Behandelter Abschnitt Phlm 1,17-20
Die Güte Christi in seinen Wegen richtig darzustellen, ist das tägliche Problem, das jeder Christ zu lösen hat. Verlangt es nicht jede Stunde Gnade? Zweifellos; aber hat seine Liebe nicht von Anfang an für jedes Bedürfnis gesorgt? „Denn aus seiner Fülle haben wir alle empfangen, und zwar Gnade um Gnade“ (Joh 1,16). Aber ist nicht eine gegenwärtige und ständige Abhängigkeit erforderlich? Zweifellos, denn sonst würde uns die Gabe der überfließenden Gnade von Gott unabhängig machen, zur größten Schmach Christi und zur Schande eines Christen. Durch Christus haben wir durch den Glauben den Zugang (ἐσχήκαμεν) zu dieser Gnade, in der wir stehen, erhalten und besitzen ihn. Es ist ein ständiger Platz der Gunst vor Ihm als Kinder Gottes, in scharfem Gegensatz zu den begünstigten Söhnen, nicht bloß Adams, sondern Israels unter dem Gesetz mit seiner notwendigen Auswirkung der Knechtschaft, die Furcht vor dem Tod und der Verdammnis bewirkt. Aber die Fülle der Gnade, die man besitzt und kennt, ist nur umso mehr geeignet, das Festhalten an der Gnade zu bewirken und das Selbstvertrauen aufzugeben, für jede Pflicht, für jeden Ruf der Liebe, Stunde um Stunde. Daher das Wort: „Du nun, mein Kind [wie der Apostel einem anderen Gesegneten einprägte], sei stark in der Gnade, die in Christus Jesus ist“ (2Tim 2,1). Sie ist für uns da, aber wir müssen immer auf Ihn warten, um sie zu erhalten. Die Abhängigkeit von Ihm und das Vertrauen auf Ihn sind die Stärke des Gehorsams. Andernfalls versagen wir und können niemandem außer uns selbst die Schuld dafür geben, dass wir die Gnade vernachlässigen, der wir alles verdanken, deren wir uns rühmen, wenn wir uns überhaupt rühmen können, außer in Christus und seinem Kreuz, ihrem tiefsten Beweis und ihrer herrlichsten Darstellung.
Mit diesem Empfinden der Gnade, das sein eigenes Herz erfüllt, sagt der Apostel:
Wenn du mich nun für deinen Genossen hältst, so nimm ihn auf wie mich. Wenn er dir aber irgendein Unrecht getan hat oder dir etwas schuldig ist, so rechne dies mir an. Ich, Paulus, habe es mit meiner Hand geschrieben, ich will bezahlen; dass ich dir nicht sage, dass du auch dich selbst mir schuldig bist. Ja, Bruder, ich möchte Nutzen an dir haben im Herrn; erquicke mein Herz in Christus (V. 17–20).
Dies sind brennende Worte der Liebe, die niemals versagt; denn sie hat ihre Quelle in Gott selbst; und Christus, wie Er selbst die Fülle dieser Liebe war und nicht nur ein Strom oder eine Ausstrahlung, so hat Er sie in uns, die wir glauben, entspringen und wie Ströme lebendigen Wassers fließen lassen (Joh 7,38). Das ist untrennbar mit dem Heiligen Geist verbunden, der uns in belebender Kraft gegeben wird, so wie der erste Mensch gerichtet wird, damit der zweite hier in uns verherrlicht werde, verherrlicht in der Höhe, wie Er es ist.
Und was empfand Philemon wohl, als er Worte hörte, von denen wir uns leicht vorstellen können, dass sie nie an ihn gerichtet worden waren, da kein Anlass bestand, sie hervorkommen zu lassen, obwohl die gleiche Liebe immer da war? Es war nicht ein Magnat, sondern ein Sklave, einst wertlos und schuldig, jetzt der ewige Gegenstand der Liebe Christi, der die Tiefen des Herzens des Apostels bewegte, der seinerseits die heiligsten Zuneigungen Philemons wie nie zuvor entfachen würde. Doch der Nachahmer des Paulus zu sein, wie er es von Christus war, war offensichtlich der heilige Ehrgeiz Philemons bis jetzt gewesen; und Paulus würde ihn jetzt mit frischem Eifer befeuern lassen. „Wenn du mich [nicht nur als Nachahmer, so groß diese Ehre auch war, sondern] für deinen Genossen hältst“. Philemon sollte den großen Apostel als seinen Teilhaber betrachten! Es war sogar so, dass er mit eigenen Augen und unter der eigenen Hand des Apostels las. Es hing, das ist wahr, davon ab, dass er Onesimus aufnahm, ja weit mehr als das, dass er Onesimus wie Paulus aufnahm! „... so nimm ihn auf wie mich.“
Gibt es etwas Vergleichbares zu den Wundern der Gnade? Nimm den reumütigen entlaufenen Sklaven wie den Apostel auf! Doch wenn es nach der Gnade ginge, könnte es angemessen anders sein? Was die Menschen, die immer noch gottlos und Kinder des Zorns sind, in der ganzen Christenheit zur Schande des Glaubens fälschlicherweise behaupten, geben das Evangelium und Christus selbst. Onesimus war in Wahrheit ein Kind Gottes und ein Glied am Leib Christi. Die anderen sind nach keinem biblischen Urteil „barmherzig“, auch wenn sie Unkraut im Reich der Himmel sein mögen; denn sie sind gewiss kein Weizen. Dennoch würde die Nächstenliebe keine falschen Hoffnungen nähren, sondern sie vor dem Gericht warnen, während sie ihnen die Gnade Gottes in Christus predigt, damit sie vielleicht glauben und gerettet werden, bevor es zu spät ist.
Der ärmste Christ, einst der verdorbenste oder schuldigste Mensch, ist in Christus nicht weniger wert als der größte Apostel. Von dem einen wie von dem anderen steht bei einem anderen Apostel geschrieben: „Hierin ist die Liebe mit uns vollendet worden, damit wir Freimütigkeit haben an dem Tag des Gerichts, dass, wie er ist, auch wir sind in dieser Welt“ (1Joh 4,17). Das ist weder Einbildung noch Übertreibung, sondern die herrliche und doch nüchterne und sichere Wahrheit Gottes. Onesimus war schon damals aufgrund der göttlichen Liebe in Christus vollkommen wie Christus selbst in den Augen Gottes und damit für das Auge und das Herz des Glaubens. So war es bei Paulus; und so wollte er es bei Philemon sehen.
Was ist dann vollendeter als der Appell seines Fürsprechers? Was wir innig lieben, das wollen wir am besten tun; und hier hat der Heilige Geist alles unfehlbar inspiriert. „Wenn er dir aber irgendein Unrecht getan hat oder dir etwas schuldig ist, so rechne dies mir an. Ich, Paulus, habe es mit meiner Hand geschrieben, ich will bezahlen; dass ich dir nicht sage, dass du auch dich selbst mir schuldig bist“ (V. 18.19). Könnte der Appell der Liebe unwiderstehlicher sein? Die Gnade leugnet nicht, könnte nicht die Übel leugnen, die sie vergibt; sogar das Gesetz verurteilt den Sünder nicht vergleichbar mit der Verurteilung der Sünde (Wurzel als auch Zweig und Frucht) im Kreuz Christi. Die Gnade erweist die Sünde als so hoffnungslos böse, dass nur Gott, der seinen eigenen Sohn in der Gestalt des Fleisches der Sünde und für die Sünde [d. h. als Opfer für sie] sendend, ihre sonst unüberwindliche Unmöglichkeit überwinden konnte (τὸ ἀδύνατον τοῦ νόμου). Aber dem Bösen ist im Kreuz vollkommen entsprochen worden, und Gott ist dort verherrlicht worden, sogar als zur Sünde gemacht in dem leidenden Sohn des Menschen; so dass auch die Gerechtigkeit nur die glückliche Aufgabe hat, die Rechtfertigung derer zu verkünden, die glauben.
Wie mühelos atmet und spricht der Apostel nichts anderes als Gnade, und Gnade, die durch Gerechtigkeit herrscht! „Wenn er dir irgendein Unrecht getan hat oder dir etwas schuldig ist, so rechne dies mir an“ (V. 18). Würde Philemon in einer Gesinnung des Gesetzes oder der Gnade antworten? Wäre er in der Tat so unbarmherzig wie der Knecht in dem Gleichnis, das Matthäus 18 beendet, so tritt Paulus mit wiederholter persönlicher Betonung in der Gesinnung der liebenden Stellvertretung hervor: „Ich, Paulus, habe es mit meiner Hand geschrieben, ich will bezahlen“. Aber auch hier lässt er Philemon nicht ohne einen gnädigen (gewiss nicht parthischen) Pfeil gehen, wie wirksam auch immer: „Dass ich dir nicht sage, dass du auch dich selbst mir schuldig bist“. Hier war in der Tat eine Schuld, die Philemon als letzter vergessen oder unterschätzen würde. Und wenn der Apostel ihn nicht schon vorher daran erinnert hatte, woran man durchaus zweifeln kann, so versäumt er es nicht, jetzt darauf anzuspielen, wenn auch nur nebenbei. Sogar ein Wort zu sagen, war mehr als genug für das Herz eines so guten Mannes, angesichts einer Schuld, die niemals bezahlt werden konnte. Was war im Vergleich dazu eine schlechte Schuld bei dem armen Sklaven? Philemon war Paulus etwas schuldig, er anerkannte das gern.
Wiederum wird all dies durch das bewegende Ende dieses Appells abgeschlossen: „Ja, Bruder, ich möchte Nutzen an dir haben im Herrn; erquicke mein Herz in Christus.“ Wie er so einfühlsam mit „Bruder“ in Vers 7 begann, so wiederholt er es hier in Vers 20 nicht weniger. Es war nicht vergeblich für Philemon. Paulus suchte aufrichtige Liebe, nicht Herablassung. Der Gewinn, nach dem er sich sehnte, war Philemons noch mehr als sein eigener, ohne ihm das zu sagen. Gnade seinerseits wäre angesichts der gegenwärtigen Not und aller vergangenen Herausforderung eine Erfrischung durch Balsam für die Wunden und Leiden des alten Apostels. Selbstsucht war ausgeschlossen. Alles, was er suchte, war im Herrn – in Christus. Dort nimmt die Qualität niemals ab und ist der Segen dreifach. Mögen wir es wissen, genießen und offenbaren, für wen diese unvergänglichen Worte Gottes gegeben sind, die in erster Linie an Philemon und die Betroffenen gerichtet waren.