unempfänglich; alles, was sie in seinem Leben hervorrufen konnte, waren Schmerz und Mitgefühl für jene, die durch sie irregeleitet waren. Durch sein Sterben vollbrachte der Herr Jesus das mächtigste Werk, das Gott je getan hat. Seine Wiederkehr in Herrlichkeit wird tatsächlich nur bewirken, dass an jenem Tag alle seine Vortrefflichkeiten, die Er bereits am Kreuz offenbarte, öffentlich und machtvoll zur Entfaltung kommen werden.
So trägt dieses neue Leben, obwohl es äußerlich nicht wahrnehmbar ist, die Kraft der Unauflöslichkeit in sich. Es ist durch den Heiligen Geist mit Kraft ausgestattet, denn Er ist nicht ein Geist der Furcht, sondern der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit. Die Apostel sollten mit Kraft ausgestattet werden. Sie sollten nicht nur vor anderen als Zeugen auftreten, sie mussten auch selbst in weitaus erhabenere Dinge eingeführt werden, die sie damals noch nicht erfassen konnten. Diese Dinge konnten sie erst erkennen, als sie nicht nur das Auferstehungsleben besaßen, sondern auch der Heilige Geist vom Himmel herabgesandt worden war. Diese beiden Dinge dürfen wir nicht durcheinanderbringen. Auch sollten wir das Wirken des Geistes nicht auf Sprachen, Wunder und ähnliche Machtbezeugungen beschränken, die nur äußere Zeichen seiner göttlichen Wirksamkeit waren. Die inwendig wirkende Kraft des Geistes war viel größer als irgendeines der sie begleitenden Zeichen. Diese verschwanden in dem Augenblick, als die Versammlung in Verfall geriet und Liebe, Wahrheit und Licht preisgab. Wie konnte Gott weiterhin das Siegel seiner Zustimmung auf einen unwürdigen Zustand der Dinge setzen? Bedenken wir, was sogar der Versammlung in Ephesus angedroht wurde; denn sie hatte bereits die erste Liebe verlassen, als Johannes die Offenbarung schrieb. Nach seinem Abscheiden versanken die Christen allgemein in diesen Zustand. Die Anwesenheit der Apostel hatte den Verfall, der bereits so intensiv eingetreten war, noch spürbar aufgehalten.
Es ist gut, wenn wir das neue Leben unter diesem Gesichtspunkt betrachten, da es die praktische Gerechtigkeit und die tätige Liebe des Gläubigen miteinander vereint. Johannes spricht hier nicht von der Liebe Gottes – obwohl diese mit einbezogen ist –, sondern von unserer Liebe, ebenso wie er auch nicht die Gerechtigkeit in Christus meint, die zu unserer Rechtfertigung dient, sondern unsere Gerechtigkeit, wenn er sie hier zur Sprache bringt. Es ist klar, dass diese Gerechtigkeit aus guten Früchten besteht. Wie kann es aber gute Früchte ohne einen guten Baum geben? In unserem natürlichen Zustand waren wir alles andere als gute Bäume; wir waren schlechte Bäume, die schlechte Früchte trugen. Um gute Früchte hervorbringen zu können, musste uns zuerst eine göttliche Natur verliehen werden, anders war dies nicht möglich. Bei einem wilden Baum muss man auch ein Pfropfreis einsetzen, um edle Früchte ernten zu können. Johannes ist hier mit diesem Leben, dem ewigen Leben, beschäftigt.
Was die Gerechtigkeit betrifft – es ist nicht diejenige für uns (wir hatten keine, wurden aber Gerechtigkeit in Christus, vgl. 2Kor 5,21) –, sondern die jetzt in uns ist, die täglich aufs Neue unsere praktische Gerechtigkeit hervorbringt. Die Menschen mögen die Wahrheit nicht gern hören, doch hier ist sie in den Worten des Apostels niedergeschrieben. Zudem ist die Sache zu ernst, als dass wir leichtfertig damit umgehen dürften. Niemand ist ein wahrer Christ, der nicht sowohl die Gerechtigkeit besitzt, die außerhalb von uns, in Christus, ihre Grundlage hat, wie er auch in sich die gerechte Natur hat, das neue Leben, das das Leben Christi ist. Wir können daher zwei Dinge unterscheiden: die objektive Seite außerhalb von uns und die subjektive Seite, das, was wir sind. Beide gründen sich auf die Tatsache, dass der Gläubige das Leben Christi besitzt. Dieses Leben unterscheidet sich nicht von Ihm selbst. Er hat es uns gegeben, damit wir das Leben, das Er hat, besitzen und in demselben sowie durch dasselbe leben.
So beginnt der Apostel mit den Worten: „Und dies ist die Botschaft, die ihr von Anfang an gehört habt.“ In Kapitel 1,5, finden wir dieselben Worte: „Und dies ist die Botschaft, die wir von Ihm gehört haben“. Unser Vers ist jedoch noch präziser. Die Botschaft war nicht nur „von Ihm“, sie war auch „von Anfang an“ (nicht vorher) gehört worden. Beides ist entscheidend. Was der Mensch noch hinzugefügt hat, ist belanglos. Die unveränderliche Wahrheit des praktischen Christentums bleibt bestehen, und das ist von umso größerer Bedeutung, als sie im absoluten Gegensatz zu den vorherrschenden Vorstellungen des Menschen steht. Besonders widerlegt sie offenkundig die Ansichten, die über die sogenannte Evolution bestehen. Die Evolutionsidee ist völlig falsch, sowohl hinsichtlich der natürlichen wie in noch schlimmerem Maß bezüglich der göttlichen Dinge. Sie geht auf heidnische Vorstellungen zurück, die später bezüglich der Natur wieder aufgegriffen wurden. Der Evolutionsidee leugnet Gottes Macht und Willen, alles nach seiner Art zu bestimmen. Das wahre Prinzip der Zoologie besteht in den göttlich geschaffenen Arten. Sie sind vom Schöpfer ebenso verankert wie auch die anderen sogenannten Naturgesetze. Menschliche Klassifizierung oder äußerliche Ähnlichkeiten führen leicht in die Irre. Daher steht die Evolutionslehre bei klarer Überlegung mit der Schöpfung, ja, mit den Rechten Gottes im Blick auf die Schöpfung, völlig im Widerspruch. Doch wie beschämend, dass eine solch arrogante und unbesonnene heidnische Vorstellung in unserer Zeit wieder auflebt! Dass die in Finsternis lebenden Menschen, die Gott nicht kannten, so dachten, war nur natürlich. Sie hatten diese Auffassung bereits lange vor Darwin und seinen Gesinnungsgenossen. Heutzutage scheint sie das Steckenpferd der sogenannten Philosophen und ihrer Anhänger zu sein, der ergebenen Sklaven einer auf reine Phantasie aufgebauten Idee. Würde die Entwicklungsidee nur auf die niederen Geschöpfe angewandt, so wäre das zwar verkehrt, es spielte aber keine große Rolle, abgesehen vom Antasten der Rechte Gottes – wie man sich die Entwicklung einer Maus, eines Affen oder anderer Tiere vorstellt. Steht aber der Mensch und seine Beziehung zu Gott in Frage, indem man behauptet, er sei aus einer Meeresalge oder irgendeiner Urzelle der Natur entstanden, so ist das eine sehr ernstzu nehmende Irrlehre. Man richtet damit Gewissen und Verantwortung sowie Gottes Ansprüche an die von Ihm geschaffene Menschheit zugrunde. Wegen des Unglaubens, der diese ganze Theorie durchsetzt, kann sie nie geduldet werden; es ist daher nötig, dies ganz klar auszusprechen.
Wir kommen nun zu einer weiteren Stelle von besonderem Interesse, weil es hier um „die Botschaft“ geht, ebenso wie in den einführenden Worten von Kapitel 1, die der Kundmachung der göttlichen Liebe und des göttlichen Lebens in dem Sohn des Menschen auf der Erde folgen. Dort war es die „Botschaft“, dass Gott Licht ist, die uns vorgestellt und auf uns angewendet wurde. Sie ist ebenso gewiss eine Wahrheit der christlichen Lehre wie die Tatsache, dass Gott Liebe ist. Ja, ehe letzteres in Kapitel 4 direkt ausgesprochen wird, finden wir bereits die Feststellung, dass Gott Licht ist. Zwar deuten schon die ersten vier Verse des ersten Kapitels klar an, dass Gott Liebe ist, doch finden wir die direkte Aussage darüber erst später. Es war überaus wichtig, dass der Mensch, durch die unumschränkte Gnade zu Gott gebracht, niemals vergessen sollte, dass Gott Licht ist. Der Empfang des ewigen Lebens in Christus darf uns nie dazu führen, unsere praktische Heiligkeit in unser Belieben zu stellen. Gott stellte das Hassenswürdige der Sünde unter Beweis, als Er den Herrn Jesus, der mit unserer unerträglichen Bürde beladen war, am Kreuz verließ. So sollte unsere neue Gnadenstellung vor Gott bewirken, dass die Sünde auch für uns in gleicher Weise hassenswürdig ist. Wenn Er uns bereits unschätzbaren Segen geschenkt hat, so können wir uns nicht der moralischen Verantwortung, dem Licht entsprechend zu wandeln, entziehen.
Das ist übrigens auch ein großes Vorrecht. Wie gesegnet, dass wir, einst durch die Sünde Söhne der Finsternis, in dieses wunderbare Licht versetzt sind, und zwar bereits in dieser Welt, nicht erst, wenn wir in den Himmel eingehen werden. So werden wir auch aufgefordert, entsprechend zu wandeln. Müssten wir diesen Weg gehen, ohne dass unser Vater ständig über uns wacht, wären wir völlig überfordert, denn wir würden bei jeder Versündigung von Gott abfallen. Die Sünde unterbricht zwar die Gemeinschaft, aber sie zerstört nicht das Leben Christi in uns. Sein Leben unterscheidet sich von jedem anderen dadurch, dass es niemals zunichtewerden kann. Es ist von Natur her ewig. Darin besteht für uns der stärkste Trost, obwohl es auch ernst an unsere Herzen und Gewissen appelliert.
So sagt der Apostel erneut: „Denn dies ist die Botschaft, die ihr von Anfang an gehört habt.“ Das war, als Christus in Liebe kam und uns Leben gab. Dann wurden wir aufgefordert, nicht nur an die Liebe Gottes in Christus zu uns zu glauben, sondern auch einander zu lieben, wie Er uns geliebt hat. Es ist ein Segen und ein wunderbarer Aufruf, der des Herrn würdig ist. Er setzt voraus, dass für uns und in uns ein vollständiger Wechsel stattgefunden hat. Wenn es irgendetwas gibt, das den gefallenen Menschen charakterisiert, dann ist es die Tatsache, dass er selbst stets der Mittelpunkt all seiner Gedanken und Empfindungen ist. Wir sind das, wonach wir trachten und was wir wertschätzen. Selbstsucht ist niemals Liebe. Das eigene Ich gilt für die Welt, um mit ihren Worten zu reden als die „Nummer Eins“. Für den Menschen ist nicht Gott die „Nummer Eins“, sondern sein armes, erbärmliches, gefallenes Ich. Jeder ist sein eigener Gott. Aus der Sicht des Höchsten ist und kann nur Er Gott sein. In meinem Herzen sollte unbedingt Gott den Platz „Nummer Eins“ einnehmen. Das wäre auch der Fall, wenn ich nicht ein gefallener, sündiger Mensch wäre. Der Herr macht nun dieser Entfernung von sich dadurch ein Ende, dass Er eine solche Aufforderung der Gnade an uns richtet. Sie ist in jedem Fall das Ergebnis davon, dass Gott in Ihm herniederkam, um für uns der Segenspender zu werden. Und das nicht nur durch ein Werk, das Er für uns ausführen ließ, sondern durch das Leben, das Er uns gab.
So besteht praktisches Christentum aus einem Leben für Gott und in Übereinstimmung mit seinem Wort. Wir ruhen dabei nicht nur nach außen hin auf Christus und seinem Werk, sondern wir haben Christus auch in uns. Beide Tatsachen sind wahr, und zwar bereits von Anfang an. Daran kann sich nichts ändern; jede Veränderung dieser Wahrheit wäre nur zum Verderben. Diese Botschaft wurde „von Anfang an“ gehört. Wie einleuchtend ist es, dass „von Anfang an“ nicht dasselbe bedeutet wie „im Anfang“, als Gott allein existierte. Nicht einmal ein Engel war da, Ihn zu hören, wie viel weniger ein Mensch. Heißt es aber: „Ihr habt sie von Anfang an gehört“, dann erschallt die Botschaft offensichtlich von der Zeit an, als Christus auf der Erde war. Es war auch nicht etwa nur die Aufforderung, seinen Nächsten wie sich selbst zu lieben; das wäre nur Gesetz gewesen.
Mit „deinem Nächsten“ war damals in erster Linie der Jude gemeint. Die Juden liebten ja die Heiden nicht. Sie hatten vielleicht etwas weniger Schwierigkeit bezüglich der Heiden, die gekommen waren, um unter den „Flügeln des Gottes Israels Zuflucht zu suchen“. Solche mochten durch Gnade zu ihren Nächsten gezählt werden. Diese Nächsten aus den Nationen waren jedoch, alle zusammengefasst, zahlenmäßig gering im Vergleich zu der übrigen Menschheit. Ruth nahm Zuflucht unter dem Schutz des Gottes Israels. Obwohl sie nicht den Nachkommen Abrahams angehörte, wurde sie mit einem nicht unbedeutenden Israeliten vermählt und dadurch mit ihm in das Geschlechtsregister eingereiht, dem der Hirte Israels, der Herr Jesus selbst, entstammen sollte. Solche Personen waren dann praktisch Israeliten. Doch das braucht hier nicht erörtert zu werden.
Jeder von uns weiß, dass bis zum Kommen des Herrn das „Liebe deinen Nächsten!“ sehr engherzig aufgefasst wurde. Der Herr erweiterte seine Bedeutung beträchtlich, als der Schriftgelehrte, zu dem Er sprach, die Streitfrage aufwarf: „Wer ist mein Nächster?“ Wenn die Wahrheit einfach und verständlich dargelegt wird, so dass die Hörer Mühe haben, ihr zu entrinnen, stellen sie gern Fragen, um damit ihr Gegenüber zu verwirren. Der Herr sprach darauf das wunderschöne Gleichnis vom barmherzigen Samariter. Welch ein Schlag war das für den jüdischen Stolz! Nicht der „barmherzige Israelit“, sondern der „barmherzige Samariter“ wurde als Vorbild hingestellt! Worin lag die Kraft dieses Gleichnisses? Der Samariter sah nicht einen Angehörigen seines Volkes, der seine Hilfe benötigte, sondern einen Israeliten, von dem sich jeder andere abwandte, nur nicht er, der Samariter. Sogar als ein Levit den Leidenden sah, oder ein Priester – o nein, das war nicht ihre Angelegenheit. Sie missachteten ihren Nächsten völlig, und zwar, weil das Elend dieses Menschen Liebe und Barmherzigkeit erforderte. Anders der Samariter. Er verband seine Wunden und versorgte ihn. War es nicht ein treffendes Bild von dem Herrn selbst? Und wie lieblich, dass der Herr es auch so gemeint hat, als Er das Gleichnis sprach. Er, der herniederkam, um „Knecht“ zu sein, war auch bereit, sich hinter der Gestalt eines „Samariters“ zu verbergen. Er kam, um unsere Sünden an seinem Leib auf dem Holz allein zu tragen und auszutilgen und um als der Gerechte für uns, die Ungerechten, zu leiden.
Kein Wunder, dass Er sich nicht schämte, in diesem Gleichnis ein Samariter zu sein; aber welche Niedertracht von den Juden, wenn sie Ihn abschätzig so bezeichneten (Joh 8,48)!
Wir haben hier eine andere Art von Liebe. Sie hat den Wohlgeruch der eigener Liebe Gottes. Wem wird die göttliche Liebe in ihrer ganzen Fülle gezeigt? Seinen Kindern. Dass man diese Liebe nur so wenig wahrnimmt, ist ein Beweis, wie weit man in der Christenheit abgewichen ist. Sogar die schwächsten Christen haben kein geringes Empfinden für Sünder, die in Gefahr sind, für ewig verlorenzugehen. Für die Belange der Kinder Gottes aber, ob diese Gott und seinen Sohn verherrlichen oder nicht, scheinen sie wenig übrigzuhaben. Der große Gegenstand ist für sie nur, dass Sünder zur Bekehrung kommen; alles andere ist von untergeordneter Bedeutung. Wie schade, bei diesem Punkt stehenzubleiben! Entspricht das den Empfindungen Gottes? War das alles, worum sich sein eigener Sohn bemühte, als Er auf der Erde war? Er war der offenbarte Gegenstand der Liebe und Gunst Gottes während der ganzen Zeit seines Hierseins, ehe Er unsere Sünden an dem Kreuz trug; und wie sehr liebte Er die Kinder Gottes!
Seine Stellung ist jetzt auch die unsrige, mit Ausnahme seines Sühnungswerkes. Wir sind Kinder Gottes, und die Liebe, die auf Ihm ruhte, ruht jetzt auch auf uns, wie der Herr uns am Ende von Johannes 17 versichert. Doch das geht gänzlich über das hinaus, womit sich die meisten Kinder Gottes zufriedengeben. Natürlich leugnen sie die Worte des Herrn nicht; doch erwecken sie nicht den Eindruck, dass sie sie verstehen. Oder reden und handeln sie etwa danach, dass diese Worte ihnen das Vorbild für ihre Vorrechte und Pflichten vermitteln? Das Bewusstsein, so geliebt zu werden, bewirkt auch die Liebe zu denen, die gleicherweise die Gegenstände dieser Liebe Gottes sind.
Es ist auch wichtig zu verstehen, dass eine solche Liebe wie seine etwas völlig Neues darstellte. Damals wurde es erstmalig den Seinen auferlegt, dass die Kinder Gottes einander lieben sollten. Der Herr legte es in dem „neuen Gebot“ fest. Es war tatsächlich etwas Neues zu erfahren, dass Gott nun im Begriff stand, eine Familie zu bilden, in der alle zerstreuten Kinder Gottes in eins versammelt werden sollten.
Das hatte es vorher noch nie gegeben. Gott tat das auf zwei besondere Arten. In den Schriften des Johannes finden wir die Einheit der Familie, in den paulinischen Briefen die Einheit des Leibes Christi. Beide verschmelzen miteinander als zwei verschiedene Arten göttlicher Einheit. Einerseits offenbarte Christus die Natur Gottes auf dieser Erde, um sie hier den Gläubigen mitzuteilen und sie als Kinder Gottes in eins zu versammeln. Andererseits besteht der Leib Christi, weil Christus im Himmel verherrlicht ist und wir durch den Geist in der Höhe mit Ihm vereinigt sind. Hier besteht also die Einheit zwischen dem Haupt und dem Leib. Das Haupt des Leibes ist der verherrlichte Mensch, und der Mittelpunkt der Familie ist Jesus, der Sohn Gottes; Christus droben ist beides.
Damit ist der Bereich abgemessen, innerhalb dessen diese Liebe tätig ist. Es ist die Liebe untereinander, nicht die Liebe des Evangeliums, die zu dem verlorenen Menschen ausgeht. Sie hat mit dem Gesetz oder unserem Nächsten nichts zu tun. Es ist Liebe in göttlichen Beziehungen zur Familie Gottes. Die Liebe zu den Kindern Gottes erstreckt sich auf alle Gläubigen auf der ganzen Erde und beschränkt sich nicht nur auf unser Land. Alle sind sie Glieder am Leib Christi. Diese Wahrheit soll in Bezug auf jeden Gläubigen verwirklicht werden, ob er sich in der Ferne oder in der Nähe befindet. Man kann keinen aus dem Bereich der Liebe auslassen, ohne Gefahr zu laufen, gegen Gottes Wort zu verstoßen oder es zu missachten und damit den Heiligen Geist zu betrüben, der in uns ist, damit wir fortan den Willen Gottes tun.
Das gibt dem Apostel Gelegenheit, die Sonde noch tiefer anzusetzen. Er stellt in krassem Gegensatz die Kinder Gottes den Kindern des Teufels gegenüber und geht bei beiden Kategorien bis auf die Wurzel. Es genügt ihm nicht, die Letzteren böse oder Kinder des Zorns zu nennen, wie sie an anderen Stellen bezeichnet werden. Er sagt hier: „Kinder des Teufels.“ Das führt zu einem Punkt von ungeheurer Bedeutung. Bemerkenswerter Weise greift er auf die frühesten Tage des gefallenen Menschen zurück, als Adam und Eva Kinder geboren wurden. Er beginnt mit ihrem ältesten Sohn: „Nicht wie Kain aus dem Bösen war“ (V. 12). Kain kann niemals unser Vorbild sein, wir müssen uns im Gegenteil von ihm abwenden. Und weshalb? Er ermordete seinen Bruder. Dahin brachte ihn seine Bosheit. Das war sicherlich keine Liebe, sondern Hass, und das will Johannes hier vorstellen. Er denkt nicht an eine Neutralität zwischen Liebe und Hass. Er will keine abschwächenden Vorstellungen gelten lassen, die bei manchen Christen anscheinend so beliebt sind. Jede Gefühlsregung, die für Kain Entschuldigungsgründe gelten lässt, ist ein Kompromiss gegenüber der Wahrheit. Es ist aber von höchster Wichtigkeit zu erkennen, dass es eine deutliche Scheidung geben muss zwischen dem, was von Gott ist, und dem, was vom Teufel ist. Das will Johannes uns hier verdeutlichen.
Es ist bemerkenswert, dass uns hier die weitreichende Wahrheit gezeigt wird, dass es Kain war, der zwei Neuerungen einführte. Er errichtete als erster Mensch eine „fleischliche“ Religion. Kain war keinesfalls ein religionsloser Mensch zu nennen. Er entsprach den Menschen der heutigen Zeit, die regelmäßig in ihre Kirche oder Gemeinde gehen. Er besaß lediglich die natürliche Religiosität des Fleisches, die in ihm keinen Gedanken aufkommen ließ, ob sein Opfer seinem eigenen Zustand angemessen war oder den Gedanken Gottes entsprach. Die Menschen kümmern sich im Allgemeinen um solche Fragen nicht. Für die meisten genügt die Begründung: „Unsere Eltern und Großeltern sind auch schon in diese Kirche gegangen.“ Sie wurden dort getauft, konfirmiert und nahmen teil an den Sakramenten; oder, wie andere es nennen, sie waren Mitglieder der Kirche oder Gemeinde. All das gehört sich so nach ihrer Ansicht für einen anständigen Menschen. Die Jesuiten gehen noch weiter, indem sie sagen, dass alles zu Gottes höherem Ruhm gereiche. Das ist die angebliche Rechtfertigung ihrer herzlosen, skrupellosen und bösen Bestrebungen. Sie sind ihrem General zum unbedingten Gehorsam verpflichtet, wenn er erklärt, dass der Zweck jedes Mittel heiligt. Der General arbeitet nämlich nicht nur mit dem Papst zusammen, sondern auch als sein Stellvertreter, und ist ihm manchmal in seinen Entschlüssen weit voraus. Alles geschieht angeblich zur Vermehrung des Ruhmes ihres Herrn, des Papstes!
Kain hatte also seine eigenen Vorstellungen davon, auf welche Weise er Gott nahen könne, um Ihm zu huldigen. Er wird gedacht haben: „Es gibt nichts Schöneres als die Blumen und Früchte, die Gott in dieser herrlichen Welt gemacht hat.“ Doch es war bereits eine gefallene Welt, und die Menschen waren solche, die aus dem Paradies vertrieben worden waren. Wir schnell hatte er diese Tatsache und noch mehr den Anlass dazu vergessen! Kain dachte nicht mehr an die Sünde des aufsässigen Ungehorsams, der Gott genötigt hatte, das erste Menschenpaar aus dem Paradies zu verbannen. War es dann nicht seine religiöse Pflicht, das nach seiner Meinung Allerbeste der Erzeugnisse des Erdbodens als Opfer darzubringen? Sicher war er über das Opfer seines Bruders Abel entsetzt. „Was soll man bloß von ihm halten? Denkt nur, wie dumm er ist! Er will ein Lämmchen opfern und es gar für den Herrn töten! Was soll man dazu sagen? Wie grausam und schrecklich muss das für Gott sein! Was hat das Lämmchen denn verbrochen? Warum nimmt der denn von den Erstlingen der Herde und von ihrem Fett? Sicher hat er den Charakter des Herrn völlig missverstanden. Hat Er etwa Wohlgefallen an Blut oder Fett? Freut es Ihn etwa, wenn man ein armes, unschuldiges Tier schlachtet, dem Er die Existenz gab?“
Wir finden bei Kain im Einzelnen, was heute im Allgemeinen einen großen Teil der Vernunftgründe der Menschen ausmacht. Auf dieser Grundlage hat sich zu allen Zeiten die Naturreligion, die Religion des Fleisches in all ihren Formen entwickelt. Es ist eine Religion, die der Mensch sich selbst und anderen zurechtmacht und die er für Gott geziemend hält. Da aber der Mensch die einzige Quelle dieser Religion ist, enthält sie keinerlei göttliche Elemente, sondern nur menschliche Gedanken und Anmaßungen.
Und wie stand es mit Abel? Er hatte diese Dinge im Glauben gründlich erwogen und hatte zumindest die furchtbare Tatsache entdeckt, dass er in den Augen Gottes ein Sünder war. Denn wir können sicher sein, dass Abel durch seine Eltern von dem Urteil Gottes über den Sündenfall gehört hatte. Er hatte auch erfahren, dass Gott von einem Mittler gesprochen hatte, dem Nachkommen der Frau, der das Werk vollbringen würde, das kein Geschöpf zu tun vermochte: die Vernichtung der Schlange und ihrer feindlichen Nachkommenschaft. Doch mehr als das: Er hatte auch gehört, dass Gott seine Eltern mit Röcken von Fell anstatt mit Feigenblättern bekleidet hatte, und das war ihm nicht gleichgültig gewesen. Für Kain hatte das keine Bedeutung gehabt. Abel aber erkannte mit Sicherheit, dass darin eine große Wahrheit lag. „Das bedeutet den Tod!“ muss er sich gesagt haben. „Was muss es bedeuten, mit dem Ergebnis des Todes bekleidet zu sein! Und zwar nicht meines Todes, als dem Lohn der Sünde, sondern des Todes eines anderen, eines geheimnisvollen anderen!“ Denn wir sind davon überzeugt, dass der Herr in seiner Gnade auf die einzig mögliche Bekleidung für den gefallenen, sündigen Menschen und seiner Frau hingewiesen hatte, die trotz ihrer Schürzen aus Feigenblättern (der Bekleidung, die von der gefallenen Natur angelegt war) wegen ihrer Sünde in jeder Hinsicht nackt waren. Vor dem Sündenfall waren sie im Zustand der Unschuld nackt gewesen aber nun trat ihre vermessene Übertretung offen zutage. Ihr eiliger Versuch, diesen Fehltritt durch das Bekleiden mit Feigenblättern zu verdecken, verriet nur, dass ihre Ansicht auch nicht besser als die Kains war.
Gott allein brachte die Frage der Bekleidung für sie in Ordnung, und sie erkannten seine Maßnahme an: „Und Gott der Herr machte Adam und seiner Frau Kleider aus Fell und bekleidete sie“ (1Mo 3,21). Es war eine auf den Tod gegründete Bekleidung. Daher war Abel durch Glauben unterwiesen, diese Tatsachen miteinander zu verknüpfen und somit die Erstlinge seiner Herde darzubringen. Ohne Glauben ist es unmöglich, Gott wohlzugefallen. Der Glaube stützt sich auf das Zeugnis Gottes. Es steht uns nicht an zu entscheiden, wie weit Abel durch den Glauben geleitet wurde. So viel steht fest, dass er durch den Glauben Verständnis erlangte, Kain aber nicht. Sein Glaube mag gering gewesen sein, aber er umfasste klar alle bereits offenbarten Wahrheiten. Das ist stets die Hauptsache: Der Glaube muss eine Realität und von Gott gewirkt sein.
Der Glaube Abels war von großer Einfachheit, dafür aber voll geistlicher Einsicht. Er brachte von den Erstlingen seiner Herde ein Lamm dar, das sterben sollte. Es war kein Opfer, das Macht ausdrückte, die Schlange zu bezwingen, etwa ein Wolf, ein Löwe oder ein Bär; es war nur ein Lämmlein, das sterben musste. „Und der Herr blickte auf Abel und auf seine Opfergabe“ (1Mo 4,4). Er erblickte darin, was Er schon von Ewigkeit her sah, was sogar die Gläubigen damals nur undeutlich erkannten. Er sah „das Lamm ohne Fehl und ohne Flecken“, zuvorerkannt vor Grundlegung der Welt, aber offenbart am Ende der Zeiten in Christus um unsertwillen. So kommt hin und wieder ein Strahl der göttlichen Wahrheit zum Vorschein, und dazu bekannte sich Abel, indem er alle menschlichen Vorstellungen verwarf. Doch an Kain und seinem Opfer von der Frucht des Erdbodens konnte der Herr kein Wohlgefallen finden.
Es wurde bereits darauf hingewiesen, auf welche Weise Kain den ersten Anstoß für die Weiterentwicklung der Welt gab. Über die äußeren Handlungen hinaus gibt das Wort jedoch weitergehenden Andeutungen, dass Kain auch der Religionsstifter der Welt wurde. Um diese Tatsache scheint es dem Heiligen Geist ganz besonders im Judasbrief zu gehen. Dieser weist mehr als alle anderen einen inneren Zusammenhang mit dem ersten Johannesbrief auf, obwohl seine Art, Gegensätze einander gegenüberzustellen, mit dem zweiten Petrusbrief auffallend übereinstimmt. Die markante Ähnlichkeit zwischen dem ersten Johannesbrief und dem Judasbrief besteht darin, dass sich beide Briefe mit dem Abfall der Christenheit beschäftigen. Diese drohende, düstere Wolke am Horizont kennzeichnet beide. Sie zeigen die Wurzel des Bösen auf, die Wirksamkeit des Geistes der Abtrünnigkeit, des Vorboten des künftigen Abfalls. Im Brief des Apostels Johannes sind es die „vielen Antichristen“, die als Vorläufer „des“ Antichrists bereits auftreten. Vor dem, der in der Versammlung wohnt, konnten diese Anzeichen nicht verborgen bleiben.
Judas, der Bruder des Jakobus und „Knecht Jesu Christi“, spricht vom „Weg Kains“. Dieser Hinweis beschränkt sich nicht auf den verübten Mord an seinem Bruder. Er weist vielmehr (wie auch bei Bileam und Korah) auf das religiöse Böse hin, das den unmittelbaren Anlass für den Mord lieferte. Außerdem war Kain seinem Charakter nach ein verwegener, anmaßender und böser Mann. „Weil seine Werke böse waren, die seines Bruders aber gerecht“ (V. 12). Er war gerade der geeignete Mann, um der Gründer „der Welt“ und der fleischlichen Religion zu werden. Kein Wunder, dass er sich nicht damit begnügte, in seinem eigenen Haus zu leben. „Nein“, wird er gesagt haben, „Einheit macht stark! Wir müssen uns vereinigen“. Als ein Mann voller Energie fand er bald Menschen, die seine Meinung teilten. Sein Wille erwies sich mächtiger als der Ihre. Er erbaute als erster eine Stadt, und wir können überzeugt sein, dass er auch über diese Stadt herrschte, sobald sie sich weiterentwickelte. So ist der Mensch und sein Wille geartet: Er liebt die Macht. Das war auch bei Kain der Fall. Aber zuvor wandte er sich äußerlich der Religion zu, und das war der eigentliche offenbare Anlass zu seinem Niedergang. Denn damit brach er endgültig mit Gott; das furchtbare Resultat wird uns in diesem Brief vor Augen geführt.
Es ist in der Tat so, dass die Religion der Welt und ihre Zivilisation gut zueinander passen. Es ist unwahr, wenn böse Menschen behaupten, Adam und Eva seien Barbaren gewesen; das waren sie keinesfalls. Wer aber würde den Zustand, in dem sie sich befanden, als eine Stufe der Zivilisation bezeichnen? Nach dem Willen Gottes zu leben ist eine Wirklichkeit, die unvergleichlich hoch über jeder Zivilisation steht. Und wenn man an den Fortschritt denkt, dessen sich die Menschen rühmen: Was bedeutet er in den Augen Gottes, oder welchen Wert hat er für unsere Seele und unseren Geist?
Die Welt frohlockt in unseren Tagen über ihren Fortschritt. Er nahm damals bereits seinen Anfang. Bereits die Nachkommen Kains erfanden Blas- und Streichinstrumente zum Musizieren, allerlei Geräte und Schneidwerkzeuge aus Erz und Eisen und brachten damit Luxus und Bequemlichkeit in das irdische Dasein. Ohne die Kunst der Metallverarbeitung konnte es keinen Fortschritt geben, und so war Kains Familie schon bald eifrig in diesem Handwerk tätig. In den Tagen Lamechs wurde die Polygamie (Vielehe) eingeführt. Der erste Liedstrophe, der uns überliefert wird, war nicht Gott als Lob gewidmet, sondern den Frauen Lamechs. Er richtete ein kurzes Lied an Ada und Zilla, in Selbstrechtfertigung und Überheblichkeit, aber auch um sie hinsichtlich ihrer Befürchtungen zu beschwichtigen. In herausfordernder Art verdrehte er Gottes Aussage und meinte auch noch, dass Gott sein Tun gutheißen müsse. Wenn Kain siebenfach gerächt würde, dann Lamech gewiss siebenundsiebzigfach. Die Zusage Gottes an Kain wandte Lamech in stolzer Überheblichkeit auf sich selbst an. Das ist das Wesen dieser Welt, und das war der Charakter ihrer Religion schon in den frühesten Ansätzen.
In unserem Brief tritt die Wahrheit klar zutage: „und weshalb ermordete er ihn? Weil seine Werke böse waren, die seines Bruders aber gerecht.“ Die Schrift stellt den moralischen Zustand Kains und Abels fest, der sie kennzeichnete, bevor sie ihre Opfer darbrachten. Kains Werke waren „böse“, die seines Bruders aber „gerecht“. „Böse“ ist ein stärkerer Ausdruck als „schlecht“, er deutet auf eine Absicht und ein Leben im Bösen hin. Es handelt sich nicht nur um böse Taten, sondern um ein Weitergehen und Verharren im Bösen. Seine Werke waren böse, die seines Bruders dagegen gerecht. Das war bereits beider Herzenszustand, ehe der Anlass kam, der den Unwillen Kains erregte. Doch es ist lehrreich zu sehen, welches dieser Anlass war. Der Herr hatte Abel und sein Opfer angenommen, Kains Opfer aber verworfen. Das konnte Kain nicht ertragen. Sein Stolz bäumte sich dagegen auf, sein Zorn kannte keine Grenzen. Da er nichts gegen den Herrn persönlich unternehmen konnte, wandte er sich gegen seinen eigenen Bruder. Der Angriff war ganz klar gegen den Herrn gerichtet. Dass Gott ihn verworfen hatte, war in seinen Augen viel schlimmer als Abels Annahme, obwohl auch sie seine Wut hervorrief. Kain spürte in seinem Gewissen weder ein Empfinden der Sünde, noch ein Empfinden für Gott. Gott und die Sünde bedingen sich im Bewusstsein des Menschen gegenseitig. Denn das Gefühl, gesündigt zu haben, führt jemand in Gottes Gegenwart, und zwar vor Ihn als den Richter der Sünde. Was muss daher in seinen Augen unsere Schuld zur Folge haben? Doch gibt es denn kein Erbarmen für den Sünder? Ja, seine Barmherzigkeiten sind nie zu Ende. Der Gläubige weiß das, und Israel wird es gewisslich durch seine Gnade noch erfahren. Kain hatte nie daran geglaubt; so kam er von der Verstocktheit zur Verzweiflung. Da er böse in sich selbst war, hatte er keine Vorstellung von der Güte Gottes, die Er selbst einem bösen Menschen erweist, wenn er sich auf den Ruf der Gnade zu Ihm wendet. Das eine wusste er sehr gut: Würde ihn selbst jemand beleidigen, so hätte dieser kaum mit seiner Barmherzigkeit zu rechnen. Und da er niemals das Bedürfnis nach einem Heiland empfunden hatte und auch kein Vertrauen zu Gottes Gnadenratschluss in dem Nachkommen der Frau besaß, beurteilte er Gott nach seinen eigenen Gedanken. Er meinte, Gott würde, wie er selbst oder in noch schlimmerer Weise, dem Schuldigen gegenüber unbarmherzige Strenge walten lassen.
In den nächsten Versen kommt dies zur Anwendung. „Wundert euch nicht, Brüder, wenn die Welt euch hasst“ (V. 13). Diese Änderung der Anrede ist sehr bedeutsam. Wir finden allgemein die Anrede „Kinder“, zweimal „Kindlein“, dann „Geliebte“, hier aber den Ausdruck „Brüder“. Es ist nicht schwer zu erkennen, wie passend jeder dieser Ausdrücke an seiner Stelle ist. Der Apostel will über die Liebe zu den Brüdern sprechen; so bezeichnet er sie jetzt entsprechend als „Brüder“. Wir sollten niemals gedankenlos über ein Wort der Schrift hinweglesen, sondern zu verstehen suchen, warum Gott gerade dieses Wort und kein anderes verwendet. Der Glaube kann bestätigen, dass das Wort in dieser Anwendung stets von größtem Nutzen ist. Dabei dürfen wir nicht die Unzuverlässigkeit des Menschen und deren Folgen vergessen, durch die es manchmal zu einer falschen Wortwahl bei Übersetzungen gekommen ist. Wir können uns das Einschleichen solcher Fehler erklären und haben im Allgemeinen genügend Anhaltspunkte zu ihrer Richtigstellung, wenn das auch nicht in jedem Fall möglich sein wird.
Was in diesen Versen steht, ist sehr einfach zu verstehen. „Wundert euch nicht, Brüder, wenn die Welt euch hasst.“ Wer waren denn die, die diese Welt bildeten? Und wer waren diese Hasser, die der Apostel insbesondere im Sinn hatte? Zumindest in der Hauptsache die, die einst in der Gemeinschaft der Versammlung standen, diese aber dann verlassen hatten. Das sind stets die schlimmsten Gegner. Menschen, die die Wahrheit aufgeben, hassen dann nicht nur die Wahrheit in besonderer Weise, sondern auch die, die an dieser Wahrheit festhalten. Sie können beide nicht ertragen, und warum? Aus denselben Gründen, aus denen Kain es auch nicht vermochte. Sie fühlen sich durch sie verurteilt. Nichts fordert einen Abtrünnigen so heraus wie der Gedanke, dass er verurteilt wird. Er versucht, jeden Verdacht bezüglich seiner eigenen Verderbtheit weit von sich zu weisen, weil er durch den Feind völlig verblendet ist. Da er sich der Lüge Satans ausgeliefert hat, teilt er auch dessen mörderische Gesinnung.
So ist der Geist der Welt beschaffen, besonders in denen, die die Wahrheit, die sie einst bekannten, preisgegeben haben und die in diesem ganzen Brief eine so traurige Rolle spielen. Sie hatten einst – so schien es jedenfalls – der Welt den Rücken zugekehrt; nun kehrten sie zu derselben Welt zurück, die sie einst äußerlich verurteilt hatten. Es war nur eine oberflächliche Trennung von ihr. Die Bindungen waren nie wirklich gelöst worden. Nun gingen sie dorthin zurück, wohin ihre alten Zuneigungen sie lockten, da die Wahrheit das Neuartige für sie verloren hatte und sie nicht mehr anzog. Der Name Jesu hatte ihr Herz nie für Gott gewonnen, obwohl er selbst auf Unbekehrte oft einen sichtbaren Einfluss ausübt. Ich möchte darauf hinweisen, welche bemerkenswerte Wirkung der Heiland selbst auf Menschen ausübt, die durch und durch weltlich sind. Denken wir einmal an die Künstler. Frömmigkeit ist gerade nicht das Merkmal, das sie als Klasse von den anderen Menschen unterscheidet. Im Gegenteil sind sie oft ganz besonders der Befriedigung ihrer Sinne und Süchte und jeder Art von Lust zur Welt hingegeben.
Wir wissen natürlich, dass es nicht wenige christliche Maler gegeben hat. Da diese Tatsache unbestritten ist, möchte ich nicht alle Maler als zu einer Klasse gehörig hinstellen. Unser ausgezeichneter Freund, der Dichter William Cowper, hatte von seinen Dichterkollegen eine sehr schlechte Meinung. Er sagte, die Dichter seien in der Regel eine „schlechte Gesellschaft“; und niemand war wohl mehr berechtigt, sie zu charakterisieren, als Cowper. Obwohl er ein echter Dichter war, hielt er sich aus den Kreisen seiner nicht liebenswerten Dichterkollegen völlig heraus und war froh, mit ihnen keinerlei Gemeinschaft zu haben. Dichter neigen wie die Maler dazu, der Eitelkeit der Männer und Frauen zu schmeicheln. Tatsächlich leben viele davon, denn Eltern zum Beispiel lieben schmeichelhafte Bilder von ihren Kindern. Doch selbst die Maler wurden, sogar äußerst stark, durch die Lehre des Herrn Jesus beeinflusst.
Wer die Bildhauerkunst des Altertums kennt, wird zugeben müssen, dass die Skulpturen der Griechen ausgesprochen sinnlich waren. Sie entsprachen ihrer eigenen Einstellung. Doch die Malerei des Mittelalters, besonders die berühmten Gemälde der späteren Zeit, die bis in unsere Tage erhalten geblieben sind, waren in überraschender Weise vom Christentum geprägt, trotz der mangelhaften Darstellung Christi unter dem Papsttum. Sie unterschieden sich grundlegend von der Kunst des Altertums. Etwas von heiliger Schönheit strahlt aus diesen Gemälden wider, soweit ein Weltmensch sie überhaupt darstellen kann. Man findet die Ergebenheit der Demut und die Abhängigkeit von dem unsichtbaren Gott treffend zum Ausdruck gebracht. Auch wird die Frau nicht mehr als Verlockung für den Mann dargestellt, und umgekehrt auch nicht der Mann in seinem Begehren und seiner Lust. Keine Spur mehr von Aphrodite und Apollo, die die Griechen anstachelten, sich in den sinnlichen Dingen zu verderben. Die Darstellung der Jungfrau mit dem Kind zeugt von einer Huldigung dem Reinheitsideal gegenüber, die es bis dahin unter den Weltmenschen nicht gegeben hatte. Ich möchte selbstverständlich nicht den Eindruck erwecken, als ob ich diesen Darstellungen tiefere Bedeutung beimesse. Im Gegenteil zeigte sich das böse Herz des Menschen darin, dass er durch die Vergötterung der Mutter den Sohn Gottes entehrte. Es war der machtvolle, doch nur äußerliche Einfluss des Namens Jesu auf Menschen, die sich nicht über ihre Natur erheben konnten und keinen wahren Glauben an den Vater und den Sohn besaßen.
Wir brauchen daher nicht überrascht zu sein, dass solche, die sich in Selbsttäuschung der Kirche anschlossen, durch alles, was sie umgab, und durch den geistlichen Einfluss des gepriesenen Namens Jesu tief beeindruckt wurden. Doch ging der Einfluss nicht tiefer, nur ihre Sinne wurden davon ergriffen. Christus war nicht ihr Leben geworden, sonst hätten sie Ihn nie verlassen, und noch viel weniger hätte Er sie verlassen: „denn wenn sie von uns gewesen wären, so würden sie wohl bei uns geblieben sein“ (2,19). Und was war die Folge, wenn sie nicht in der Mitte der Gläubigen blieben? Sie wurden allmählich immer unversöhnlicher, besonders als die Gläubigen sich wegen ihrer Abtrünnigkeit weigerten, sie zu den Christen zu zählen. „Wundert euch nicht, Brüder, wenn die Welt euch hasst“. Sie gehörten zu der Welt Kains, die stets mit religiöser Anmaßung begann und mit Mord endete.
Doch dann zeigt Johannes den unmittelbaren Gegensatz dazu: das wahre Christentum. „Wir wissen, dass wir aus dem Tod in das Leben hinübergegangen sind, weil wir die Brüder lieben; wer [den Bruder] nicht liebt, bleibt in dem Tod“ (V. 14). Das ist ein Satz, der umso stärker ins Gewicht fällt, weil er die unmittelbare Verbindung zu Stellen im Evangelium herstellt, die von größter Bedeutung sind. In Johannes 5,24 spricht der Herr selbst diese Worte (im letzten Satzteil des Verses), ohne das nachdrückliche wir und ohne auf den einzelnen Gläubigen Bezug zu nehmen: „Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wer mein Wort hört und dem glaubt, der mich gesandt hat, hat ewiges Leben und kommt nicht ins Gericht, sondern ist aus dem Tod in das Leben übergegangen. Welchen Segen haben diese wunderbaren Worte schon vielen Menschen gebracht!
Wir dürfen uns allerdings nie zu sehr von scheinbar ähnlichen Stellen in der Schrift beeinflussen lassen. Man sagt, dass sich der kluge Kopf darin erweist, selbst dort Ähnlichkeiten zu finden, wo Unterschiede bestehen, zur Überraschung und zum Vergnügen der anderen. Es gibt aber etwas besseres, als einen klugen Kopf zu haben, und das ist ein gesundes Urteilsvermögen. Dieses zeigt sich oft darin, Unterschiede bei Dingen festzustellen, die ähnlich zu sein scheinen. Das ist gerade das Gegenteil von Schlauheit, und darin versagen die Menschen im Allgemeinen.
Worin liegt also der Unterschied zwischen den beiden angeführten Texten? Zeigt der Herr dort nicht, dass ein Mensch durch den Glauben an Gottes Zeugnis über seinen Sohn ewiges Leben erhält und nicht ins Gericht kommt, was zwangsläufig das Teil jedes Menschen ohne Christus ist? Denn wer in das Gericht kommt, wird ihm in Wahrheit nie wieder entfliehen können. Der Grund ist verständlich, denn „Gericht“ bedeutet, dass man das empfängt, was man verdient hat. Was haben du und ich denn wirklich verdient? Waren wir nicht schuldig, unfähig, das Gute zu tun, und gottlos, ehe wir durch die Gnade gerettet wurden? Denke daher nicht, dass jemand so, wie er ist, in das Gericht gehen und wieder herauskommen kann. Nein, es gibt für ihn nur den Weg in den Feuersee.
Aber mit denen, die glauben, handelt Gott nicht so. Sie haben ewiges Leben und kommen nicht ins Gericht. Das bedeutet nicht nur, dass sie nicht in die „Verdammnis“ kommen; denn dieses Wort drückt nicht den Gedanken aus, der in dem Wort „Gericht“ liegt. Der Herr spricht eindeutig davon, dass der Gläubige nicht ins Gericht kommt, denn Er hat selbst das Gericht über unsere Sünden auf dem Kreuz getragen. Die Vorstellung, Gericht mit dem ewigen Leben zu verbinden, wäre ungeheuerlich und völlig sinnlos. Um die Gnade noch stärker zu betonen, sagte Er, dass der Betreffende „aus dem Tod in das Leben übergegangen“ sei. Der Tod war sein Zustand als Verlorener, jetzt besitzt er das Leben des Herrn Jesus. Dieser Wechsel hat für den Gläubigen bereits hier stattgefunden, allerdings noch nicht für den Leib; dieser wird in der Auferstehung des Lebens verwandelt werden, wie Johannes 5,29 uns bezeugt.
Vers 24 ist somit ein sehr segensreiches Wort für den armen Sünder, der gern wissen möchte, wie er ewiges Leben empfangen kann. Doch davon ist in unserem Brief gar nicht die Rede. Es geht hier nicht darum, zu glauben, um diese Segnung zu erlangen. Hier heißt es, dass wir (die Brüder) wissen und, indem wir die Brüder lieben, den praktischen Beweis liefern. Dies wäre ohne das ewige Leben, die göttliche Natur, die allein gottgemäß liebt, nicht möglich. Daher betont der Apostel das wir mit solchem Nachdruck und meint damit nur die Brüder in Christus. Der Unterschied zu Johannes 5,24, ist somit unverkennbar. Das Wort wir hat natürlich nicht immer diesen Sinn; der Textzusammenhang allein entscheidet, wer mit wir gemeint ist. Das Fürwort wir wird nämlich in der Schrift so unterschiedlich angewandt, dass es nur Unkenntnis seines jeweiligen Gebrauchs verriete, würde man eine Regel über seine gleichbleibende Bedeutung aufstellen. Hier ist das wir betont: „Wir wissen [ganz bewusst], dass wir aus dem Tod in das Leben hinübergegangen sind, weil wir die Brüder lieben“. Wie deutlich fällt uns der Unterschied auf, wenn wir beide Texte aufmerksam vergleichen.
Was weiß der Ungläubige über diesen Wechsel? Wie könnte er überhaupt etwas darüber wissen? Der Ungläubige ist tot in Sünden und geht in das Gericht. Nur der Glaube empfängt die Segnung, die Christus hier mitteilt. Doch die Brüder lieben einander, da sie zur Familie Gottes gehören und bereits geglaubt haben. Wir werden daher nicht an dieser Stelle aufgefordert zu glauben. Es wird vorausgesetzt, dass wir, die hinsichtlich des ewigen Lebens geglaubt haben, unsere Brüder lieben. Die Tatsache, dass wir aus dem Tod in das Leben hinübergegangen sind, wird durch unsere Liebe bestätigt. Wir haben diese bewusste Kenntnis und müssen sie auch haben, im Gegensatz zu jenen, die ohne jede göttliche Liebe ein leeres Wissen zu einer hohen Theorie erhoben. Von allen Menschen auf der Erde haben nur Gläubige, nur Brüder im Herrn, nur wir das Vorrecht, sagen zu können, dass wir aus dem Tod in das Leben hinübergegangen sind, weil wir die Brüder lieben. Diese Bruderliebe ist das Zeugnis und der praktische Beweis dafür. Nur der Glaube hat uns durch die Gnade Christi in diese gesegnete Stellung versetzt. Wir haben weder das ewige Leben empfangen, noch sind wir aus dem Tod in das Leben hinübergegangen aufgrund unserer Liebe zu den Brüdern. Ehemals hassten wir die Brüder, da wir tot in Sünden waren. Erst als wir Gott glaubten, gingen wir aus dem Tod in das ewige Leben über und lernten dann die Brüder kennen, um sie von da an für immer zu lieben.
Der Apostel stellt daher mit den Worten: „Wer [den Bruder] nicht liebt, bleibt in dem Tod“ ein Axiom des Christentums auf, das heißt einen unwiderlegbaren Grundsatz, der keines Beweises bedarf. Welch ernste Schlussfolgerung ist daraus zu ziehen! Jeder, der diese Liebe nicht hat, besitzt weder das Leben noch ist er aus dem Tod hinausgegangen. Warum aber sagt Johannes „Bruder“? Es ist eine abstrakte Feststellung, die sich auf sein Bekenntnis gründet. Der Apostel liebt solche Aussagen, die von übertrieben genauen Menschen peinlichst vermieden werden. Er begnügt sich keineswegs mit Theorien. Er begegnet jedem auf dem Boden seines Bekenntnisses und bezeugt, dass der, im Tod bleibt, der den Bruder nicht liebt. Er beweist gerade durch seinen Hass, dass er kein wahrer Bruder Ist. Man beachte die Schärfe seiner Ausdrucksweise! Er sagt nicht nur, dass ein solcher tot ist, sondern dass er im Tod bleibt. Was er auch immer bekannt haben mag, er war stets geistlich tot und bleibt auch im Tod. Der Beweis dafür ist, dass er nie den geliebt hat, den er als ein Glied der Familie Gottes zu lieben berufen war. Er hatte keine Liebe; hätte er wirklich das Leben Christi in sich gehabt, so hätte er auch die Liebe besitzen müssen.
Sodann geht der Apostel noch einen Schritt weiter: „Jeder, der seinen Bruder hasst, ist ein Menschenmörder“ (V. 15). Er steigert damit erheblich die Schärfe seiner Worte. Es geht jetzt nicht nur um einen Menschen, der nicht liebt, sondern um jemand, in dessen Herz der Hass ausdrücklich wirkt. Durch seine Worte und sein ungezügeltes Betragen verrät er seinen Hass und wird somit als ein „Menschenmörder“ bezeichnet. Der Apostel stößt hier bis zur Wurzel des Bösen vor. Da jener Mensch bei der Prüfung seiner Gesinnung Hass erkennen lässt, ist er im Prinzip ein Mörder. Ebenso nennt der Herr den Mann dem Grundsatz nach einen Ehebrecher, der unerlaubter Begierde frönt, anstatt sie zu verurteilen, sich ihrer zu schämen und sich ihretwegen zu beugen. Gott beschäftigt sich mit dem Herzen und nicht nur mit dem Äußeren des Christen. Die Vorgänge im Inneren sowohl wie das, was sich nach außen zeigt, kennzeichnen den christlichen Bekenner, vor einem weltlichen Gerichtshof würde das natürlich nicht anerkannt und wäre unmöglich. „Und ihr wisst dass kein Menschenmörder ewiges Leben in sich bleibend hat.“ Hier finden wir das genaue Gegenteil von Christus und die höchste Angleichung an das Wesen des Teufels. Entspricht das nicht völlig unserem Widersacher, dem Lügner und Mörder von Anfang an? „Hieran haben wir die Liebe erkannt, dass er für uns sein Leben hingegeben hat“ (V. 16). Es heißt nicht „die Liebe Gottes“; der genaue Schrifttext lautet nur „Liebe“. Der Zusatz „Gottes“ (in der Authorized Version) wurde mit guter Absicht eingefügt, doch es ist besser, bei der einfachen Wahrheit zu bleiben, dass „er sein Leben für uns hingegeben hat“. Hier ist das Er wieder bemerkenswert. Zweifellos handelt es sich auch um die Liebe Gottes; aber Johannes vermengt absichtlich die Bezeichnungen „Gott“ und „Christus“ miteinander, obwohl allein Christus sein Leben für uns hingegeben hat. Wir haben das in unseren früheren Betrachtungen wiederholt gefunden. Diese Tat Christi ist der große und unwiderlegbare Beweis unendlicher Liebe, einer Liebe, die ganz klar aus Gott kam, aber von Christus allein offenbar gemacht wurde. Er legte sein Leben für uns dar.
Es wäre reine Illusion und zeigte, dass man die Macht dieses Todes nicht begriffen hätte, wenn man ihn vergleichen wollte mit dem Sterben eines Menschen, der sich aus großer Zuneigung zu seinem Freund opfert oder sein Leben einsetzt, um einen Fremden zu retten. Betrachte Ihn doch, den, der so für uns starb! Der Mensch wurde, um auf eine äußerst schreckliche Weise leiden und sterben zu können, und das für uns, die wir verloren waren und nichts als Sünden aufzuweisen hatten! „Auch wir sind schuldig, für die Brüder das Leben hinzugeben“. Sein Leiden brachte Ihn in unergründliche Tiefen; nichts könnte diesen Leiden in irgendeiner Weise gleichkommen. Trotzdem ist sein Tun das Vorbild für die Seinen, natürlich unter Ausschluss der sühnenden Seite. Doch gibt es sonst Grenzen dafür, Ihn nachzuahmen? Die Liebe ist uns gegeben, damit wir durch sie alle Schwierigkeiten überwinden. Die Liebe, die Gott zu uns hatte, als wir noch in unseren Sünden waren, ruft in uns die Liebe zu Gott sowie zu seinen Kindern, unseren Brüdern, hervor. Und „wir sind schuldig“, unser Leben hinzugeben. Johannes sagt nicht: Wir legen unser Leben dar, obwohl es Gläubige gegeben hat, die nicht nur um Christi willen, sondern auch für ihre Brüder gestorben sind. Aber Johannes begnügt sich damit, zu sagen: „wir sind schuldig“. Unsere Liebe, die aus Gott ist, befähigt uns dazu. Und falls unser Sterben von wirklichem Nutzen für unseren Bruder wäre, sollten wir auch dazu bereit sein. Es wird jedoch selten ein solch außergewöhnlicher Fall eintreten, in dem der Einsatz des Lebens von uns gefordert wird.
Wir werden aber auch belehrt, dass genügend praktische Gelegenheiten an unser Herz appellieren, ohne dass es dazu kommen muss, diesen extremen Beweis unserer Liebe liefern zu müssen. Wir brauchen nicht weit zu gehen, um Bedürfnisse zu finden, die nach der Betätigung der Liebe in unseren Herzen verlangen. Denken wir nur an die alltäglichen Dinge. Es wird uns auf der Erde wohl kaum der Fall begegnen, unser Leben für die Brüder darlegen zu müssen. Aber man trifft sehr häufig auf natürlichen Mangel, und wir wissen auch meistens, worin unsere Aufgabe besteht: Einem Bruder oder einer Schwester in ihrer großen Not zu helfen. Was empfindest du in einem solchen Fall? Wie geht unsere Liebe auf die Leiden des armen Bruders oder der Schwester ein? „Wer aber irgend irdischen Besitz hat und sieht seinen Bruder Mangel leiden und verschließt sein Herz vor ihm, wie bleibt die Liebe Gottes in ihm?“ (V. 17). Das Wort „sehen“ hat hier die tiefere Bedeutung von betrachten, ins Auge fassen, wahrnehmen; man erfasst die Not des Bruders mit einem klarem Blick. Er hat vielleicht nicht die geringste Andeutung gemacht, hat nicht geklagt und seine Schwierigkeiten niemand anderem gegenüber erwähnt. Dieses Schweigen sollte ein umso stärkerer Appell an unsere Herzen sein. Der Bruder hat seine Last ohne Murren getragen; die Schwester hat darin ausgeharrt und Gott allein ihre Not geklagt. Unsere Augen nehmen das wahr, blicken auf die Bedrängnis unseres Bruders, und doch zögern wir zu helfen. Man hat die Mittel, mit denen man ihm helfen und seine Not lindern kann, doch stattdessen verschließt man sein Herz, sein Innerstes vor dem, der so leiden muss. „Wie bleibt die Liebe Gottes in ihm?“ Der Apostel setzt diese Worte still und behutsam, doch zugleich ernst und herzerforschend hinzu. Er fordert mich nicht auf, für den Bruder zu sterben; er bittet mich aber ernstlich, meine Liebe mit den Mitteln, die über meine wirklichen Bedürfnisse hinausgehen, jemandem zu erweisen, der unter Kälte, Hunger, Krankheit oder anderen Nöten leidet. Man kann oft die Not des Bruders erleichtern, und man tut es doch nicht; „wie bleibt die Liebe Gottes in ihm?“
Liebe ist die Triebfeder der Natur Gottes, und sie ist es auch in der neuen Natur seiner Kinder. Sie muss ständig zu anderen ausströmen, nicht nur bei besonderen Anlässen, sondern in den geringsten Dingen des Lebens. Möge uns die überaus treffende Ausdrucksweise des Apostels nicht entgehen. In Vers 16 sprach er nur von „Liebe“; das genügte dort völlig, denn aus den nachfolgenden Worten ging deutlich hervor, dass es die Liebe dessen ist, der sein Leben für uns hingegeben hat. In Kapitel 2 fanden wir nicht nur die „Liebe“, die im Gegensatz zur Welt steht, auch nicht die „Liebe Gottes“, sondern die „Liebe des Vaters“. Aber in diesem Abschnitt hätte der Ausdruck „Liebe des Vaters“ nicht den richtigen Platz. Hier haben wir die „Liebe Gottes“, die Er selbst dem Geringsten seiner Geschöpfe entgegenbringt, und die sein Kind so ernst tadeln muss, wenn es sein Herz vor seinem geprüften Bruder verschließt.
Zum Schluss möchte ich noch auf die verschiedenartigen Anwendungen des Todes Christi in Kapitel 3 hinweisen. In Vers 5 sehen wir Ihn offenbart, damit Er unsere Sünden wegnehme; in Vers 8 wurde Er offenbart, damit Er die Werke des Teufels vernichte; und in Vers 16 schließlich hat Er sein Leben für uns dargelegt und uns seine Liebe erwiesen als einen Maßstab für unsere Liebe. All dieses ist in seinem Tod vereint zum Ausdruck gekommen, wie wir es noch eingehender auch in Hebräer 2,9.10.14.17 finden.