Behandelter Abschnitt Phlm 1,15-16
Und was kann feiner sein als die einfache und doch tiefe und wahre Andeutung, die folgt?
Denn vielleicht ist er deswegen für eine Zeit von dir getrennt gewesen, damit du ihn für immer besitzen mögest, nicht länger als einen Sklaven, sondern – mehr als einen Sklaven – als einen geliebten Bruder, besonders für mich, wie viel mehr aber für dich, sowohl im Fleisch als auch im Herrn (V. 15.16).
Das sind Worte, wichtige Worte der Liebe, die niemals sterben werden, nicht sentimental, noch das Spiel eines lebendigen Geistes, noch weniger der Ausdruck würdevoller Selbstgefälligkeit in Herablassung, sondern das Wirken eines Herzens, das von der Liebe Christi gezwungen wird; das Vorrecht, das es in einer Welt der Sünde und der Selbstsucht und des Todes geschieht, nicht nur die Dinge auf der Seite Gottes zu sehen, sondern an jener Liebe teilzuhaben, die kraft des Todes und der Auferstehung Christi diejenigen, die von seinem Leben leben, befähigt, nicht mehr sich selbst zu leben, sondern dem, der für sie gestorben und auferstanden ist.
So könnte der Apostel die sonst unwürdige Flucht des Onesimus deuten; und doch fügt er ein zartes „vielleicht“ hinzu, wenn er, wie er vertraute, Philemon dazu bewegen könnte. Einige von uns kennen die Brutalität römischer oder griechischer Herren in solchen Fällen; und sie war keineswegs auf jene Orte und Zeiten beschränkt. Aber der Christ darf und soll die Dinge im Licht und in der Liebe und im Interesse Christi sehen. So sagt er nicht einmal, dass Onesimus weggegangen ist, sondern „vielleicht ist er deswegen für eine Zeit von dir getrennt gewesen, damit du ihn für immer [ἀπέχῃς] besitzen mögest“ (V. 15). Denn wahrlich, die christliche Bindung ist nicht vorübergehend, sondern ewig.
Hätte Onesimus noch so treu und ohne die geringste Unterbrechung gedient, so könnte doch ein Heide keine Verbindung mit einem Christen haben, die über die Dinge hinausgeht, die vergehen. Aber in der bewundernswerten Gnade Gottes hatte der arme heidnische Sklave in seiner Trennung von dem Haushalt, zu dem er gehörte, die Stimme Christi gehört und war zurückgekehrt, so dass Philemon ihn wie nie zuvor haben konnte, nicht mehr als Knecht (obwohl er ein Knecht war, und er wäre der Letzte, der diese Tatsache bestreiten würde), sondern über einem Knecht durch den Sohn Gottes, der ein Knecht wurde, um ihn zu seinem Freigelassenen zu machen, ja zu einem geliebten Bruder, wie Paulus versicherte und Philemon sich freuen würde, zu erfahren: ein geliebter Bruder, besonders für mich, sagt der Apostel, den Gott in jenem Werk seiner Liebe für die Ewigkeit eingesetzt hat, der aber jetzt und hier bezeugt werden soll, damit andere denselben Ruf beherzigen und, wenn sie gläubig sind, in denselben Segen eintreten können. Denn es gibt offene Arme auf Seiten Christi, und Gott wird dadurch verherrlicht, und der Himmel freut sich darüber, was auch immer die Verachtung und Feindschaft eines verlorenen Volkes sein mag, das rücksichtslos von Gott wegläuft, unter der Führung eines Rebellen, der mächtiger ist als sie selbst, dessen Macht und List umso tödlicher sind, je mehr sie ignoriert werden.
Ein geliebter Bruder, sagt der Apostel, „besonders für mich“, von allen außerhalb Philemons; denn das Band war innig und dem, der ihn zeugte, höchst lieb, und auch in Fesseln. Doch er fügt hinzu: „wie viel mehr aber für dich, sowohl im Fleisch als auch im Herrn.“ Denn Philemon hatte ihn gewohnheitsmäßig gekannt und stand in einer Beziehung der Nähe, die der Apostel immer noch anerkennt („im Fleisch“), während er auf einer neuen besteht („im Herrn“), die niemals veralten kann.
Wie gesegnet ist diese Gnade Gottes, die im Kreuz die Sünde viel stärker verurteilt hat, als das Gesetz es je getan hat oder tun konnte, und doch zu uns in unserem niedrigsten Zustand gelangt ist, um uns weit über Fürsten, ja, über Fürstentümer und Mächte zu setzen; denn durch den Geist sind wir eins mit Christus, sogar auf dem Thron Gottes. Und doch ist es das einzige Prinzip, das die Macht hat, alles an seinem Platz zu stellen, nachdem es dorthin gesetzt wurde. Die Gnade, die einen entlaufenen Sklaven mit seinem Herrn versöhnt, ist dieselbe, die, nur in einer tieferen Form und Weise, einen Sünder mit Gott versöhnt durch die Erlösung, die in Christus Jesus ist. Es ist auch die Gnade, die die Liebe inmitten und über allen Anfechtungen und Verletzungen aufrechterhält. Es ist die Gnade, die verhindert, dass die Erlösung in Hochmut des Herzens und Zügellosigkeit des Lebenswandels umschlägt. Ohne sie würde der Mensch das Evangelium zu einem Deckmantel der Bosheit pervertieren und die Versammlung Gottes zu einem Schauplatz demokratischer Gleichmacherei und sozialistischen Raubes machen.
Durch die Gnade sind alle Christen Brüder; aber durch dieselbe Gnade hat Gott einige in die Versammlung gesetzt, erstens Apostel, zweitens Propheten, drittens Lehrer und so weiter; jeder in seiner eigenen Ordnung, aber wie es Ihm gefällt. Und wie der christliche Sklave der Freigelassene Christi ist, so freut sich der christliche Herr, dass er Christi Knecht ist. Das christliche Vorrecht auf die Rechte des Menschen zu gründen, bedeutet, die Gnade Gottes zu leugnen, und das kann nur in der schlimmsten Gesetzlosigkeit enden. Es ist unsere Glückseligkeit, immer von Gott abhängig zu sein, wie Christus es war; alles aus seiner Hand zu empfangen und die bittersten Dinge dadurch zu versüßen. So wird unser Los am besten erhalten, wenn es am aussichtslosesten ist; und die Mess-Schnüre sind uns in lieblichen Örtern gefallen, ein schönes Erbteil (vgl. Ps 16,6); während alles andere, wenn wir es richtig sehen, das Herz mit Trübsinn und Enttäuschung erfüllen muss.
Der feine Takt der Aufforderung des Apostels ist ebenso auffallend wie die stabile Grundlage der Gnade, auf der alles beruht, wie es im Umgang der Gläubigen untereinander sein sollte. Die Umstände des Falles, die wir gesehen haben, verstärkten dies. Denn einerseits war das Unrecht, das Onesimus begangen hatte, groß und offensichtlich und wurde von niemandem geleugnet, am wenigsten von ihm selbst oder dem gesegneten Apostel. Andererseits hatte die Gnade heilsam und deshalb mit der Frucht der Gerechtigkeit und des Friedens in dem zurückgekehrten Ausreißer gewirkt. Gott hatte nach dem Vergehen eingegriffen und nicht nur Buße und Vergebung der Sünden durch seinen Sohn gegeben, sondern wie immer zusammen mit diesem Segen das positive Geschenk des ewigen Lebens und des Heiligen Geistes. Als jemand, der an Gott geglaubt hatte und durch seine Gnade gerechtfertigt worden war, kam Onesimus, um sich vorbehaltlos in die Hände seines Herrn zu begeben, zweifellos dazu angeregt und gestärkt durch das apostolische Werkzeug des göttlichen Segens, der nicht weniger eifersüchtig war, dass die göttliche Gnade ebenso vorbehaltlos und einfach in Philemons Herzen wirken mochte. Gläubige Herren und Knechte sind gleichermaßen Schuldner der Gnade, gleichermaßen verantwortlich, dafür zu sorgen, dass sie fleißig gute Werke betreiben. Und das beste aller Werke ist, dem gnädigen Herrn von uns allen, die wir glauben, ob frei oder gebunden, praktisch in Geist, Wort und Tat zu entsprechen.