Behandelter Abschnitt Heb 12,1-3
Nun folgt der deutlich ermahnende Teil des Briefes, obwohl wir fast von Anfang an Ermahnungen eingestreut haben. Aber von nun an überwiegt er bei weitem, mit wichtigen Worten der Belehrung auch in den beiden Schlusskapiteln. Das Ziel ist durchweg, den Glauben derer zu vertiefen, die an religiöse Anschauungsobjekte gewöhnt sind, die Seelen durch das Wort und den Geist Gottes im Unsichtbaren und Himmlischen zu verankern und die Herrlichkeit Christi in Person, Werk und Amt zu entfalten. Daher wird Er hier nicht wie zuvor als Gegenstand des Glaubens vorgestellt, sondern als Anführer, Fülle und Krone aller, die von Anfang an den Weg des Glaubens hier auf der Erde beschritten haben.
Deshalb nun, da wir eine so große Wolke von Zeugen um uns haben, lasst auch uns, indem wir jede Bürde und die leicht umstrickende Sünde ablegen, mit Ausharren laufen den vor uns liegenden Wettlauf, hinschauend auf Jesus, den Anfänger und Vollender des Glaubens, der, die Schande nicht achtend, für die vor ihm liegende Freude das Kreuz erduldete und sich gesetzt hat zur Rechten des Thrones Gottes. Denn betrachtet den, der so großen Widerspruch von den Sündern gegen sich erduldet hat, damit ihr nicht ermüdet, indem ihr in euren Seelen ermattet (12,1–3).
Die Zeugen, die um uns her sind, sind die, die in den vorangegangenen Kapiteln beschrieben und zusammengefasst wurden, nicht Zuschauer von uns, wie sich manche das vorstellen, sondern Menschen, die aufgrund des Glaubens ein Zeugnis von Gott erhalten haben. Hier und da, hauptsächlich aus dem auserwählten Volk, aber sorgfältig gezeigt, dass sie vor Abraham im Glauben gelebt und gelitten haben, bilden sie eine große Wolke, jeder gekennzeichnet durch irgendeine bewiesene Treue gegenüber dem Willen Gottes, einige durch mehr als eine, keiner durch mehr als der „Freund Gottes“. Aber was war er, der so vielseitig erprobt wurde und treu war, im Vergleich zu „Jesus“, wie dieser Brief unseren Herrn oft und in göttlicher Absicht nennt? In seinem Weg, in seinem Zeugnis, denn darum geht es hier, leuchtete das Licht voll und ungebrochen. Seine unerschütterliche Gleichmäßigkeit kennzeichnet seine Einheit der Vollkommenheit. Doch nie gab es eine so tiefe und umfassende Prüfung, und nie kann es sie wieder geben, außer der, die Er allein zu tragen hatte, als Er einmal für die Sünden litt, um die ewige Erlösung zu bewirken.
Daher werden die Gläubigen aufgefordert, alle Bürden und Sünden, die sie bedrängen und verstricken, abzulegen und den vor ihnen liegenden Wettlauf mit Ausdauer zu laufen, indem sie mit vollem Blick auf Jesus schauen, den Anfänger und Vollender des Glaubens. Durch das Opfer seines Leibes geheiligt zu werden, ist ein göttlicher Gnadenakt mit bleibender Wirkung (Heb 10,10). Die Versöhnung mit Gott und die Rechtfertigung, wie sie im Römerbrief und anderswo beschrieben werden, sind kein allmählicher Prozess, wie das Wachstum oder die praktische Heiligkeit. Aber auch in der Praxis sind wir aufgerufen, nicht jede Bürde, die uns belastet, und jede Sünde, die uns bedrängt, in allen Einzelheiten loszuwerden, sondern sie als festes Prinzip und vollendete Tat zu beseitigen. Es gibt Gewohnheiten und Dinge, die überflüssig sind, die den Christen hindern, ängstliche Gedanken und Sorgen, die den Geist bedrücken und ablenken. Unter solchen Umständen gut zu laufen ist so undurchführbar, als ob die Sünde ausbräche, die Selbstgericht und Demütigung verlangt. Verhandeln ist tödlich, Verzögerung gefährlich. Sowohl die Bürden als auch die Sünde müssen daher unbedingt abgelegt werden. Es ist vergeblich, auf unsere moralische Kraft zu vertrauen. Wir müssen von allem und jedem wegschauen, ob von außen oder von innen, und zu dem hinschauen, der ebenso mächtig ist, uns zu befreien, wie Er gnädig auf unsere Not achtet. Die Macht liegt nicht im ersten, sondern im zweiten Menschen; und auch hier dürfen wir gewiss sagen, dass Gott dadurch wie in allen Dingen verherrlicht wird durch Jesus Christus, dem die Herrlichkeit und die Macht sei in alle Ewigkeit! Amen.
Aber es ist nicht unwichtig zu verstehen, dass unser Herr hier nicht als der objektive Kanal der Gnade dargestellt wird, die wir immer brauchen, sondern als der unübertroffene Anfänger und Vollender des Glaubens in der ganzen Breite seines Laufs. Unser Glaube führt in die Irre, vor allem mit „Anfänger und Vollender“, als ob der Heilige Geist Ihn hier als den Beginn des Glaubens in unseren Seelen und als dessen Quelle und Träger bis zum Ende darstellen würde. Das ist nicht der Fall: Er wird als Anfänger und Vollender des Glaubenslaufs in seiner Gesamtheit betrachtet. In diesem Wettlauf wollen wir laufen. Er kann nicht ohne Ausdauer sein, ebenso wenig wie der Glaube durch und durch. Aber „durch“ oder „mittels“ der Ausdauer ist hier unzureichend. Der Apostel verwendet die Präposition auch, um die Bedingung auszudrücken, wie in Römer 2,27. „Mit“ ist in diesem Fall richtig. In einer von Gott abgewandten Welt führt der Weg des Gläubigen durch Verfolgung, Verleumdung und Hass, und so muss er seinen Weg mit Ausdauer oder Ausharren gehen.
Darin hat sich unser Herr bis aufs Äußerste bewährt: „der, die Schande nicht achtend, für die vor ihm liegende Freude das Kreuz erduldete und sich gesetzt hat zur Rechten des Thrones Gottes“ (V. 2). Vergleiche Matthäus 11 am Ende und Johannes 13,31.32 und 14,17 als Zeugnis der Freude, die Er im Blick hatte; aber die Liebe, ja die Ehre des Vaters, war sein Beweggrund, wie auch immer die zukünftige Freude Ihn auf dem Weg ermutigte. Auch für uns ist es im Prinzip dasselbe; und die neue Natur, in der Erkenntnis Gottes und seines Sohnes, befähigt uns dazu. Die Belohnung, so herrlich sie auch sein mag, ist niemals das Motiv; doch sie ist angesichts von Gefahr und Prüfung höchst belebend [...].
Die Antwort auf das Kreuz ist das Sitzen Jesu zur Rechten des Thrones Gottes. Das Leiden und der herrliche Ausgang sind gleichermaßen bei Ihm zu finden. Niemand sitzt dort als Er selbst, der die von Menschen in Frage gestellte Herrlichkeit Gottes rechtfertigte. Jetzt ist der Mensch in seiner Person durch den Tod am Kreuz auf ein unveränderliches Fundament gestellt. Gott wird in Ihm verherrlicht, wie Er Ihn in sich selbst verherrlicht hat, und zwar sofort, ohne auf den Tag zu warten, an dem „das Reich der Welt unseres Herrn und seines Christus“ kommen wird (Off 11,15). Der Sohn des Menschen hat sich zur Rechten des Thrones Gottes gesetzt. Er hat das Menschsein in jene Herrlichkeit getragen, aus der Er in Liebe herabgestiegen ist, um den Willen Gottes zu tun, hat die Erlösung vollbracht und ist in der Gerechtigkeit Gottes, die wir in Ihm geworden sind, wieder zurückgekehrt.