Einleitung
Der Brief erklärt sowohl durch den Absender als auch durch seinen Inhalt seine Besonderheit. Er richtet sich an die zwölf Stämme, die in der Zerstreuung waren, nicht an die auserwählten Fremden der Zerstreuung, sondern an die Masse des alten Volkes des Herrn. Auch im Gefühl und in der Ausdrucksweise des Apostels Paulus ist dies nicht ganz ohne Beispiel; denn bei seiner Rede vor König Agrippa und Festus, dem Prokurator von Judäa, spricht er von unserem zwölfstämmigen Volk, das unablässig Nacht und Tag Gott dient, in der Hoffnung, die Verheißung zu erlangen, die Gott den Vätern gegeben hat (Apg 26,7). Es gibt also, wie bemerkt wurde, eine auffallende Übereinstimmung zwischen dem Alten und dem Neuen Testament darin, dass ein Buch im Neuen als Zeugnis für Israel gewidmet ist, wie eines im Alten (Jona) in ähnlicher Weise der großen heidnischen Stadt jener Tage (Ninive) gewidmet ist, beides außergewöhnlich und die Regel bestätigend.
Daher sind in diesem Brief nur Aufforderungen (4,1.4.9; 5,1‒6) an Ungläubige in Christus oder unbekehrte Juden zu finden, durchsetzt damit, dass die Juden, die glaubten, angesprochen werden (2,1.5.14; 3,1.13.17; 5,7.8). Es gibt keine Zweideutigkeit in Bezug auf sein eigenes Bekenntnis zum Messias. Vom ersten Vers des Briefes an nennt er sich nicht nur Knecht Gottes, sondern auch Knecht des Herrn Jesus Christus; und er beginnt mit der Glückseligkeit, Prüfungen oder heilige Versuchungen zu ertragen, in einer Weise, die eindeutig auf Juden-Christen zutrifft, während er in Kapitel 2 und danach noch weiter vor Sünden warnt, die über das bloße Bekenntnis der Gläubigen hinausgehen.
In seiner Gesamtheit besteht der Brief von Anfang bis Ende aus Ermahnungen; sogar seine Lehre bezieht sich eng auf moralische Wege wie in Jakobus 1,13‒15.16‒21; 3,5‒8.15–18. Jakobus ist in erster Linie ein Lehrer der Gerechtigkeit; und er wurde von Gott in Jerusalem gebraucht, um den Übergang zwischen dem alten Zustand, der im Begriff war, zu enden, und dem Christentum, das unter den Heiden einfacher und vollständiger bekannt war, zu begegnen. Dementsprechend entwickelt seine Lehre, obwohl sie ebenso wahrhaftig von Gott inspiriert ist, wie die des Paulus, nicht die Erlösung an sich, ihre Quelle, ihre Ziele oder ihre Wirkungen, sondern verbindet sich mit der neuen Geburt und dem Leben, das wir von Gott durch das Wort der Wahrheit haben, im Gegensatz zu Ausbrüchen des Temperaments und der Zunge, die das Wirken der gefallenen Natur sind.
Daher hebt niemand deutlicher als Jakobus „das Gesetz der Freiheit“ (1,25; 2,12), was in der Tat seine eigene Formulierung ist, im offensichtlichen Gegensatz zum Buchstaben und seiner Knechtschaft hervor. Das setzt, wie wir sehen werden, das neue Leben voraus, das Gottes Gnade dem Gläubigen schenkt und das seine Freude an den Dingen findet, die Ihm gefallen, wie es sich in seinem Wort zeigt.
Es gibt auch nicht die geringste Entschuldigung dafür, sich einen Widerspruch zwischen den Lehren von Römer 3 und 4 und Jakobus 2 über den Glauben vorzustellen, wie verbreitet der Gedanke damals wie heute auch war. Der Gegenstand, den jeder Schreiber vor Augen hat, ist völlig unterschiedlich. Der Apostel Paulus legt den Gläubigen in Rom dar, wie ein gottloser Mensch gerechtfertigt wird, und erklärt, dass das durch den Glauben geschieht. Der Apostel Jakobus legt den zwölf Stämmen dar, dass ein toter Glaube ohne Werke eitel ist und dass der einzige Glaube, der wirklich zählt, der ist, der sich in einer Weise zeigt, die Gott verherrlicht. Lebendiger Glaube bringt lebendige Werke hervor. Er entlarvt die Wertlosigkeit einer intellektuellen Annahme des Evangeliums, die sich schon damals unter den Juden entwickelt hatte. Wir sehen das gleiche Prinzip während des Dienstes unseres Herrn und seine Verwerfung eines solchen Glaubens (siehe Joh 2,23‒25; 6,66; 15). Die gleiche Wahrheit fehlt auch nicht im Römerbrief (siehe 1,18 ‒ letzte Hälfte ‒ und 2,5–11). Wer nicht in den Wegen und durch das Wort und den Geist Gottes wandelt, dem fehlt es an einem lebendigen Glauben: „Denn wenn ihr nach dem Fleisch lebt, so werdet ihr sterben; wenn ihr aber durch den Geist die Handlungen des Leibes tötet, so werdet ihr leben“ (Röm 8,13). So gründlich ist der große Apostel der Heiden eins mit dieser Säule der Beschneidung, wenn die Gelegenheit eines Gott wohlgefälligen Lebenswandels gerade in dem Brief erwähnt wird, den unwissende Eile für einen Gegensatz hält. Die ganze Wahrheit Gottes ist in Harmonie miteinander, sei es lehrmäßig oder ethisch, wie es dieser Brief in hervorragender Weise ist.
Es mag gut sein, hinzuzufügen, dass, ungeachtet der Zweifel von Alford, Neander und anderen, der Schreiber kein anderer war als Jakobus „der Kleine“, der Sohn des Alphäus oder Kleopas (wirklich derselbe aramäische Name, der etwas anders ins Griechische übertragen wurde): derselbe Mann, der nach dem Märtyrertod des Sohnes des Zebedäus die Führung übernahm, wie es in der Apostelgeschichte deutlich wird (12,17; 15,13; 21,18; vgl. 1Kor 15,7 und Gal 2,9.12). Seine Worte und Wege stehen an anderer Stelle in auffallender Übereinstimmung mit seinem Brief. Geduld und Reinheit, Liebe und Demut charakterisieren den Apostel und sein Schreiben für den Bereich, in dem er arbeitete. Es ist bemerkenswert, dass seine Sprache und sein Stil ein ausgezeichnetes Griechisch mit großer Energie sind. Doch das Werk, das ihm im Herrn gegeben wurde, war nicht die Entfaltung der göttlichen Ratschlüsse oder das Betonung der Erlösung, sondern die dringende Bekräftigung der sittlichen Beständigkeit Tag für Tag, in Zuneigung, Rede und Wandel, derer, die dazu berufen sind, geduldig die verschiedenen Versuchungen dieser Welt zu ertragen. Dies wird solchen Menschen zuteil, die nach der Krone des Lebens trachten, da sie bereits von Gott durch das Wort der Wahrheit nach seinem souveränen Willen gezeugt wurden.
Kapitel 1
Der Absender, den der Schreiber gewählt hat, verdient unsere Beachtung:
Jakobus, Knecht Gottes und des Herrn Jesus Christus (1,1a).
Er drückt seine absolute Hingabe sowohl an Gott als auch an den Herrn Jesus Christus aus. Er war beiden gleicherweise verpflichtet. Er ehrte den Sohn genauso wie den Vater. Er bekannte sich von Anfang an zu seiner uneingeschränkten Unterordnung unter beide. Das war genau das, was die Israeliten, an die er schrieb, am meisten brauchten. Er suchte ihrer aller ewiges Wohl, wie der Stil seiner Adresse bezeugt: den zwölf Stämmen, die in der Zerstreuung sind, seinen Gruß (1,1b).
Das letzte Wort erinnert uns an den Brief, den die Apostel und Ältesten mit der ganzen Versammlung an die Brüder aus den Nationen schickten, um die christliche Freiheit zu verteidigen (Apg 15). Aber hier ist der Brief nur an das alte Volk Gottes in seiner Gesamtheit gerichtet, das sich nun eine lange Zeit im Zustand der Zerstreuung befand. Denn die Rückkehr aus Babylon hatte dies nicht verhindert, da nur eine kleine Minderheit aus der Gefangenschaft zurückgekehrt war. Er schrieb an alle zwölf Stämme, da sie aus der Beschneidung waren, sogar noch umfassender als Petrus, als er seine beiden Briefe an die Fremdlinge in der Zerstreuung in Kleinasien richtete. Denn er qualifizierte sie mit Begriffen des lebendigen Christentums: „auserwählt nach Vorkenntnis Gottes, des Vaters, durch Heiligung des Geistes, zum Gehorsam und zur Blutbesprengung Jesu Christi“ (1Pet 1,1.2). Eine solche Einschränkung taucht hier nicht auf, obwohl Jakobus ohne Vorbehalt seinen eigenen, sich selbst verleugnenden Dienst für den Herrn Jesus Christus nicht weniger als für Gott bekennt und den lebendigen Glauben an Ihn bei denen feststellt, an die er schreibt.
Aber der Brief ist vom Charakter her moralisch und ermahnend, er stützt seine Appelle nicht wie die Apostel im Allgemeinen auf eine Entfaltung der Gnade und Wahrheit, sondern offenbart hier und da die souveräne Güte, die von oben herabkommt, von dem Vater der Lichter, der allein verlässlich ist in einer Welt der beständigen Veränderung, und der uns durch das Wort der Wahrheit lebendig gemacht hat und denen, die Ihn lieben, die Krone des Lebens verheißen hat.